Michael Hagner legt mit seinem wissenschaftshistorischen Buch über die Erforschung von Gehirnen herausragender Persönlichkeiten eine detailreiche und zugleich gut verständliche Studie zu diesem seit Jahrhunderten virulenten Thema vor. Die moderne Hirnforschung hat ihre Wurzeln in der Suche nach dem Sitz der Seele, die bereits in der Antike begann und sich über die Ventrikellehre des Mittelalters bis hin zum Leib-Seele-Dualismus von René Descartes erstreckte. Hagner untersucht, wie sich die Vorstellungen über das Gehirn und seine Funktionen im Laufe der Zeit gewandelt haben und wie diese Veränderungen mit gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zusammenhängen.
Die Anfänge der modernen Lokalisationstheorie
Die moderne Lokalisationstheorie begann um 1800 mit Franz Joseph Galls These, nach der verschiedene geistige Qualitäten Sitz und Ursache in voneinander abgrenzbaren Regionen des Gehirns hätten. Es ging Gall darum, in Anlehnung an die bürgerlichen Verhaltenslehren und Konventionen der Spätaufklärung den verschiedenen menschlichen Eigenschaften, Neigungen und Talenten unterschiedliche und unabhängige Organe im Gehirn zuzuweisen. Besondere musikalische oder sprachliche Fähigkeiten beruhten demnach auf einem besonders gut entwickelten Hirnorgan. Diese Vorstellung von "big is beautiful" ist im Prinzip auch heute noch Bestandteil der Hirnforschung.
Galls Beitrag zur Hirnanatomie
Gall war ein vorzüglicher Hirnanatom. Er erkannte als erster systematisch die Bedeutung der Hirnrinde für die höheren Hirnfunktionen und wies nach, dass das Gehirn entwicklungsgeschichtlich aus dem Rückenmark entsteht. Sein folgenreichster - und problematischster - Beitrag war das psychologisch motivierte Anliegen, den Menschen nicht mehr als metaphysisches, mit einem Seelenorgan ausgestattetes Wesen anzusehen, sondern in seinen alltäglichen Verhaltensweisen zu verstehen. Galls Popularität lag in dem Teilstück seiner Lehre begründet, das die Ausprägung bzw. Wölbung der Schädelform zur Entwicklung der Hirnoberfläche in Beziehung setzte. Dadurch wurde die berüchtigte Korrelierung zwischen Schädelform und geistigen Eigenschaften ermöglicht.
Kritik an Galls Theorie
Dennoch waren die Implikationen von Galls Lehre zu ernst, um auf der Ebene sensationsheischender Scharlatanerie zu verharren. So entzündete sich auch innerhalb der Naturforschung Kritik an Galls Materialismus und Determinismus. Insbesondere warf man ihm vor, mit der Lokalisierung von Nächstenliebe, Mordsinn, Sprach- oder Tonsinn den freien Willen und damit die Autonomie des Individuums in Frage zu stellen. Diese Kontroverse hat die Hirnforschung bis auf den heutigen Tag begleitet, sei es im Streit um die Willensfreiheit, sei es, ob man einen Kriminellen oder ein Genie an seinem Gehirn erkennen könne.
Die Wiederbelebung der Lokalisationstheorie durch die Aphasieforschung
Die Wiederbelebung und Neuformulierung des Lokalisationsgedankens geschah erst nach 1860 mit der Erforschung der zerebral bedingten Sprachstörungen (Aphasie). 1861 demonstrierte Paul Broca in Paris den Fall eines Patienten, bei dem eine Schädigung in der 3. Frontalwindung der linken Hirnhälfte zur Unfähigkeit führte, Wörter auszusprechen, während das Sprachverständnis erhalten blieb. Als Carl Wernicke 1874 das Gegenstück zu Brocas motorischer Aphasie diagnostizierte und Sprachverständnisstörungen bei erhaltener Sprachmotorik (sensorische Aphasie) auf eine Läsion der 1. linken Temporalwindung zurückführte, schälte sich eine "Psychophysik der Sprache" (Karl Kleist) auf anatomischer Grundlage heraus, welche die Sprache analog zur Reflexlehre als einen "psychischen Reflexbogen" konstruierte, an dem mehrere Hirnregionen beteiligt waren.
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Meynerts Beitrag zur kortikalen Faserung
Unmittelbar im Gefolge der ersten klinischen Lokalisationsversuche begannen Hirnanatomen, nach strukturellen Unterschieden im Gehirn zu suchen. Epoche machend waren die 1865 begonnenen Untersuchungen des Wiener Psychiaters Theodor Meynert, der die kortikalen Fasern in Projektionsfasern (Verbindung von tiefer gelegenen Hirnteilen mit dem Kortex, der Hirnrinde) und Assoziationsfasern (Verbindung der Hirnrindenareale untereinander) einteilte. Erstere dienen dem Transport der sinnlichen Eindrücke, letztere der Verknüpfung von Wahrnehmungen und Vorstellungen. Denken, Bewusstsein oder Intelligenz waren für Meynert Funktionen der Assoziationsfaserung, wobei die häufige und intensive Wiederholung einer Assoziation zur Verfestigung entsprechender Bahnen führt, die nach und nach eine gewisse Kontinuität der Persönlichkeit mit sich bringt. Diese später als "Hirnmythologie" (Karl Jaspers) kritisierte Verknüpfung der Persönlichkeitsentwicklung mit der Hirnentwicklung war enorm einflussreich.
Der Durchbruch der Lokalisationstheorie durch die experimentelle Physiologie
Während die Lokalisationslehre durch klinische Beobachtungen und die Anatomie angestoßen wurde, vollzog sich ihr Durchbruch erst durch die experimentelle Physiologie. 1870 führten der Nervenarzt Eduard Hitzig und der Anatom Gustav Fritsch Untersuchungen durch, bei denen sie durch elektrische Stimulation bestimmter kortikaler Regionen Bewegungen der Gliedmaßen ihrer Versuchstiere hervorrufen konnten. Der Nachweis der motorischen Erregbarkeit der Hirnrinde war der Startschuss für zahlreiche Untersuchungen.
Die Neuronenlehre und ihre Auswirkungen auf die Hirnforschung
In einem ganz anderen Zweig der Hirnforschung entwickelte sich nach 1880 die Neuronenlehre. Dass es sich bei Nervenzellen um individuelle Entitäten handelt, war keine neue Einsicht. Während Theodor Schwann und Matthias Jacob Schleiden in den 1830er Jahren die Zellenlehre begründeten, gab es daneben auch Anatomen wie Christian Gottfried Ehrenberg, Jan Evangelista Purkyne und Robert Remak, die kugelige Ganglienkörper oder Nervenzellen als Elementarstrukturen des Nervensystems ansahen. Purkyne sprach sowohl den Zellen als auch den Nervenfasern den Charakter der Individualität zu, doch blieb es noch für längere Zeit unklar, ob und auf welche Weise Zellen und Fasern miteinander zusammenhängen.
Golgis Färbetechnik und Ramón y Cajals Beitrag zur Neuronenlehre
1873 konnte Camillo Golgi mittels einer neuen Färbetechnik Nervenzellen mit ihren endlosen Verzweigungen in bis dahin nicht für möglich gehaltener Schärfe und Klarheit sichtbar machen, und er hatte neue Beobachtungen über die Struktur der Nervenzellen mitzuteilen. So konnte Santiago Ramón y Cajal 1888 zeigen, dass verschiedene Zelltypen sich im Kleinhirn einander annäherten, ohne sich zu berühren, was zumindest nahe legte, dass die Verbindung zwischen Nervenzellen durch Kontakt und nicht durch Kontinuität zustande kam. Unabhängig voneinander postulierten Ramón y Cajal und Arthur van Gehuchten das Gesetz der dynamischen Polarisation, das besagt, dass Dendriten die Erregung zum Zellleib hinleiten, während Axone diese zum nächsten Neuron weiterleiten.
Kritik an der Lokalisationstheorie und die Entwicklung einer ganzheitlichen Sichtweise des Gehirns
Nach 1900 mehrte sich die Kritik an der Lokalisationstheorie, wobei Unstimmigkeiten in der Theorie selbst und weltanschauliche Gründe Hand in Hand gingen. Zwar war die Idee einer ganzheitlichen Funktion des Gehirns durchaus nicht dualistisch geprägt. Die Frage war nur, ob das komplexe Verhältnis von Struktur und Funktion aufgrund der Analyse einzelner Hirnregionen abgehandelt werden könne und ob eine neurologische Betrachtung des menschlichen Geistes als Summe seiner Empfindungen für das Verständnis vom Menschen und seiner Krankheiten ausreichend sei.
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Constantin von Monakow und Kurt Goldstein: Eine neue biologische Grundlage der Neurologie
Es waren vor allem Constantin von Monakow und Kurt Goldstein, die eine der individuellen Persönlichkeit des Menschen gerechter werdende biologische Grundlage der Neurologie zu entwickeln versuchten. Für Monakow war die Fähigkeit des Organismus, entstandene Schädigungen bis zu einem gewissen Grad selbst zu reparieren, ebenso zentral wie die Herausbildung von Kompensationsmechanismen. Der Neurologe Kurt Goldstein entwickelte seine Theorie des Organismus ausgehend von Erfahrungen mit hirnverletzten Soldaten, die im Ersten Weltkrieg Opfer von Kopfschüssen geworden waren. Danach wird Normalität bzw. Gesundheit als Adäquatheit zwischen Individuum und Umwelt definiert.
Die Erforschung der Gehirne von Ausnahmepersönlichkeiten
Hagner stellt in seinem spannend geschriebenen Buch keineswegs in Frage, dass die Wissenschaftler der verschiedenen Epochen ihre Untersuchungen aus einem genuin wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse heraus durchführten. Es gelingt Hagner deutlich zu machen, in welcher Weise die Ergebnisse dieser Forschungen oft genug als wissenschaftliche Fundierung für diskriminierende Rassen- und Geschlechtertheorien missbraucht wurden, und das obwohl die meisten der dargestellten Methoden und Schlußfolgerungen aus heutiger Sicht reichlich abwegig erscheinen. Ihr explizites Interesse am Gehirn entfaltet die Wissenschaft zum Ende des 18. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der man den Zusammenhang zwischen Gehirn und Intelligenz genauer zu entdecken begann.
Die Phrenologie und die Verlagerung des Interesses auf das Gehirn selbst
Die Phrenologie ging noch einen Schritt weiter und legte eine ganze Liste psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten vor, deren individuelle Ausprägung an der Ausformung bestimmter Schädelpartien abzulesen sei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse aber mehr und mehr auf die Untersuchung des Gehirns selbst. Allerdings waren dem medizinischen Erkenntnisdrang noch immer enge Grenzen gesetzt, denn die Sektion von Gelehrtengehirnen war weiterhin unter ethischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch.
Die Suche nach Merkmalen für Genie, Wahnsinn und kriminelles Verhalten
Auf der Grundlage der exakten Kartierung der Hirnwindungen versuchte man mit Hilfe von vergleichenden Studien Merkmale zu isolieren, anhand derer man Genie, Wahnsinn oder auch einen besonderen Hang zu kriminellem Verhalten ablesen zu können meinte. Häufig brachte man dabei auch alle drei Eigenschaften miteinander in Verbindung. Die von dem Italiener Cesare Lombroso begründete Kriminalanthropologie ging nicht nur davon aus, dass man die oben genannten Eigenschaften am Gehirn eindeutig "ablesen" könne, sondern auch davon, dass bestimmte menschliche "Rassen" durch jeweils für sie charakteristische Eigenschaften zu klassifizieren seien.
Der "organizistische" und der "technizistische" Ansatz in der Gehirnforschung
Bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts überwog in der Gehirnforschung ein, wie Hagner es nennt, "organizistischer" Ansatz, der dann zwischen den vierziger und den achtziger Jahren von einem "technizistischen" abgelöst wurde. Als Modell für die Funktionsweise des Gehirns galt nun die neue Erfindung "Computer", und menschliches Denken wurde in schaltkreisähnlichen Schemata abgebildet.
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Die Grenzen der modernen Neurowissenschaften
Letztlich, so bemerkt der Autor resümierend, ist davon auszugehen, dass es "kein einziges Gehirn im Glas geben wird, wenn es darum geht, die Ursache für eine besondere Begabung an einer umschriebenen Stelle im Gehirn zu suchen". Und auch die fortgeschrittensten technischen Möglichkeiten, über die die Neurowissenschaften heute verfügen, können nicht nachweisen, warum besonders leistungsstarke Gehirne so besonders gut funktionieren. Wenn man heute mit Hilfe von Computertomographen erhöhte Hirnaktivitäten beim Ausführen unterschiedlicher Tätigkeiten lokalisieren kann, so bedeutet das im Prinzip nur, dass man weiß, wo das Gehirn gerade arbeitet, aber noch immer nicht, wie.
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