Manfred Spitzer, ein bekannter deutscher Psychiater, Hirnforscher und Autor, hat mit seinen Thesen über die negativen Auswirkungen digitaler Medien auf das Gehirn, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Seine Bücher, darunter "Digitale Demenz", haben eine große Leserschaft erreicht, aber auch heftige Kritik von Fachkollegen und Medienexperten hervorgerufen. In diesem Artikel werden Spitzers Thesen, die Kritik daran und die komplexen Fragen, die er aufwirft, beleuchtet.
Wer ist Manfred Spitzer?
Manfred Spitzer ist ein profilierter Mediziner mit einem beeindruckenden akademischen Werdegang. Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und promovierte in mehreren Fächern. Seit 1998 leitet er die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm. Neben seiner klinischen Tätigkeit ist Spitzer als Neurowissenschaftler, Buchautor und gefragter Redner tätig. Er hat sich zum Ziel gesetzt, wissenschaftliche Erkenntnisse über das Gehirn in die Bildungspraxis zu übertragen und die Öffentlichkeit über die Risiken und Nebenwirkungen digitaler Technologien aufzuklären.
Spitzers Thesen zur digitalen Demenz
Spitzers Kernthese ist, dass der übermäßige Konsum digitaler Medien, insbesondere durch Kinder und Jugendliche, zu einer "digitalen Demenz" führt. Er argumentiert, dass die oberflächliche Verarbeitung von Informationen am Computer und Smartphone zu einer geringeren Komplexität des Gehirns führt und somit das Risiko für Demenz im Alter erhöht. Spitzer behauptet, dass digitale Medien "dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich" machen. Er kritisiert den Einsatz von Laptops in Kitas, Tablets in Schulen, Computerspielen im Kinderzimmer und die Nutzung sozialer Netzwerke.
Er führt aus, dass die Nutzung digitaler Medien die Entwicklung wichtiger kognitiver Fähigkeiten wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Orientierungsfähigkeit und sprachliche Entwicklung beeinträchtigen kann. Spitzer verweist auf Studien, die zeigen, dass vermehrter Medienkonsum mit schlechteren schulischen Leistungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Kurzsichtigkeit, Haltungsschäden und Bluthochdruck einhergeht. Er kritisiert, dass die Politik und die Kirche die Risiken digitaler Medien ignorieren und stattdessen deren Einsatz in Schulen forcieren.
Spitzer vergleicht die Vorbereitung auf digitale Medien mit "Alkoholtraining im Kindergarten" und fordert ein Handyverbot bis zum Alter von 14 Jahren. Er argumentiert, dass Kinder und Jugendliche in diesem Alter noch nicht in der Lage sind, verantwortungsvoll mit digitalen Medien umzugehen.
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Kritik an Spitzers Thesen
Spitzers Thesen sind in der Fachwelt auf breite Kritik gestoßen. Kritiker werfen ihm vor, argumentative Salti zu schlagen, gewagte Schlussfolgerungen zu ziehen und unstimmige Vergleiche zu verwenden. Sie bemängeln, dass er wissenschaftliche Studien selektiv zitiert, kritische Anmerkungen der Autoren und gegensätzliche Studien ignoriert und Korrelationen mit Kausalitäten verwechselt.
Medienexperten wie Markus Appel und Constanze Schreiner haben Spitzers Buch "Digitale Demenz" Satz für Satz und Fußnote für Fußnote überprüft und festgestellt, dass es "keine Belege" für die meisten seiner Thesen gibt. Sie werfen ihm vor, sich einzelne Ergebnisse herauszupicken, die zu seinen Thesen passen, und alles andere zu ignorieren.
Andere Hirnforscher wie Michael Madeja zweifeln an der Aussagekraft von Spitzers Hirnscans und argumentieren, dass Veränderungen, die intensive Internetnutzung verursachen könnten, so subtil und individuell wären, dass sie mit den aktuellen Methoden der Hirnforschung nicht erfassbar wären. Zudem sei der Begriff der Demenz ungeeignet, um die Auswirkungen digitaler Medien zu beschreiben.
Kritiker bemängeln auch Spitzers generalisierende und undifferenzierte Herangehensweise. Sie argumentieren, dass er unterschiedliche Formen der Mediennutzung (z.B. Diskussionen in Onlineforen, Egoshooter-Spiele, Lesen von Zeitungsartikeln, eigene Musikproduktion, Pornokonsum, Literaturrecherche) nicht differenziert betrachtet und unter dem Begriff "Mediennutzung" zusammenfasst.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Baden-Württemberg bezeichnete Spitzers Aussagen als "aus der Zeit gefallen". Sie argumentiert, dass es richtig sei, wenn Schulen den Umgang mit Handys regeln, aber ein generelles Verbot nicht zielführend sei.
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Die Komplexität der Medienwirkung
Trotz der Kritik an Spitzers Thesen erkennen viele Experten an, dass die Probleme, die er anspricht, durchaus existieren. Kinder und Jugendliche verbringen extrem viel Zeit am Computer, manche von ihnen driften komplett in die digitale Welt ab. Es gibt Risiken wie Cybermobbing, exzessiven Internetkonsum und den Kontakt mit ungeeigneten Inhalten.
Die Frage ist jedoch, wie man mit diesen Risiken umgehen soll. Spitzers Forderung nach Medienabstinenz wird von vielen als unrealistisch und nicht erstrebenswert abgelehnt. Stattdessen plädieren sie für Medienpädagogik, die Kinder und Jugendliche befähigt, digitale Medien intelligent und sinnvoll zu nutzen.
Medienkompetenz bedeutet, dass Kinder nicht nur lernen, Computer, Tablets und Smartphones zu bedienen, sondern auch, Informationen kritisch zu hinterfragen, Risiken zu erkennen und sich vor Cybermobbing und anderen Gefahren zu schützen. Es bedeutet auch, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der digitalen und der realen Welt zu finden und soziale Kontakte und körperliche Aktivitäten nicht zu vernachlässigen.
Die Rolle der Eltern und Lehrer
Viele Experten sehen die Eltern und Lehrer in der Pflicht, Kinder und Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien zu begleiten. Sie sollten offen über das Thema Internet reden, gemeinsam überlegen, was man preisgibt, und den Kindern zeigen, dass sie bei Problemen zu ihnen kommen können.
Lehrer sollten Medienkompetenz in den Unterricht integrieren und den Schülern helfen, die Chancen und Risiken digitaler Medien zu verstehen. Sie sollten auch darauf achten, dass der Einsatz digitaler Medien im Unterricht pädagogisch sinnvoll ist und nicht zu einer Überforderung der Schüler führt.
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