Mathematik ist ein grundlegendes Fach, das uns im Alltag und im Berufsleben ständig begegnet. Doch was passiert in unserem Gehirn, wenn wir rechnen? Welche neuronalen und kognitiven Prozesse werden aktiviert? Und welchen Einfluss hat mathematische Bildung auf unsere Gehirnentwicklung und unsere Zukunft? Dieser Artikel beleuchtet diese Fragen und gibt Einblicke in die faszinierende Welt des mathematischen Gehirns.
Die Bedeutung mathematischer Bildung
Mathematische Bildung ist mehr als nur das Erlernen von Rechenregeln. Sie fördert das logische Denken, das Problemlösungsvermögen und das räumliche Vorstellungsvermögen. Studien zeigen, dass Menschen mit hoher mathematischer Bildung im Durchschnitt gesünder, finanziell besser abgesichert und haben einen höheren sozioökonomischen Status.
Ein Beispiel aus Großbritannien verdeutlicht dies: Dort können Schüler mit 16 Jahren das Fach Mathematik abwählen. Frühere Erhebungen haben ergeben, dass diejenigen, die sich gegen das Fach entscheiden, später bis zu elf Prozent weniger Einkommen haben als Mitschüler aus ähnlichen sozialen Verhältnissen, die Mathe bis zum Ende ihrer Schullaufbahn belegt haben. Kein anderes Fach hatte solche Auswirkungen auf das spätere Leben.
Mathematik und die Entwicklung des Gehirns
Ein Team um George Zacharopoulos von der University of Oxford in Großbritannien hat untersucht, welchen Einfluss die mathematische Bildung auf die Entwicklung des Gehirns hat. Die Forscher ließen 87 Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren Tests zu ihren mathematischen Fähigkeiten absolvieren. Mit Hilfe der Magnetresonanzspektroskopie maßen sie zudem in den beiden mit Mathematik assoziierten Hirnregionen der Schüler die Konzentration von zwei wichtigen Neurotransmittern, Glutamat und GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Glutamat gilt als erregender Neurotransmitter, GABA als hemmender. Das Gleichgewicht dieser beiden Hirnbotenstoffe sichert die Funktion des Gehirns und die neuronale Plastizität.
Die Ergebnisse zeigten, dass diejenigen, die sich gegen Mathe entschieden haben, schlechtere Leistungen bei Tests zu den numerischen Fähigkeiten und zum mathematischen Denken erbrachten, aber höhere Werte bei einem Test hatten, der die Angst vor Mathe bewertet. Ein auffälliger Unterschied zeigte sich bei den Neurotransmittern: Wer Mathe abgewählt hatte, hatte weniger GABA im mittleren frontalen Gyrus. Anhand des GABA-Spiegels konnten die Forscher zudem vorhersagen, wie die Schüler 19 Monate später in mathematischen Tests abschneiden würden.
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Um herauszufinden, ob der verringerte GABA-Spiegel die Folge von fehlendem Matheunterricht war oder ob Schüler, die weniger GABA haben, eher dazu neigen, Mathematik abzuwählen, untersuchten die Forscher eine weitere Gruppe von Schülern, die zwar bereits entschieden hatten, ob sie Mathe fortsetzen oder abwählen wollen, aber zum Zeitpunkt der Untersuchung noch Matheunterricht hatten. Bei diesen Schülern zeigten sich zwar ebenfalls Unterschiede in den mathematischen Fähigkeiten, wobei diejenigen, die Mathe weiter belegen wollten, besser abschnitten. Doch mit Blick auf die Neurotransmitter unterschieden sich diese Schüler nicht. Der GABA-Mangel entsteht demnach tatsächlich erst, wenn die Schüler aufhören, sich mit Mathe zu beschäftigen.
Roi Cohen Kadosh, ein Kollege von Zacharopoulos, betont, dass die Möglichkeit, in diesem Alter mit dem Mathematikunterricht aufzuhören, zu einer Kluft zwischen Jugendlichen zu führen scheint, die ihren Mathematikunterricht abbrechen, und solchen, die ihn fortsetzen. Um mehr Chancengleichheit zu schaffen, sei es wichtig, die schädlichen Effekte des fehlenden Matheunterrichts auszugleichen und langfristige Auswirkungen zu verhindern.
Die neuronalen Grundlagen des Rechnens
Doch was passiert eigentlich im Gehirn, wenn wir rechnen? Welche Hirnregionen sind beteiligt und wie arbeiten sie zusammen? Dr. André Knops, Emmy Noether-Nachwuchsgruppenleiter am Institut für Psychologie, untersucht diese Fragen mit Hilfe von Computerexperimenten und bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie.
Knops interessiert sich insbesondere für die Rolle des Arbeitsgedächtnisses beim Kopfrechnen. Das Arbeitsgedächtnis hält alle Informationen bereit, die wir im Moment brauchen und verarbeiten. Seine Kapazität ist allerdings limitiert. Kopfrechnen greift sowohl auf sprachliche als auch auf räumliche Prozesse zurück. Der Abruf des kleinen Einmaleins aus dem Langzeitgedächtnis ist hauptsächlich sprachlich repräsentiert, während der Zugriff auf die Semantik von Zahlen ein eher räumlicher Prozess ist.
Knops verfolgt die Leitidee, dass die mentalen arithmetischen Fähigkeiten auf dem uns angeborenen Zahlensinn beruhen, also der Fähigkeit, Mengen wahrzunehmen und zu differenzieren. Er glaubt, dass wir visuell-räumliche Prozesse nutzen, um Ergebnisse zu schätzen beziehungsweise, dass numerische Fähigkeiten auf kognitive und neurale Mechanismen zurückgreifen, die evolutionär für die Verarbeitung räumlicher Informationen entstanden sind.
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Ein Beispiel dafür ist der Mentale Zahlenstrahl, an dem die Zahlen von links nach rechts aufsteigend angeordnet sind. Wenn wir entscheiden sollen, ob fünf oder sechs oder fünf oder zehn größer ist, brauchen wir für die erste Aufgabe einige Millisekunden länger Zeit, weil die Distanz zwischen fünf und sechs kleiner ist als die zwischen fünf und zehn.
Wie Langzeitgedächtnis und visuell-räumliche Repräsentation genau zusammenwirken, ist noch nicht vollständig verstanden und eine der Fragen, die Knops und seine Arbeitsgruppe untersuchen. Um der Antwort näher zu kommen, stützt er sich auf Reaktionszeiten. Er lässt Probanden beispielsweise am Computer verifizieren, ob ein Ergebnis richtig oder falsch ist. Um zu erkennen, dass das Ergebnis von fünf mal sieben nicht 42 ist, brauchen die Probanden Millisekunden länger als um zu erkennen, dass 28 falsch ist. Knops nimmt an, dass das der Effekt des Zahlenstrahls ist, der nicht linear, sondern komprimiert ist. Je größer die Zahlen, desto kleiner ist der Abstand zwischen ihnen. Deswegen fällt es schwerer, 42 von 35 zu unterscheiden als 28 von 35.
Spezifische Neuronen für Addition und Subtraktion
Eine andere Studie, die an der Bonner Universitätsklinik für Epileptologie durchgeführt wurde, lieferte weitere Einblicke in die neuronalen Grundlagen des Rechnens. Die Forschenden profitierten von einer Besonderheit der Klinik: Sie ist auf chirurgische Eingriffe im Gehirn von Epilepsiekranken spezialisiert. Bei manchen Betroffenen nehmen die Krampfanfälle stets vom selben Hirnbereich ihren Ausgang. Um diese defekte Stelle genau zu lokalisieren, setzen die Ärzte den Patientinnen und Patienten mehrere Elektroden ein. Mit den Sonden lässt sich der Krampfherd genau bestimmen.
An der aktuellen Studie nahmen fünf Frauen und vier Männer teil. Ihnen waren Elektroden in den sogenannten Schläfenlappen des Gehirns implantiert worden, um die Aktivität von Nervenzellen aufzuzeichnen. Währenddessen mussten die Teilnehmenden einfache Rechenaufgaben durchführen.
Dabei stellten die Forscher fest, dass bei Additionen andere Neuronen feuerten als bei Subtraktionen. Es war nicht so, dass manche Nervenzellen nur auf ein „+“-Zeichen reagierten und andere nur auf ein „-“-Zeichen: Auch wenn die mathematischen Symbole durch Wörter ersetzt wurden, blieb der Effekt derselbe. Das zeigt, dass die gefundenen Zellen tatsächlich eine mathematische Handlungsanweisung kodieren. An der Hirnaktivität ließ sich so mit großer Genauigkeit ablesen, welche Art von Aufgaben die Probandinnen und Probanden gerade berechneten.
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Die rechnenden Hirnzellen verteilen sich auf zwei mit dem Lernen und Gedächtnis assoziierte Hirnbereiche, den Hippocampus und den parahippocampalen Cortex. In beiden konnte das Forschungsteam Additions- und Subtraktions-Neuronengruppen identifizieren. Anders ist dies jedoch im parahippocampalen Cortex: Auch dort gibt es zwar Nervenzellen, die spezifisch bei Additionen oder Subtraktionen feuern. Sie lösen sich aber dynamisch in ihrer Arbeit ab: Beim Summieren während ein- und derselben Rechenaufgabe werden abwechselnd unterschiedliche Additions-Neurone aktiv, wie die Messungen zeigten.
Mathematik und Sprache
Mathematik und Sprache werden vom Gehirn offenbar unabhängig voneinander verarbeitet. Ob und wie die Sprache grundlegende Denkstrukturen beeinflusst und beim Erfassen mathematischer Strukturen eine Rolle spielt, wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert. Auch anderes deutet auf eine gegenseitige Beeinflussung von Sprache und Mathematik hin. So gibt es etwa Parallelen zwischen grammatikalischen und mathematischen Strukturen: Der Aufbau eines Satzes mit eingeschobenem Nebensatz wie "Der Mann, der den Löwen tötete, war wütend" ähnelt einer Rechenaufgabe mit einer Klammer. Hirnforscher vermuten daher, dass das Lernen von Grammatik den Entwurf eines Denkmusters bereitstellt, mit dessen Hilfe auch die grundlegenden mathematischen Mechanismen erfasst werden können.
Eine Studie von britischen Forschern legt jetzt jedoch den Schluss nahe, dass Mathematik auch ohne Worte funktioniert. Die Forscher legten drei Männern, deren Sprachzentren durch Hirnschäden weitgehend zerstört waren waren, sprachliche und mathematische Aufgaben vor. Die Männer konnten etwa den Unterschied zwischen den Sätzen "Der Mann tötet den Löwen" und "Der Löwe tötet den Mann" nicht verstehen. Dennoch hatten sie keine Schwierigkeiten, die entsprechenden Rechenaufgaben 7 minus 5 und 5 minus 7 voneinander zu unterscheiden. Eine Codierung mathematischer Zusammenhänge durch Wörter könne demnach ausgeschlossen werden.
Anwendungen der Hirnforschung für den Mathematikunterricht
Die Erkenntnisse der Hirnforschung können wichtige Impulse für die Gestaltung des Mathematikunterrichts und die Förderung von Menschen mit Dyskalkulie (Rechenschwäche) liefern. Wenn wir wissen, dass Zahlen wahrscheinlich räumlich repräsentiert sind, kann man den Mentalen Zahlenstrahl als Grundlage für Übungsaufgaben nehmen und Kinder damit unterstützen, ein besseres Zahlenverständnis zu erlangen.
Auch die Ergebnisse der Studie von Zacharopoulos und seinen Kollegen sind in Zusammenhang mit der aktuellen Covid-19-Pandemie relevant, da viele Kinder und Jugendliche keinen oder nur unzureichenden Schulunterricht erhalten. Die Studie liefert ein wichtiges Verständnis dafür, wie sich das Fehlen einer einzigen Komponente in der Bildung, nämlich Mathematik, auf Gehirn und Verhalten auswirken kann.
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