Die Demenz stellt eine der größten Herausforderungen unserer alternden Gesellschaft dar. Mit der steigenden Zahl älterer Menschen wächst auch die Zahl derer, die an Demenz leiden. Diese Erkrankung betrifft nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sondern auch elementare Bedürfnisse wie Essen und Trinken. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen Zusammenhänge zwischen Demenz, Ernährung und dem allgemeinen Wohlbefinden der Betroffenen, wobei besonderes Augenmerk auf die Rolle von Gewohnheiten, Vorlieben und der Anpassung an die veränderten Bedürfnisse gelegt wird.
Einführung
Demenz ist mehr als nur Gedächtnisverlust. Sie ist eine fortschreitende Erkrankung, die das gesamte Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen beeinflusst. Essen und Trinken, einst selbstverständliche Handlungen, werden zu komplexen Herausforderungen. Dieser Artikel zielt darauf ab, ein tieferes Verständnis für die spezifischen Ernährungsprobleme von Menschen mit Demenz zu entwickeln und praktische Lösungsansätze aufzuzeigen.
Die Herausforderungen der Ernährung bei Demenz
Demenzerkrankungen verlaufen meist schleichend. Am Beginn stehen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, Leistungsschwäche und leichte Schwierigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben. Komplexe Handlungen wie die Planung eines Einkaufs und die Zubereitung einer Mahlzeit können Probleme bereiten. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können sich demenziell Erkrankte an Verhaltensregeln, Problemlösestrategien und Erfahrungen nicht mehr so gut erinnern. Des Weiteren nehmen im Verlauf der Erkrankung auch die kommunikativen Fähigkeiten ab. Menschen mit Demenz benutzen im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung weiterhin Gesten, Berührung und Körperhaltung, um sich mitzuteilen.
Physiologische Veränderungen
Der physiologische Alterungsprozess führt zu vielen Veränderungen, die das Essen und Trinken beeinträchtigen oder die Nährstoffversorgung ungünstig beeinflussen. Die Geschmackssinne lassen nach, die Speichelproduktion sinkt, Hunger- und Durstempfinden nehmen ab, Rückbildungen am Zahnapparat erschweren das Kauen. Die Versorgung mit Calcium, Eisen und Vitamin B12 wird schwieriger, da deren Bioverfügbarkeit wegen der reduzierten Magensäuresekretion sinkt. Auch die Biosynthese von Vitamin D nimmt ab. Defizite können entstehen, wenn diese Nährstoffe nicht in ausreichender Menge zugeführt werden. Kommen Funktionsstörungen, Erkrankungen, Schmerzen oder Einsamkeit hinzu, so steigt das Risiko einer Malnutrition drastisch an.
Kognitive Beeinträchtigungen
Beim klinischen Vollbild der Demenz sind verschiedene Hirnregionen betroffen. Es kommt zu örtlichen und situativen Orientierungsstörungen, psychomotorischer Unruhe, Ängstlichkeit, Sprachstörungen und Störungen im Ablauf von Standardsituationen. Der Kranke kann Gefühle wie Hunger und Durst nicht mehr deuten. Die Situation bei Tisch wird nicht mehr verstanden, Lebensmittel werden nicht mehr als solche erkannt. Kognitive Störungen können dazu führen, dass ein demenzkranker Mensch "keine Zeit" zum Essen hat, weil er innerlich mit anderen Dingen beschäftigt ist. Er ist zudem sehr leicht ablenkbar. Die Handhabung von Besteck wird vergessen; Messer und Gabel werden mitunter sogar als bedrohlich empfunden. Allgemein verlangsamt sich das psychische Tempo: Die Kranken können sich schlecht auf neue Situationen, zum Beispiel eine Mahlzeit, einstellen. Häufig ist der Tag-Nacht-Rhythmus gestört. Im weiteren Verlauf kommt es zu Schluckstörungen. Im Spätstadium der Alzheimer-Demenz sind Kauen und Schlucken nicht mehr möglich, da die Gehirnzentren, die diese hochkomplexen Vorgänge koordinieren und steuern, zerstört sind.
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Sensorische Veränderungen
Beim Essen und Trinken wird ein Lebensmittel mit vielen Sinnen erfasst: Riechen, Schmecken und das Fühlen von Konsistenz und Temperatur. Erst all dies zusammen ergibt den typischen Geschmack. Die flüchtigen Bestandteile der Speisen gelangen über die Atemluft in den Nasen- und Rachenraum und binden dort an spezifische Geruchsrezeptoren. Die Reize werden in das limbische System weitergeleitet. Mit zunehmendem Alter degenerieren die Riechnerven und die Weiterleitung der Sinnesreize ist erschwert. Dabei verändern sich die Schwellenwerte für einzelne Substanzen in unterschiedlichem Ausmaß. Da sich das Aroma einer Speise aus vielen Duftkomponenten zusammensetzt, führt dies zu erheblichen Veränderungen der Geruchswahrnehmung. Diese Störungen treten bereits im frühen Stadium einer Demenz auf und gehen weit über die altersphysiologischen Veränderungen hinaus. Die Geschmacksempfindung bleibt gegenüber dem Geruchssinn zwar wesentlich länger erhalten, doch die subjektive Geschmacksqualität verändert sich durch die Beeinträchtigung des Riechens stark. Das bedeutet: Für Demenzkranke sehen die Speisen zwar aus wie früher, schmecken unter Umständen aber ganz anders. Dies kann Irritationen und ein Gefühl der Entfremdung hervorrufen.
Erhöhter Energiebedarf
Stereotype Bewegungen wie Wischen, Verschieben des Mobiliars, Aufstehen, Hinsetzen, Schreien und Stöhnen verbrauchen viel Energie. Messungen in einem Pflegeheim haben ergeben, dass unruhige Kranke innerhalb der Einrichtung bis 8 km täglich herumgehen. Der Energiebedarf eines Alzheimer-Patienten kann, bedingt durch Unruhe und Mobilität, bei 3000 bis 4000 kcal pro Tag liegen, also fast doppelt so hoch wie bei einem gesunden Gleichaltrigen. Grundsätzlich gelten für Demenzkranke dieselben Ernährungsempfehlungen wie für gesunde ältere Menschen, die Energiezufuhr erfordert jedoch besondere Aufmerksamkeit.
Praktische Tipps zur Verbesserung der Ernährungssituation
Das Verständnis der im Verlauf der Erkrankung auftretenden Probleme kann Angehörigen und Pflegekräften helfen, kreative Lösungen zu finden.
Allgemeine Empfehlungen
- Strukturierung des Tagesablaufs: Gewohnheiten und Regeln bieten dem Menschen mit Demenz Sicherheit im Alltag. Mahlzeiten sind für Demenzkranke ebenso wie für Gesunde zur Strukturierung des Tages wichtig. Sie sollten möglichst in entspannter Atmosphäre, mit viel Zeit und in Ruhe stattfinden. Dann kann Essen und Trinken auch für Demenzkranke ein Höhepunkt des Tages sein. Hilfreich sind feste Rituale, die der Orientierung dienen.
- Eingehen auf die Realität: Lassen Sie sich auf die Realität von Menschen mit Demenz ein. Die Erkrankten bringen oft Vergangenheit und Gegenwart durcheinander (z.B. glaubt eine demenzkranke Person, dass sie vor der Schule sitzt und darauf wartet, dass ihre Mutter sie nach Hause begleitet). Holen Sie die erkrankte Person dort ab, wo sie sich gegenwärtig zu befinden glaubt.
- Vermeidung von Überforderungen: Überforderungen sollten vermieden werden. Versuchen Sie, wenn möglich, behutsam zu aktivieren. Der Mensch mit Demenz möchte dazugehören. Stellen Sie einfache Fragen (Was siehst du?). Nicht mehr als zwei Alternativen zur Wahl anbieten.
- Positive Verstärkung: Loben Sie den Menschen mit Demenz für Dinge, die er gut gemacht hat. Belohnen Sie eine zutreffende, angemessene Reaktion mit Worten, Lächeln und Berührungen.
- Kommunikation: Sprechen Sie auf gleicher Ebene vom Erwachsenen zum Erwachsenen. Wichtige Informationen sollten einfach ausgedrückt sein und in der gleichen Art und Weise wiederholt werden. Gehen sie geduldig auf Wiederholungen ein oder lenken Sie das Gespräch auf ein anderes Thema. Dies vermeidet oder entschärft Konflikte. Geben Sie Zeit für eine Reaktion oder Entgegnung. Demenziell Erkrankte brauchen Ruhe, um über Antworten nachzudenken. Gehen Sie fürsorglich-leitend mit dem Menschen mit Demenz um und überhören Sie Anschuldigungen. Vorwürfe sind oft Ausdruck von Hilflosigkeit und Frustration des Menschen mit Demenz. Legen Sie nicht Leistungskriterien gesunder Personen an.
Spezifische Maßnahmen zur Ernährungsverbesserung
- Appetit anregen: Da Menschen mit Demenz oft kein Hungergefühl empfinden, kann es sinnvoll sein, durch Geräusche (Gong, Tellerklappern) oder Gerüche auf die Mahlzeit aufmerksam zu machen. Intensive Gerüche wecken Appetit und Interesse: frisch gemahlener und gekochter Kaffee, Brot im Brotbackautomat, frischer Toast oder gebratener Speck. Ein angenehmes Vorbereitungsritual ist der Ausschank eines Aperitifs wie Likör, süßer Sherry oder Pepsinwein. Dies hat nebenbei den positiven Effekt, dass Appetit und Verdauung angeregt werden.
- Anpassung der Speisen: Die Kunst besteht darin, die erforderlichen Kalorien und Nährstoffe in kleinen Portionen unterzubringen, denn für lange Mahlzeiten reicht die Konzentration oft nicht, zumal es ohnehin langsamer geht als in gesunden Tagen. Folglich sollten vor allem energie- und nährstoffdichte Speisen angeboten werden: vollfette statt magere Milchprodukte, Leberwurst statt Lachsschinken oder Doppelrahm-Frischkäse statt Hüttenkäse. Die Zugabe von Sahne oder Butter erhöht nicht nur die Energiezufuhr, sondern intensiviert auch den Geschmack, der bekanntlich über Fette vermittelt wird. Auch Schmelzkäse, Mascarpone, Zucker und Sirup liefern reichlich Kalorien. Kräftiges Würzen und appetitliches Anrichten fördern die Lust auf das Essen. Um eine optimale Versorgung mit allen wichtigen Nährstoffen zu gewährleisten, ist eine abwechslungsreiche Kost anzustreben. Dies ist jedoch wegen der veränderten Geschmacksvorlieben mitunter schwierig. Dagegen besteht eine hohe Präferenz für süße und sehr süße Speisen. Man kann versuchen, auch herzhafte Gerichte wie Gulasch, Hackfleisch oder Fisch süß abzuschmecken, zum Beispiel mit Honig, Zimt und Zucker, Apfelmus oder Vanillesoße. Ein Wurst- oder Käsebrot kann man zusätzlich mit Rübenkraut oder Marmelade bestreichen.
- Berücksichtigung der Essbiografie: Jeder Mensch verbindet mit bestimmten Lebensmitteln, Gerichten und Gerüchen prägende Erinnerungen. Sie wecken Gefühle wie Wohlbehagen, Geborgenheit oder festliche Stimmung. Aber auch traumatische Erlebnisse können wach werden. Menschen, die heute an Demenz leiden, haben meist noch Krieg und Notzeiten erlebt. Für sie haben bestimmte Lebensmittel wie "gute" Butter, Weizengrütze oder Kartoffeln ganz besondere Bedeutung. Sie könnten auch die Sorge haben, dass bei kleinen Portionen das Essen nicht reicht. Umgekehrt kann ein voller Teller die Angst auslösen, das Essen nicht bezahlen zu können. Die prägende Phase der Essbiografie ist meist, aber nicht immer die Kindheit. Die Kenntnis der Ess- und Trinkbiografie ist wichtig, um dem Menschen vertraute und angenehme Speisen anbieten und den Ablauf der Mahlzeit einfach strukturieren zu können. Sprüche wie "Es ist genug für alle da!" oder "Heute gibt´s alles umsonst" können zum Essen animieren. Speisen und Getränke können Gefühle ansprechen und eine Brücke in das frühere Leben schlagen. Vielleicht lässt sich eine Erinnerung an schöne Erlebnisse wecken und der Kranke kann sich eine Zeit lang wieder als der Mensch fühlen, der er früher einmal war.
- Umgang mit Ablehnung: Da Überredungsversuche gereizte Stimmung erzeugen, sollten Demenzkranke nicht gefragt werden, ob sie dies oder jenes essen oder trinken möchten. Geschickter sind Auffüllen des Tellers, Reichen des Getränks oder eines angebissenen Happens, begleitet von Redewendungen wie "Es schmeckt köstlich! Probier mal!" oder "Das haben wir schon lange nicht mehr gegessen". Lehnt er das Essen ab oder beendet die Mahlzeit nach wenigen Happen, sollte man keinen Druck ausüben, sondern es in fünf bis zehn Minuten mit derselben oder einer anderen Speise noch mal probieren.
- Hilfestellung beim Essen: Es kann sinnvoll sein, dem Kranken den Löffel oder die Gabel in die Hand zu geben und die Bewegung durch vorsichtige Führen des Armes zu initiieren. Meistens ist es günstig, wenn die betreuende Person dem Kranken gegenüber sitzt, häufig Augenkontakt aufnimmt und überwiegend nonverbal mit ihm kommuniziert. So wird zum Beispiel durch das Ablecken der Finger, genüssliches Schmatzen oder Verdrehen der Augen der köstliche Geschmack der Speisen signalisiert und das Interesse des Kranken geweckt. Bei fortgeschrittener Erkrankung hat die mitessende Person oft eine Vorbildfunktion. Damit der Patient die Handlungsabläufe beim Essen nicht vergisst, braucht er ein Gegenüber, dessen Verhalten er nachahmen kann. Wichtig ist, die Gesten des Kranken genau zu beobachten, Bewegungen mit ihm zu synchronisieren und ihn nicht durch abrupte Wechsel zu stören. Der Kranke muss sich in solchen Situationen stark konzentrieren und darf nicht durch Fragen, laute Geräusche oder parallele Handlungen abgelenkt werden.
- Sensorische Aspekte: Seh- und Wahrnehmungsstörungen erfordern eine gute Beleuchtung des Esszimmers und deutliche farbige Kontraste zwischen Geschirr, Tischdecke und Speisen. Wenn die Patienten weder Hunger oder Appetit haben noch die Speisen erkennen, so können Farben und Formen immerhin Interesse wecken. Vertraute und gewünschte Speisen sind bedeutsamer als "gesunde" Kost. Auch hinsichtlich der Zahl und Komposition der Mahlzeiten sollte man pragmatisch und flexibel vorgehen. Im Vordergrund stehen die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Kranken. Ein festes Einhalten von drei Hauptmahlzeiten ist nicht sinnvoll, wenn der Patient dies ablehnt. Warum nicht ein herzhaftes warmes Frühstück und dann nur noch vier kleine Mahlzeiten anbieten? Für viele ist das Frühstück die wichtigste Mahlzeit am Tag, da sie morgens noch fit und in guter psychischer Verfassung sind. Gegen Abend ist die Konzentrationsfähigkeit häufig erschöpft und das Essen fällt schwerer. Speisen und Getränke dürfen nicht zu heiß sein, da viele Kranke weder aufsteigenden Dampf noch eine heiße Tasse als Warnsignal verstehen und sich daher leicht verbrennen. Da mäßige Wärme meist als wohltuend empfunden wird, kann es helfen, Säfte, Desserts oder Kuchen anzuwärmen. Auch die Konsistenz der Nahrung ist wichtig.
- Zusatznahrung: Lässt sich die erforderliche Energie- und Nährstoffmenge nicht über die normale Nahrung sicherstellen, können Trinknahrungen die Defizite ausgleichen (Beispiele Clinutren®, Fortimel®, Fresubin®). Sie sollten jedoch nicht zu den Mahlzeiten angeboten werden, da sie den Appetit auf das "richtige" Essen mindern. Empfehlenswert sind sie beispielsweise als Spät- oder Zwischenmahlzeit. Da eine Mahlzeit im Tetrapak oder in der Plastikflasche demente Menschen irritieren kann, sollte sie in einem vertrauten Gefäß gereicht werden.
- Ausreichende Flüssigkeitszufuhr: Selbstredend ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr wichtig. Flüssigkeitsmangel führt zu Verwirrtheit und allgemeiner Schwäche, die Gefahr von Harnwegsinfekten steigt. Achten Sie auf eine ausreichende Trinkmenge.
- Nährstoffmängel ausgleichen: Besteht Nährstoffmangel oder Kaloriendefizit, können Gerichte angereichert werden, zum Beispiel mit Nussmus ohne Stücke, Avocadomus, Sahne, Butter, Eiern, Öl, Säften und Maltodextrin. Alternativen sind Trinknahrung, gern in Form von Suppen oder Puddings. Sehr wichtig ist eine ausreichende Proteinzufuhr. "Der Proteinbedarf steigt von 0,8 g pro kg Körpergewicht im Alter von 15 bis 65 Jahren auf 1,0 g für ältere Menschen", erinnerte Bauer. Hier helfe ein Ernährungsprotokoll, um die aktuelle Proteinmenge zu berechnen und gegebenenfalls zu erhöhen, zum Beispiel Frischkäse zum Marmeladenbrot hinzuzufügen und Obstquark als Zwischenmahlzeit anzubieten. Auch Omega-3-Fettsäuren gehören zu den kritischen Nährstoffen. Daher sollten mindestens einmal in der Woche Seefisch und täglich Rapsöl, Leinsamen und Walnüsse auf dem Speiseplan stehen. Alternativ zum Seefisch: einmal täglich mindestens 5 g Leinöl. Falls Nahrungsergänzungsmittel zum Einsatz kommen, müssen die empfohlene Tageshöchstmengen beachtet und Überdosierungen vermieden werden (Vorsicht bei Kombination verschiedener Mittel inklusive Trinknahrung). Bauer erinnerte auch daran, dass einige Medikamente die Resorption von Nährstoffen mindern.
Die Bedeutung von Routine und Gewohnheiten
Das Frühstück als Beispiel
Eine Beobachtung: Zum Frühstück gibt es Brötchen mit Marmelade oder Brot mit Käse, Wurst. Oder Müsli oder Haferflocken. Oder gekochtes Ei oder Spiegelei. Und am Tag darauf, wie selbstverständlich, gibt es das Gleiche, Brot oder Ei oder Müsli, und danach wieder und wieder. Oft müssen alle Parameter peinlich genau eingehalten werden. Also das Ei fünf Minuten kochen, aber nicht vier oder sechs Minuten. Oder erst Marmelade aufs Brötchen und danach Käse und niemals Orangenmarmelade. Oder geräucherter Schinken, aber sonst keine Wurst. Und wehe die Reihenfolge gerät durcheinander, das kann den halben Tag vermiesen.
Diese Essgewohnheit wurde in der reichhaltigen Ernährungsforschung bisher kaum erfasst. Sicherlich spielen mehrere Faktoren eine Rolle, physiologische, psychologische, kulturelle. Morgens sei eine größere Routine erforderlich, weil die Zeit knapp ist. Deshalb hat das Frühstück in der Zubereitung traditionell mehr Kaltkomponenten und wenig Warmkomponenten. "Und wir haben morgens einen höheren Stressfaktor. Stress führt immer dazu, dass wir Ernährungsroutinen entwickeln." Der Tag bringe Termine, Aufgaben, Unwägbarkeiten. Rituale stiften Ordnung, Essen und Trinken produziert emotionale Sicherheit. In der Wiederholung des Rituals liegt Befriedigung: jedes Nutellabrot und jede Haferflockenportion eine Andacht. Der Mensch isst deshalb morgens konservativ statt progressiv, bleibt zuweilen den Gewohnheiten treu, die als Kind von den Eltern gelernt wurden. Bei aller sonstigen Experimentierfreude beim Essen werden praktisch keine Frühstücksgewohnheiten aus anderen Kulturkreisen übernommen.
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Aber die morgendliche Ernährung lässt sich auch mit den Bedürfnissen des Körpers erklären. "Morgens ist das Stresshormon Cortisol aus der Nebenniere am höchsten, das braucht man, um aufzuwachen und in Gang zu kommen", sagt Kerstin Oltmanns, Professorin für Psychoneurobiologie an der Universität Lübeck. Auch die Medizinerin verweist deshalb auf die beruhigende, Stress reduzierende Wirkung von immer gleichen Abläufen. Die Nahrungsaufnahme ist morgens stärker als andere Mahlzeiten vom Energiemangel geprägt. Was am besten funktioniert ist Zucker, der sofort ins Blut geht, und kalorienreiches Fett, sagt Oltmanns. Zucker senkt außerdem nachgewiesen den Cortisolspiegel. Deshalb der morgendliche Hang zu Marmeladenbrötchen, Schokocroissants, Müsli mit Honig.
Übertragbarkeit auf andere Mahlzeiten
Diese Erkenntnisse über die Bedeutung von Routine und Gewohnheiten beim Frühstück lassen sich auch auf andere Mahlzeiten übertragen. Ein fester Tagesablauf und Rituale sind für Menschen mit Demenz von großer Bedeutung. Sie geben Sicherheit und Orientierung. Die Anpassung an die individuellen Vorlieben und Gewohnheiten des Einzelnen kann dazu beitragen, die Ernährungssituation deutlich zu verbessern.
Die Rolle der Angehörigen und Pflegekräfte
Allgemein ist zu empfehlen, dass Angehörige sich auf ihr demenziell erkranktes Familienmitglied einstellen, denn der Erkrankte selbst kann dies nicht (mehr) leisten. Mahlzeiten mit dementen Menschen sind für Gesunde häufig eine Herausforderung und mitunter stressig. Vielleicht hilft es, die Zeit des gemeinsamen Essens oder des Fütterns als therapeutische Zeit zu sehen, in der man den Kranken körperlich, sensorisch, emotional und sozial anregt und damit fördert. Der Tisch sollte für alle anwesenden Personen gedeckt werden, um den Kranken nicht zu verunsichern. Alle sollten gemeinsam Platz nehmen und das Essen beginnen.
Wenn der Kranke die betreuende Person wahrscheinlich nicht mehr erkennt, ist es wichtig, mithilfe vertrauter Gerüche (Parfüm, Deospray) und mit Koseworten seine Erinnerungen zu wecken. Beim Füttern sollte das Essen nach Möglichkeit durch das Führen der Hand (des Arms) des Kranken verabreicht werden, um das Öffnen des Mundes reflektorisch auszulösen. Die betreuende Person sollte neben ihm sitzen. Bei Weigerung, den Mund zu öffnen, hilft oft das Bestreichen der Lippen mit einer schmackhaften Flüssigkeit. Wenn Demenzkranke vergessen zu schlucken, kann man sie durch Bestreichen des Halses stimulieren.
Demenz ist mehr als nur Verlust
Demenzerkrankungen werden oft als reine Verlusterfahrungen beschrieben. Die Orientierung in Raum und Zeit wird - anfangs oft unbemerkt - immer schlechter. Das Gedächtnis lässt nach, das Sprechen fällt schwerer, oft verändert sich ein Mensch auch in seinem Verhalten. Trotzdem: „So schmerzhaft die Diagnose Demenz erst einmal ist, sie bedeutet nicht das Ende eines individuellen Lebens“, betont Tina Würzburger. „Das Herz wird nicht dement, der Mensch verschwindet nicht. Ein Perspektivwechsel aufs Positive fällt vielen Erkrankten und Angehörigen verständlicherweise erst einmal schwer. Deshalb ist eine gute Beratung enorm wichtig. Angehörige berichten oft, dass ihnen einfach die Informationen fehlen. Doch erst wenn jemand die Auswirkungen dieser Erkrankung kennt, kann er oder sie ein „schwieriges“ Verhalten des Angehörigen richtig einordnen.
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Vertrauen entsteht, wenn etwas Vertrautes aufgerufen wird. Automatisierte Handlungen, die an frühere Tätigkeiten anknüpfen, können noch sehr lange ausgeführt werden, wie Gemüse schneiden, stricken oder Laub rechen. Vertraute Gerüche rufen gute Gefühle wach, zum Beispiel der Duft von gebrannten Mandeln vom Volksfest. Das Gedächtnis für Musik bleibt sehr lange erhalten. Mit Musik werden Menschen mit Demenz sehr gut erreicht.
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