Menschen mit Demenz zu begleiten, ist eine herausfordernde Aufgabe, die viel Feingefühl und das richtige Handwerkszeug erfordert. Das Marte Meo Konzept bietet genau dieses Handwerkszeug und schult uns in unserer empathischen zwischenmenschlichen Wahrnehmung. Dadurch passt das Marte Meo Konzept inhaltlich zu unserer Haltung. Mit genau dieser Haltung möchten wir Menschen mit Demenz gegenübertreten. So ist es uns möglich, im Alltag unsere Haltung zu leben.
Einführung in Marte Meo
Marte Meo, was lateinisch ist und "aus eigener Kraft" bedeutet, ist ein bildbasiertes Konzept, um Entwicklung zu unterstützen. Es handelt sich um eine videounterstützte Methode, die sowohl in der Beratung als auch in Kommunikationsschulungen, Trainings und Fallsupervisionen eingesetzt werden kann. Die Methode wurde in den 1970er Jahren von Maria Aarts in den Niederlanden für den Kinderbereich entwickelt und wird seit 1995 international in der Pflege angewendet, laufend weiterentwickelt und wissenschaftlich erforscht.
Das zentrale Anliegen des Marte Meo Konzepts ist es, Fähigkeiten aufzuzeigen, zu aktivieren und sie weiterzuentwickeln. Es ist eine ressourcenorientierte Methode, die fragt, wie es gelingt, Menschen mit Einschränkungen im Alltag Orientierung, Sicherheit und Wertschätzung zu vermitteln.
Wie Marte Meo funktioniert
Marte Meo bedient sich der Videotechnik. Kurze Filmaufnahmen aus Alltagssituationen werden gemacht, um tägliche Interaktionen und Begegnungen mit den anvertrauten Menschen genau zu betrachten. Diese Aufnahmen werden dann analysiert, um Informationen zu gewinnen, die helfen, sich besser auf den Menschen mit Demenz und seine Bedürfnisse einzustellen.
Die Analyse konzentriert sich auf die gelungenen Momente im Kontakt, um diese herauszuarbeiten und zu bestärken. Die Grundannahme ist, dass alle Begleitenden bereits gute, intuitive Kräfte in sich tragen. Das Videocoaching hilft den Unterstützenden, ihre eigenen Fähigkeiten weiter zu entwickeln.
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Pflegeinteraktionen, wie z.B. Zähneputzen, Mobilisieren, Blutentnahme oder Hilfestellungen beim Essen, werden kleinschrittig von einer Marte Meo Fachperson analysiert. Dabei wird auf Bedürfnisse, Fähigkeiten und Signale der zu Betreuenden geachtet und darauf, welches unterstützende Verhalten seitens der Pflegenden bereits vorhanden ist.
Der Marte Meo Blick: Weg von den Problemen hin zu den Möglichkeiten
Mithilfe der Bilder können gut gelungene Interaktionsmomente (die sonst oft nicht bewusst wahrgenommen werden) kleinschrittig angesehen werden. So erkennen wir, welche Handlungsmöglichkeiten unsererseits da sind und machen sie uns bewusst. Einmal mit guten Bildern abgespeichert, können wir unsere Möglichkeiten im Alltag immer wiedererkennen und mithilfe der Marte Meo Elemente nutzen.
Marte Meo Elemente (MME)
Marte Meo Elemente (MME) sind Mikrokommunikationselemente, die wir intuitiv nutzen. Das bewusste Wahrnehmen, Beobachten und Anwenden der unterstützenden Elemente wird mit Hilfe der Videosequenzen trainiert. Dadurch, dass anhand gelingender Bilder, also am eigenen positiven Model gelernt wird, sind die filmbasierten kurzen Reflexionen über die eigene Arbeit unmittelbar praxiswirksam. Mit den MME können neueste neurobiologische Erkenntnisse einfach und wirksam in den Praxisalltag übertragen werden. Zudem können die MME mit gängigen Pflegemethoden wie zum Beispiel Validation, Kinästhetik u.a. kombiniert werden.
Kommunikationsunterstützendes Verhalten bei Demenz
Durch die Marte Meo Elemente trainieren wir ein Kommunikationsunterstützendes Verhalten. In Kontakt und Anschluss zu sein, ist ein Grundelement der Marte Meo Methode. Für Menschen mit Demenz bedeutet in Anschluss zu einer anderen Person zu sein auch immer Sicherheit und Orientierung. Durch Marte Meo bekommen wir ein tiefes Gefühl dafür, wie wichtig es ist, Menschen mit Demenz zu uns in den Anschluss zu bringen und sie in Kontakt und Anschluss zu uns zu halten.
Wann, Was, Warum: In diesem Moment kannst du genau das tun und darum ist es wichtig!
Das Besondere am Marte Meo Konzept ist, dass es eine ganz einfache Sprache hat. Marte Meo ist Information mit Bild. Mithilfe der Interaktionsanalyse werden die Marte Meo Filme ausgewertet und geben uns ganz genaue Informationen darüber.
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Marte Meo und Validation
Marte Meo kann gut mit anderen Methoden, wie z.B. Validation kombiniert werden. Validation bedeutet, die Gefühle, die ein Mensch mit Demenz äussert, ernst zu nehmen und wertzuschätzen, auch wenn sie nicht der Realität entsprechen.
Marte Meo in der Praxis
Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, wie Marte Meo im Alltag angewendet werden kann:
Herr Gerlach, 82 Jahre alt mit fortgeschrittener Demenz, besucht mehrmals wöchentlich eine Tagespflege. Heute steht „Gemüsesuppe kochen“ auf dem Plan. Die Alltagsbegleiterin, Frau Rose, ist damit beschäftigt, alles vorzubereiten. Vier der Tagesgäste sollen gleich damit beginnen, das Gemüse zu schneiden. Währenddessen unterhält Herr Gerlach sich angeregt mit einer alten Dame. Nach dem sehr freundlichen Austausch entsteht eine kurze Pause, die Herr Gerlach dazu nutzt, sich formvollendet zu verabschieden. Deshalb steht er auf und sagt in die Runde, dass es hier zwar nett sei und er nun aber zu einer beruflichen Reise ins Rheinland aufbrechen müsse. Jetzt muss Frau Rose sehr spontan und intuitiv handeln, um zu verhindern, dass Herr Gerlach sich auf den Weg macht. Sie geht auf ihn zu und sagt mit einem ganz freundlichen Gesicht: „Wir wollen jetzt kochen und brauchen Ihre Hilfe, bevor Sie gehen“. Herr Gerlach schaut sie erstaunt an. Dann wiederholt sie: „Wir brauchen jetzt Ihre Hilfe“ und zeigt ihm ergänzend ein Küchenmesser, das sie gerade in der Hand hält. Herr Gerlach antwortet: „Meine Hilfe?“ Dann geht sie einen Schritt auf ihn zu, berührt leicht seinen Arm und sagt nun zum dritten Mal „Ja, Ihre Hilfe. Herr Gerlach hat, nachdem das freundliche Gespräch mit der Dame beendet ist, keine Idee, wie es jetzt weitergeht. In solchen Situationen fällt ihm immer ein, dass er früher viele berufliche Termine hatte. Als sehr pflichtbewusster Mensch, will er auch gleich aufbrechen. Und Frau Rose greift sofort ein, indem sie ihn positiv leitet: „Wir wollen jetzt kochen und brauchen Ihre Hilfe“. Damit gibt sie ihm Sicherheit und Orientierung. Mit dem Zusatz „…bevor Sie gehen“ macht sie außerdem Anschluss an seinen Wunsch, seinen beruflichen Pflichten nachzukommen. Frau Rose weiß, dass Herr Gerlach außer dem starken Antrieb „Pflichtbewusstsein“ auch den Antrieb „Hilfsbereitschaft“ in sich trägt. Und deshalb sagt sie ihm mehrfach, wie wichtig seine Hilfe sei und zeigt ihm zusätzlich noch das Küchenmesser. Gleichzeitig etwas zeigen und die Botschaft wiederholen, nennen wir bei Marte Meo doppelte Botschaft. So kann Herr Gerlach besser verstehen. Und die ganze Zeit zeigt Frau Rose ihm ein gutes Gesicht und schafft zusätzlich durch die leichte Berührung am Arm Vertrauen. Damit handelt sie nach dem Marte Meo Prinzip Kontakt vor Leitung. Frau Rose schließt diese Begegnung mit der freundlichen Aufforderung, sich zu setzen ab.
Positive Leitung und Handlungssicherheit
Wenn wir positiv leiten unterstützen wir kognitiv eingeschränkte Menschen dabei, etwas zu tun. Durch das kleinschrittige Ansehen und positive Kommentieren einer Videoaufnahme, wie im Praxisbeispiel, erleben sich die unterstützenden Pflegekräfte, Alltagsbegleiter/innen oder Angehörige als Handelnde. Wie unter einem Brennglas können sie ganz genau wahrnehmen, was sie tun, um eine schwierige Situation gut zu bewältigen. Dadurch gewinnen sie mehr Handlungssicherheit für zukünftige Alltagssituationen und können später direkt auf die hilfreichen Elemente zurückgreifen.
Die einfachen Marte Meo Begriffe für hilfreiche Kontaktmomente (im Praxisbeispiel fett markiert) bestärken sie darin, Worte für das eigene Handeln zu finden. Das fördert eine gemeinsame Sprache im kollegialen Austausch. Marte Meo unterstützt diejenigen, die schon viel Erfahrung haben, besser zu verstehen, warum etwas funktioniert. Und die Unterstützenden, die noch am Anfang stehen, erhalten sehr konkrete Informationen, was genau sie wann machen können und warum das wichtig ist. Marte Meo ist eine alltagstaugliche Methode, die durch ihre Einfachheit und Fehlerfreundlichkeit überzeugt. Schließlich brauchen die Helfenden passendes Handwerkszeug, um einer wachsenden Zahl von Menschen mit kognitiven Einschränkungen gerecht zu werden.
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Marte Meo bei herausforderndem Verhalten
Auch bei herausforderndem Verhalten kann Marte Meo eingesetzt werden. Herr H. leidet an einer fortgeschrittenen Demenz. Seine Unruhe, Weglaufen, sein verweigerndes und aggressives Verhalten in diversen Pflegeverrichtungen sind eine Herausforderung sowohl fürs Personal als auch für die Angehörigen. Er wird deshalb interdisziplinär mit Einbezug der Marte Meo Methode betreut (Pflegefachleute, Aktivierung, Lernende, Freiwillige….). Das folgende Beispiel zeigt auf, wie die Lernende anhand einer einfachen Tätigkeit die Schritt-für-Schritt-Anleitung nach Marte Meo trainiert (Berther/Niklaus, 2015: 93ff.). Unterstützendes Verhalten in Kommunikation und Interaktion wird ihr so bewusst, und dadurch hat sie mehr Handlungsmöglichkeiten für schwierige Momente. Positive Auswirkungen solch kurzer Trainings- und Kontaktmomente werden auch von Angehörigen wahrgenommen. Der Sohn von Herrn H. berichtet über seine diesbezüglichen Erfahrungen.
Marte Meo in der Familie
Die demenzkranke Frau Knapp zieht sich zunehmend aus dem Familienleben zurück. Gespräche finden nicht mehr statt, auf angebotene Aktivitäten wie z.B. in die Tagespflege zu gehen oder auch nur etwas zu trinken antwortet sie immer „Nein“. Die Familie ist überfordert und bittet die Marte Meo Therapeutin Karola Becker um Hilfe. Karola Becker analysiert die in der Familie aufgenommenen Filmsequenzen nach Situationen, in denen die Kommunikation bereits gut gelingt und als wertvolle Ressource genutzt werden kann. Sie sucht nach Anschlußmomenten, die Voraussetzung sind, damit MmD verstehen können. Die Marte Meo-Therapeutin bespricht die Ergebnisse ihrer Analyse mit Christa, und zeigt ihr mit Hilfe der Filmaufnahmen, wo sie ihrer Schwiegermutter Zeit gibt um in Anschluß zu kommen und wie sie dies genau macht (mit einem schönen Gesicht). Das neue Kommunikationsverhalten zeigt erste Erfolge: Frau Knapp fühlt sich besser verstanden und zeigt wieder Interesse an Gesprächen und den Menschen in ihrer Umgebung. Während ausreichendes Trinken kein Problem mehr darstellt, wird der Besuch der Tagespflege weiterhin abgelehnt. Anhand weiterer Videoanalysen zeigt Karola Becker der Schwiegertochter positive Interaktionen, die im Alltagsgeschehen oft nicht mehr wahrgenommen werden. Durch die Kraft der Bilder kann kleinschrittig gezeigt werden wie Christa den Aufmerksamkeitsfocus (sieht Nudel auf der Hose) ihrer Schwiegermutter wahrnimmt, dadurch fühlt sich ihre Schwiegermutter im jetzigen Moment gesehen. Dadurch bekommt Fr. Knapp das Gefühl, dass Christa sich für ihre Wahrnehmung interessiert. Anschluss und Kontakt sind hergestellt. Sicherheit und Orientierung werden gefördert. Danach sagt Christa: “Magda da ist noch was zu trinken, schwenk´s runter“. Sie hat eine entspannte Tonlage und ein freundliches Gesicht und wiederholt nochmals was Fr. Knapp tun kann. Nach weiteren 3 Wochen mit Marte Meo basierter Kommunikation hat Frau Knapp erneut Fortschritte gemacht: sie kann bis 100 zählen, führt Unterhaltungen mit ihrer Schwiegertochter und auch ihre motorischen Fähigkeiten haben deutlich zugenommen. Durch Marte Meo hat es Christa „aus eigener Kraft“ geschafft, sich auf den veränderten Wahrnehmungshorizont ihrer Schwiegermutter einzulassen und wieder mit ihr in Kontakt zu kommen.
Vorteile von Marte Meo
- Verbesserung der Kommunikation: Marte Meo hilft, die Kommunikation zwischen Menschen mit Demenz und ihren Betreuern und Angehörigen zu verbessern.
- Erkennung und Stärkung von Fähigkeiten: Die Methode hilft, die Fähigkeiten und Ressourcen der betroffenen Person zu erkennen und zu stärken.
- Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit: Marte Meo legt hauptsächlich Wert auf die Mikroelemente der Interaktion und führt zu mehr Mitarbeiterzufriedenheit, da der Bindungsaufbau nur mit ausreichend Zeit gestaltet werden kann und somit Ruhe in die Interaktion kommt.
- Burn-Out-Prophylaxe: Maria Aarts, die Begründerin der Marte Meo Methode, erklärt, dass Marte Meo als „Burn-Out-Prophylaxe“ für Pflegepersonal wirkt.
- Verbesserung der Lebensqualität: Nicht nur die Pflegequalität, sondern auch die Resilienz sowie die Lebensqualität von Pflegenden und Betreuten wie auch von Demenzerkrankten und von Angehörigen werden dadurch verbessert.
Marte Meo Schulungen und Kompetenzzentren
Viele Institutionen verbessern ihre Pflege- und Betreuungsqualität mit Marte Meo Videofallsupervisionen. Es werden regelmäßig „Marte Meo Praktiker Kurse“ für Mitarbeiter, aber auch für externe Teilnehmer*innen angeboten. Zudem gibt es Begleitung mit dem Marte Meo Konzept und Schulungsmöglichkeiten für Angehörige. Die Bremer Heimstiftung wurde am 27. April 2022 von Maria Aarts, der Gründerin von Marte Meo, zum internationalen Marte Meo Kompetenzzentrum ernannt.
Buchvorstellung: Die Marte Meo Methode (Neuauflage)
In der Neuauflage ergänzen die Autorinnen Umsetzungstipps der Methode in der Langzeit- und Akutpflege sowie im Behindertenbereich (Kinder, Jugendliche, Erwachsene). Sie bieten viele neue Videofallbeispiele z.B. Umgang mit herausforderndem Verhalten (Demenz), „Marte Meo und Palliative Care“ , Unterstützungsmöglichkeiten von „Young Carers“ , Menschen mit Hirnverletzungen und Autismus.
Fazit
Marte Meo ist eine wertvolle Methode, um die Kommunikation und Interaktion mit Menschen mit Demenz zu verbessern. Durch die Analyse von Videosequenzen und die Fokussierung auf positive Interaktionsmomente können Betreuer und Angehörige ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und eine unterstützende Umgebung schaffen, die die Lebensqualität der Betroffenen verbessert. Die Methode ist alltagstauglich, einfach und fehlerfreundlich und bietet ein passendes Handwerkszeug, um einer wachsenden Zahl von Menschen mit kognitiven Einschränkungen gerecht zu werden.