Die Vorstellung, dass Männer und Frauen von Natur aus unterschiedliche Gehirne haben, ist weit verbreitet. Doch was sagt die Wissenschaft wirklich dazu? Neurowissenschaftliche Studien der letzten Zeit haben interessante Einblicke in die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Gehirne von Männern und Frauen geliefert.
Geschlechtsunterschiede im Gehirn: Eine Übersicht
Es ist eine anerkannte Tatsache in den Neurowissenschaften, dass Männer im Durchschnitt größere Gehirne haben als Frauen. Eine Studie von Bianca Serio und Sofie Valk vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und dem Forschungszentrum Jülich untersuchte, ob Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns auf Unterschiede in der Gehirngröße, der Mikrostruktur und dem Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche zurückzuführen sind. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass die Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns eher kleine Unterschiede in den Netzwerken und den Verbindungen dazwischen widerspiegeln.
Die Forscherinnen nutzten für ihre Analyse Datensätze des Human Connectome Project, welches öffentlich zugänglich die Gehirn-Daten von 1000 Studienteilnehmer*innen enthält. Entgegen ihren Erwartungen fanden sie heraus, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht widerspiegeln können. Stattdessen stellten sie fest, dass es kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken gibt, was die kleinen Unterschiede in der funktionale Netzwerktopographie zwischen den Geschlechtern allgemein erklären könnte.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Unterschiede klein sind. Bianca Serio merkt an: „Geschlechtsunterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns sind generell eher klein - es kann für einige Gehirnmerkmale zum Beispiel größere Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe geben als zwischen den einzelnen Geschlechtern. Einzelne Gehirne haben allgemeine Prinzipien der funktionellen Organisation gemeinsam, weisen aber ein gewisses Maß an Variabilität und Individualität auf.“
Die Rolle der Sexualhormone
Sexualhormone spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Funktion des Gehirns. Sexualhormonrezeptoren sind sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen weit verbreitet, was es ihnen ermöglicht, über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns zu interagieren. Eine Studie von Svenja Küchenhoff und Sofie Valk untersuchte, inwieweit Sexualhormone die Gehirnstruktur beeinflussen.
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Küchenhoff beschreibt, dass diese Mechanismen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Gehirnstruktur sowie zu hormonbedingter Plastizität im Gehirn führen - sowohl durch körpereigene und künstliche Sexhormone. „Wir haben uns die regionalen Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde, des Kortex, angeschaut und zwar mithilfe von Magnetresonanztomographie bei über 1000 gesunden Frauen und Männern. In einem ersten Schritt haben wir in der Studie gezeigt, dass es geschlechtsspezifische regionale Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus gibt. Allerdings verändern sich diese geschlechtsspezifischen Unterschiede, je nachdem, welches Hormonprofil man bei den Frauen betrachtet - teilweise verschwinden sie sogar ganz oder drehen sich um. Außerdem finden wir diese Effekte vor allem in Hirnregionen, in denen Gene von Östrogenrezeptoren und der Synthese von Sexualsteroiden besonders stark ausgeprägt werden. Zusammengenommen können wir also sagen, dass Sexualhormone eine wichtige Rolle in der Modulierung und Plastizität der Mikrostruktur des Gehirns haben.“
Die Forscherinnen betonten, dass auch das biologische Geschlecht nicht binär ist: die Interaktion aus Chromosomen, Hormonen und Geschlechtsorganen ergibt ein Geschlechtskontinuum.
"Männliche" und "weibliche" Gehirne: Ein Mythos?
Eine Studie eines Forscherteams aus Israel, der Schweiz und Deutschland kommt zu dem Schluss, dass menschliche Gehirne sich nicht einfach in männlich und weiblich einteilen lassen. Unser Denkorgan ist ein Mosaik aus beiden Anteilen. Die Forscher werteten Aufnahmen von Kernspintomographien von 1.400 Probanden aus und fanden heraus, dass die meisten Gehirne Merkmale sowohl aus männlichen wie aus weiblichen Kategorien besitzen.
Sofie Valk betont: „Es gibt bei manchen Hirnmerkmalen kleine statistische Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen - doch das bedeutet nicht, dass es ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ Gehirne gibt.“ Die Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns ist eine komplexe Kombination aus biologischen und kontinuierlichen Faktoren wie Körpergröße, Gewicht, Hormonen und Alter, aber auch aus Erfahrungen und Umwelteinflüssen. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind dabei lediglich statistische Mittel, um Gruppen zu unterscheiden. Auf individueller Ebene jedoch lässt sich kein männliches Gehirn von einem weiblichen unterscheiden.
Die "Female Data Gap" in den Neurowissenschaften
Svenja Küchenhoff weist auf ein wichtiges Problem hin: „Wir haben leider immer noch eine ‚Female Data Gap‘ - auch in den Neurowissenschaften. Der männliche Körper wird als Standard angesehen und viele medizinische Lösungen passen daher nicht für viele Frauen. Um zu verstehen, was wirklich hinter medizinischen Problemen steckt, die Männer oder Frauen stärker betreffen, ist es wichtig, die darunterliegenden Faktoren zu betrachten - wie zum Beispiel Variation im Hormonspiegel.“
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Diese "Female Data Gap" führt dazu, dass viele Studien hauptsächlich mit männlichen Probanden durchgeführt werden, was die Ergebnisse verzerrt und medizinische Behandlungen für Frauen weniger effektiv macht.
Angeboren oder erlernt? Die "Nature-oder-Nurture-Debatte"
Die Frage, ob Geschlechtsunterschiede im Gehirn angeboren oder erlernt sind, ist Gegenstand der sogenannten "Nature-oder-Nurture-Debatte". Inzwischen zeigt sich: Wahrscheinlich sind nicht nur die genetischen Anlagen verantwortlich und auch nicht nur die Umwelt. Die Wahrheit liegt offenbar dazwischen.
Eine Studie von 2020 untersuchte die Hirnscans von knapp 1.000 Männern und Frauen und stellte fest, dass sich tatsächlich einige Regionen des Gehirns unterscheiden: Bei Frauen entdeckten die Forscher mehr graue Hirnsubstanz in einigen Regionen, während Männer mehr Volumen in hinteren und seitlichen Arealen des Cortex besitzen. Die Forscher folgerten, dass nicht nur die Umweltbedingungen zu den geschlechterspezifischen Unterschieden führen können, sondern dass sie zumindest zu einem Teil angeboren sind.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass das Gehirn sich immer so ausbildet, wie man es benutzt und wie es gebraucht wird. Unser digitales Zeitalter hinterlässt also auch in unserem Gehirn seine Spuren.
Stereotype und ihre Auswirkungen
Sigrid Schmitz, Biologin und Professorin für Gender Studies an der Universität Wien, kritisiert, dass in der populärwissenschaftlichen Verbreitung eher auf Untersuchungen Bezug genommen wird, die Unterschiede festgestellt haben. Aus einer einzelnen Untersuchung mit zum Teil sehr wenigen Probanden werde geschlossen auf „die Frau“ oder „den Mann“. Forschung und Gesellschaft seien immer noch fokussiert auf die Suche nach Differenzen.
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Auch die Übernahme von gesellschaftlichen Vorstellungen, der so genannte Stereotype Threat, beeinflusst die Leistungen von Männern und Frauen: Wenn eine Aufgabe als Versuch zur räumlichen Orientierung präsentiert werde, lösen Männer sie schneller - wenn auch nicht unbedingt besser.