Das Locked-in-Syndrom (LIS), auch bekannt als "Gefangensein-Syndrom" oder "Eingeschlossensein-Syndrom", ist eine seltene und schwerwiegende neurologische Erkrankung, die durch eine fast vollständige Lähmung aller willkürlichen Muskeln gekennzeichnet ist, während das Bewusstsein und die kognitiven Fähigkeiten erhalten bleiben. Betroffene sind wach und aufmerksam, können aber weder sprechen noch sich bewegen, mit Ausnahme von minimalen Augenbewegungen, meist vertikaler Natur. Diese Umstände führen zu einem fast vollständigen Verlust der Kommunikationsfähigkeit mit der Außenwelt.
Ursachen des Locked-in-Syndroms
Die häufigste Ursache für das Locked-in-Syndrom ist ein Schlaganfall, insbesondere eine Thrombose der Arteria basilaris, die zu einem Infarkt im Hirnstamm führt. Die Arteria basilaris ist eine Hauptschlagader, die den Hirnstamm versorgt. Eine Blockade dieser Arterie kann wichtige Nervenbahnen unterbrechen, die für Bewegungen zuständig sind. Ischämische oder hämorrhagische Schlaganfälle können den vulnerablen Bereich an der paramedianen Basis des Pons betreffen. Das Tegmentum (ventraler Teil des Mittelhirns) besitzt über eine Kollateralversorgung, die oft das laterale und mediale Tegmentum verschont.
Weitere Ursachen können sein:
- Hirnstammtumore, die das umliegende Gewebe schädigen oder komprimieren. Auch die Behandlung eines Hirnstammtumors kann zu solchen Schädigungen führen, insbesondere wenn der Tumor schwer zugänglich ist oder aggressiv behandelt werden muss.
- Traumatische Hirnverletzungen (Schädel-Hirn-Trauma), die den Hirnstamm direkt schädigen.
- Entzündliche Erkrankungen des Gehirns (Enzephalitis) oder der Hirnhäute (Meningitis).
- Demyelinisierende Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS).
- In seltenen Fällen können auch genetische Faktoren eine Rolle spielen oder Muskelerkrankungen wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zum Locked-in-Syndrom führen.
- Schwere Fälle von Hypoxie, bei denen das Gehirn nicht ausreichend Sauerstoff erhält, die ebenfalls zu irreversiblen Schäden führen können.
Symptome des Locked-in-Syndroms
Das Hauptsymptom des Locked-in-Syndroms ist die fast vollständige Lähmung aller willkürlichen Muskeln, was als Tetraplegie bezeichnet wird. Betroffene können ihre Arme, Beine, den Körper und das Gesicht nicht bewegen. Die Kommunikationsfähigkeit beschränkt sich lediglich auf vertikale Blickbewegungen.
Weitere typische Symptome sind:
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- Bewusstsein und Wachheit bleiben erhalten: Betroffene sind wach, klar im Kopf und nehmen ihre Umgebung wahr.
- Eingeschränkte oder fehlende horizontale Augenbewegungen: Während vertikale Augenbewegungen oft intakt bleiben, sind horizontale Augenbewegungen häufig beeinträchtigt oder unmöglich.
- Dysarthrie und Dysphagie: Die Fähigkeit zu sprechen (Dysarthrie) und zu schlucken (Dysphagie) ist meist stark eingeschränkt oder nicht vorhanden.
- Erhalt der kognitiven Funktionen: Das Denkvermögen, die Lernfähigkeit und das Gedächtnis bleiben in der Regel erhalten.
- Sensorische Fähigkeiten bleiben erhalten: Betroffene können ihre Umgebung und Gespräche um sie herum wahrnehmen. Sie behalten ihr Bewusstsein bei und können sehen, hören, riechen und fühlen wie eine Person ohne die Lähmung. Sie können auch emotionale Reaktionen empfinden und haben oft ein intaktes geistiges Bewusstsein.
Diagnose des Locked-in-Syndroms
Die Diagnose des Locked-in-Syndroms kann eine Herausforderung darstellen, da die Symptome denen anderer neurologischer Zustände ähneln können. Eine genaue Diagnostik erfordert ein Neuroimaging, um Fehldiagnosen zu verhindern und geeignete Rehabilitationsmöglichkeiten zu ermöglichen.
Die Diagnose basiert in der Regel auf einer Kombination aus:
- Klinischer Untersuchung: Beurteilung der neurologischen Funktionen, Reflexe und der wenigen Muskeln, die die Person möglicherweise noch bewegen kann.
- Bildgebenden Verfahren: Magnetresonanztomographie (MRT) ist das wichtigste Instrument, um die Ursache der Schädigung im Hirnstamm zu identifizieren (z. B. Schlaganfall, Blutung, Tumor). Computertomographie (CT) kann ebenfalls eingesetzt werden.
- Elektroenzephalographie (EEG): Messung der Hirnströme, um die Gehirnaktivität zu beurteilen und andere Zustände auszuschließen.
- Ausschluss anderer Erkrankungen: Es ist wichtig, andere Zustände mit ähnlichen Symptomen auszuschließen, wie z.B. Koma, persistierender vegetativer Zustand, Katatonie oder das Guillain-Barré-Syndrom.
Um ein LIS diagnostizieren zu können, müssen der Erhalt des Bewusstseins, von Wachheit und von kognitiven Funktionen vorliegen.
Differenzialdiagnosen:
- Koma/Bewusstseinsstörungen: ein tiefer Zustand der Reaktionslosigkeit, gekennzeichnet durch einen Wert von 3 in der GCS, was auf eine fehlende Reaktion auf verbale, taktile und schmerzhafte Stimuli hinweist. Hirnstamm. Wie beim LIS zeigen die Betroffenen eine minimale Reaktionsfähigkeit, aber beim LIS gibt es trotz erhaltenem Bewusstsein eine extreme motorische Beeinträchtigung.
- Meningitis oder Hirntumoren beobachtet wurde. Die Diagnostik erfolgt durch Neuroimaging, um Läsionen in den präfrontalen oder prämotorischen Bereichen zu erkennen. Weitere diagnostische Verfahren sind die Lumbalpunktion und das EEG.
- Guillain-Barré-Syndrom (GBS): eine autoimmun vermittelte Neuropathie, die nach bakteriellen oder viralen Infektionen auftreten kann. Guillain-Barré-Syndrom ist durch eine akute neuromuskuläre Lähmung gekennzeichnet, die symmetrisch und aufsteigend ist. Das Syndrom kann zu respiratorischer Insuffizienz führen, die einen längeren Krankenhausaufenthalt erfordert. Die Diagnostik erfolgt primär durch die Anamnese und eine klinisch-neurologische Untersuchung.
- Persistierend vegetativer Zustand: auch „Syndrom reaktionsloser Wachheit“ genannt und früher als „apallisches Syndrom“ bekannt. Rückenmark behalten vegetative Funktionen bei, aber höhere mentale Funktionen sind nicht mehr vorhanden. Eine visuelle Fixierung ist nicht möglich, ebenso wenig eine Kommunikation. Ischämischer Schlaganfall (Hirninfarkt), der zu einer diffusen Schädigung der Gehirnhälfte führt. Die Diagnostik erfolgt mitunter durch die klinische Untersuchung, Labordiagnostik und bildgebende Verfahren.
- Katatonie: ein neuropsychiatrisches Syndrom, bei dem sich Betroffene trotz körperlicher Fähigkeit nicht bewegen können. Die zugrundeliegende Psychopathologien können eine Depression, eine Psychose oder Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sein. Die Betroffenen reagieren nicht auf verbale Reize. Haltungsstereotypen und Katalepsie (Haltungserstarren) sind weitere Symptome. In bildgebenden Verfahren sind keine ZNS-Pathologien sichtbar. Benzodiazepine gestellt werden.
Behandlung des Locked-in-Syndroms
Die Behandlung des Locked-in-Syndroms konzentriert sich darauf, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, ihre Kommunikationsfähigkeiten zu unterstützen und ihre Unabhängigkeit zu fördern. Da die Erkrankung in der Regel nicht heilbar ist, zielt die Therapie darauf ab, die Symptome zu lindern und Komplikationen zu vermeiden.
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Die Behandlung umfasst in der Regel:
- Akutversorgung: Direkt nach dem Auftreten des Locked-in-Syndroms, also in der Akutphase, ist die Behandlung ähnlich wie bei einem Schlaganfall.
- Medizinische Versorgung: Behandlung der zugrunde liegenden Ursache des Locked-in-Syndroms (z. B. Behandlung eines Schlaganfalls oder Tumors) und Vorbeugung von Komplikationen (z. B. Thrombose, Lungenentzündung, Dekubitus).
- Rehabilitation: Ein multidisziplinäres Team aus Ärzten, Therapeuten und Pflegekräften arbeitet zusammen, um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Die Rehabilitation ist ein super wichtiger Schritt. Hier geht es darum, deine Fähigkeiten so gut wie möglich wiederherzustellen und dir zu helfen, mit den Einschränkungen umzugehen.
- Physiotherapie: Hilft, die Bewegungsfähigkeit zu verbessern und Muskelkontrakturen vorzubeugen. Das "systematische repetitive Basis-Training" hat sich als vorrangiges Prinzip etabliert. Diese Methode beinhaltet wiederholte, gezielte Übungen und Bewegungsmuster, die darauf abzielen, den betreffenden Muskel zu stärken, die Gelenke beweglich zu halten und die motorischen Fähigkeiten zu verbessern.
- Ergotherapie: Unterstützt dabei, die Unabhängigkeit im täglichen Leben stückweise zu fördern, indem sie Strategien zur Bewältigung von Alltagsaktivitäten entwickelt. Der Bereich Ergotherapie unterstützt im Wiedererlernen der Fein- und Grobmotorik. Ergotherapie hilft zudem, die kognitiven Eigenschaften wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis zu verbessern.
- Sprach- und Kommunikationstherapie (Logopädie): Hilft dabei, alternative Kommunikationsmethoden zu erlernen und Schluckstörungen zu behandeln. Die logopädische Therapie zielt darauf ab, die Schluckfunktion zu verbessern oder zu erhalten, um eine selbstständige Aufnahme von Nahrung wieder zu ermöglichen. Diese Übungen helfen Dysphagie (Schluckstörungen) zu vermeiden und verringern zudem das Risiko von Aspiration. Die Logopädie fördert weiterhin durch gezielte Übungen die Sprachfähigkeit, um eine aktive Interaktion mit dem Umfeld der Patienten zu fördern.
- Atemtherapie: Ist oft notwendig, um die Atemfunktion zu stärken. Die (Be-)Atmung bei LiS-Patienten ist ein wichtiges Thema. Betroffene Personen sind nicht mehr in Lage, ihren Körper selbstständig zu steuern. Daher muss die Zufuhr von Sauerstoff dauerhaft überwacht sowie unterstützt werden, um sofort auf Atemstörungen reagieren zu können.
- Unterstützende Technologien: Die Verwendung von assistiver Technologie verbessert erheblich die Kommunikation und Unabhängigkeit, z.B. Augensteuerungssysteme, sprachgenerierende Geräte oder Hirn-Computer-Schnittstellen (BCI). Mit technischer Unterstützung, wie Computer, sprachgenerierende Geräte oder Augensteuerungssysteme, können Locked-in-Patienten beispielsweise Buchstaben, Wörter oder Symbole auswählen, indem sie mit ihren Augen oder anderen Körperteilen bestimmte Bereiche oder Tasten berühren. Diese Geräte können eine enorme Erleichterung für das Leben von betroffenen Personen darstellen. Sie geben ihnen die Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren und ihre Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken. Eine weitere Methode ist die Verwendung von Hirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer-Interfaces kurz BCI). Dabei werden die Gehirnströme mittels Elektroenzephalografie (EEG) als elektrische Signale interpretiert, ausgewertet und als Befehl ausführt. Mit der direkten Kopplung von Gehirn und Computer werden keine Muskeln benötigt.
- Ernährung: Aufgrund der Schluckstörungen ist oft eine enterale Ernährung durch eine Sonde oder parenteral über einen venösen Zugang erforderlich.
- Psychosoziale Unterstützung: Emotionale Unterstützung für Patienten und Angehörige ist entscheidend, um mit den psychischen Belastungen der Erkrankung umzugehen.
Kommunikation mit Locked-in-Patienten
Da die verbale Kommunikation stark eingeschränkt ist, sind alternative Kommunikationsmethoden von entscheidender Bedeutung. Dazu gehören:
- Augenbewegungen: Vereinbarte Signale durch Blinzeln oder Augenbewegungen (z. B. ein Lidschluss bedeutet "Ja", zwei Lidschlüsse bedeuten "Nein").
- Buchstabentafeln: Zeigen auf Buchstaben oder Symbole auf einer Tafel mit den Augen.
- Augensteuerungssysteme: Computergestützte Systeme, die es ermöglichen, den Computer mit den Augen zu steuern und Texte zu verfassen.
- Hirn-Computer-Schnittstellen (BCI): Ermöglichen die Kommunikation durch direkte Messung der Gehirnaktivität.
Leben mit dem Locked-in-Syndrom
Das Leben mit dem Locked-in-Syndrom stellt Betroffene und ihre Familien vor enorme Herausforderungen. Die vollständige Abhängigkeit von anderen Menschen, die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und die psychischen Belastungen können die Lebensqualität stark beeinträchtigen.
Wichtige Aspekte für ein würdevolles Leben mit dem Locked-in-Syndrom sind:
- Umfassende Pflege und Unterstützung: Eine 24-Stunden-Pflege ist in der Regel erforderlich, um die grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen und Komplikationen zu vermeiden.
- Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: Trotz der Einschränkungen ist es wichtig, dass Betroffene am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, z. B. durch Besuche von Freunden und Familie, Teilnahme an Veranstaltungen oder Nutzung von Online-Angeboten.
- Selbstbestimmung: Auch wenn die körperlicheUnabhängigkeit stark eingeschränkt ist, sollten Betroffene so viel Selbstbestimmung wie möglich behalten, z. B. bei der Gestaltung ihres Tagesablaufs oder der Auswahl von Therapien.
- Emotionale Unterstützung: Psychologische Betreuung und der Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen können helfen, mit den psychischen Belastungen umzugehen.
- Technische Hilfsmittel: Der Einsatz von Kommunikationsgeräten und assistiven Technologien kann die Lebensqualität deutlich verbessern.
Prognose des Locked-in-Syndroms
Die Prognose für Personen mit Locked-in-Syndrom hängt von verschiedenen Faktoren ab, einschließlich der zugrunde liegenden Ursache, des Ausmaßes der Hirnschädigung, des Alters und des allgemeinen Gesundheitszustands der Person sowie der Qualität der Pflege und Unterstützung, die sie erhalten. Die Lebenserwartung von Personen mit Locked-in-Syndrom kann stark variieren. In einigen Fällen können Menschen mit Locked-in-Syndrom viele Jahre leben, während andere an Komplikationen oder zugrunde liegenden Gesundheitsproblemen sterben.
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Obwohl eine vollständige Heilung selten ist, können einige Betroffene im Laufe der Zeit Verbesserungen ihrer motorischen Fähigkeiten und ihrer Kommunikationsfähigkeit erfahren. Eine frühzeitige und umfassende Rehabilitation kann die Chancen auf eine Verbesserung der Lebensqualität deutlich erhöhen.
Vorbeugung des Locked-in-Syndroms
Da das Locked-in-Syndrom häufig durch Schlaganfälle verursacht wird, können präventive Maßnahmen zur Schlaganfallprävention das Risiko senken. Dazu gehören:
- Gesunder Lebensstil: Regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung, Nichtrauchen.
- Kontrolle von Risikofaktoren: Behandlung von Bluthochdruck, Diabetes und anderen Risikofaktoren für Schlaganfälle.
- Früherkennung und Behandlung von Schlaganfällen: Bei Verdacht auf einen Schlaganfall sollte sofort der Notruf gewählt werden.
Forschung und Zukunftsperspektiven
Die Forschung zum Locked-in-Syndrom konzentriert sich auf die Entwicklung neuer Therapien zur Verbesserung der motorischen Fähigkeiten und der Kommunikationsfähigkeit. Es gibt vielversprechende Ansätze in den Bereichen:
- Gehirnstimulation: Therapien, die das Gehirn stimulieren sollen, um die Funktionen wiederherzustellen.
- Neuroprotektion: Medikamente, die die Nervenzellen schützen und reparieren sollen.
- Technologische Innovationen: Entwicklung neuer Kommunikationsgeräte und assistiver Technologien.
Die internationale Zusammenarbeit von Forschern und die Förderung des öffentlichen Bewusstseins für das Locked-in-Syndrom sind entscheidend, um Fortschritte in der Behandlung und Versorgung von Betroffenen zu erzielen.
Abgrenzung zum Wachkoma
Das Locked-in-Syndrom hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Wachkoma, unterscheidet sich vom Wachkoma aber u.a. darin, dass Personen mit Locked in Syndrom zwar vollständig gelähmt sind, aber bei vollem Bewusstsein bleiben und oft durch Augenbewegungen kommunizieren können. Die Bewusstseinsstörung im Wachkoma kann tiefer sein als beim Locked in Syndrom, und die Prognose für eine Erholung oder Verbesserung des Zustands ist oft unterschiedlich.
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