Migräne: Die Rolle der Gehirnaktivität

Migräne ist eine neurologische Erkrankung, von der in Deutschland etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Sie zeichnet sich durch wiederkehrende, starke Kopfschmerzen aus, die oft von Symptomen wie Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Wahrnehmungsstörungen begleitet werden. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass Migräne eine genetische Grundlage hat und dass die Gehirnaktivität von Migränepatienten sich von der von gesunden Menschen unterscheidet, sowohl während als auch zwischen den Anfällen. Die Neurologisch-verhaltensmedizinische Schmerzklinik Kiel unter der Leitung von Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Hartmut Göbel bietet eine spezielle Therapie für Migräne mit und ohne Aura sowie für andere Kopfschmerzarten und chronische Schmerzerkrankungen an.

Genetische und neurologische Grundlagen der Migräne

Die Ursachen von Migräne sind vielschichtig und werden durch eine Kombination genetischer, persönlicher und umweltbedingter Faktoren beeinflusst. Menschen mit Migräne leiden nicht nur ab und zu unter Kopfschmerzen, ihr Gehirn funktioniert auch anders als das von Gesunden.

Genetische Faktoren: Studien haben gezeigt, dass das Risiko, an Migräne zu erkranken, bei Personen mit Familienangehörigen, die ebenfalls an Migräne leiden, deutlich erhöht ist. Bestimmte Genvarianten wurden mit einem erhöhten Risiko für Migräne mit Aura in Verbindung gebracht.

Neurologische und biochemische Mechanismen: Es wird angenommen, dass eine komplexe Wechselwirkung zwischen neurochemischen Prozessen im Gehirn, der Dysregulation von Neurotransmittern und einer gesteigerten neuronalen Erregbarkeit eine Rolle spielt. Die Wissenschaft hat die genauen Ursachen der kurzzeitigen Veränderung in der Gehirnaktivität bislang nicht vollständig verstanden, wobei sich unser Erkenntnisstand in den letzten Jahren insbesondere durch moderne bildgebende Untersuchungsmöglichkeiten deutlich erweitert hat.

Hypererregbarkeit des Gehirns bei Migräne

Migräne entsteht durch eine genetisch bedingte Reizverarbeitungsstörung. Das Nervensystem von Migränepatienten reagiert besonders sensitiv auf schnelle und übermäßige Reize und kann sich vor Reizüberflutung nicht ausreichend schützen. Migränepatienten gewöhnen sich nicht an wiederkehrende Reize. Die erhöhte Reagibilität des Gehirns bedingt einen fortwährenden Anstieg der Gehirnaktivität und in der Folge ein Energiedefizit in den Nervenzellen. Die elektrische Aktivität der Hirnrinde wird gestört oder bricht ganz zusammen. Die Überaktivität von Nervenzellverbänden geht mit einer unkontrollierten Freisetzung von Botenstoffen einher.

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Eine vergleichende Studie deutsch-amerikanischer Forscher belegt, dass die Netzwerk-Aktivität in bestimmten Gehirnregionen auch zwischen den Anfällen deutlich höher ist als normal. Auch in der anfallsfreien Zeit weisen sie eine erhöhte Netzwerkaktivität im Gehirn auf, die sich unmittelbar auf die akustischen, visuellen und sensorisch-motorischen Schaltkreise auswirkt.

Man vermutet, dass bei Migränebetroffenen genau diese Hirnhaut-Nerven eine besonders hohe Aktivität aufweisen. Darüber hinaus ist sich die Wissenschaft einig darüber, dass die Nervenzellen in der Hirnrinde von Migränepatient*innen besonders leicht erregbar sind und eine gesteigerte Reizverarbeitung besitzen. Diese sogenannte Hypererregbarkeit wurde in zahlreichen Untersuchungen beschrieben.

Kortikale Streudepolarisierung und Migräne-Aura

Ein wichtiger Aspekt der Migräneforschung ist die "Kortikale Streudepolarisierung" (CSD), ein neurologisches Phänomen, das sich langsam über die Hirnrinde ausbreitet. Bei dieser wandernden Erregungswelle feuern große Mengen an Nervenzellen gleichzeitig, was sehr viel Energie verbraucht und zu einer vorübergehenden Verminderung der Aktivität der Synapsen führt. In diesem Zusammenhang ist auch eine Minderversorgung des Gehirngewebes mit Sauerstoff beschrieben, die seit langem als Auslöser von Migräneattacken bekannt ist. Man nimmt heute an, dass es eine direkte Verbindung zwischen diesem Ereignis der sich ausbreitenden Erregungswellen und dem Migränegeschehen gibt.

Rund ein Drittel der Migräne-Erkrankten leidet zusätzlich unter vorübergehenden neurologischen Symptomen, der sogenannten Migräne-Aura. Im Gehirn beobachtet man während der Auren ein typisches Aktivitätsmuster: Nachdem eine starke Erregungswelle wie ein Tsunami über die Hirnrinde gezogen ist, folgt eine große Stille.

Die Nerven ihrerseits reagieren mit der Sezernierung von entzündungsfördernden Stoffen, wodurch sogenannte neurogene Entzündungen verursacht werden. Ein weiterer Befund betrifft die Durchblutung im Gehirn und damit auch das Thema Sauerstoffversorgung, die im Nervengewebe besonders wichtig ist. Speziell bei Migräne mit Aura kommt es während der Kortikalen Erregungswelle zur Beeinträchtigung der Durchblutung einzelner Hirnareale. Dies führt zu einer Minderversorgung mit Sauerstoff.

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Neurogene Entzündung und Schmerzentstehung

Als Folge der Überaktivität von Nervenzellverbänden kommt es in den Blutgefäßen der Hirnhäute zu einer neurogenen Entzündungsreaktion. Es entstehen pulsierende, pochende Schmerzen. Körperliche Tätigkeit verstärkt die Schmerzen, es muss daher meist Bettruhe eingehalten werden. Eine weitere Folge ist die Aktivierung von Schutzreflexen in Form von Übelkeit und Erbrechen.

Die Überaktivität der Nervenzellen im Hirnstamm führt dazu, dass die (C-)Fasern des Trigeminusnervs Schmerz-signale an das Gehirn senden. Dies hat auch eine vermehrte Ausschüttung so genannter Botenstoffe (vasoaktive Neuropeptide) zur Folge, die eine Dehnung der Blutgefäße bewirken und die Gefäßwände für Blutflüssigkeit durchgängig machen (Extravasation) und bestimmte Blutbestandteile (z.B. entzündliche Eiweißstoffe) freisetzen. Es kommt zu einer Aufschwemmung und einer Art Entzündung des Hirngewebes und der Hirnhäute. Diese so genannte neurogene Entzündung verursacht wiederum Schmerzimpulse, welche ausstrahlen und den Migränekopfschmerz bewirken.

Triggerfaktoren und Botenstoffe

Bestimmte innere und äußere Faktoren, so genannte Trigger, können bei entsprechender Veranlagung eine Migräne begünstigen. Jeder Migräne-Patient kann durch Selbstbeobachtung und konsequente Führung eines Kopfschmerz-Tagebuchs/Kalenders seine verschiedenen, persönlichen Auslöser ermitteln:

  • Wechselnder Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf
  • Hormonveränderungen
  • Stress
  • Verqualmte Räume
  • Bestimmte Nahrungsmittel
  • Äußere Reize wie (Flacker)Licht, Lärm oder Gerüche
  • Wetter- und Höhenveränderungen
  • Starke Emotionen
  • Medikamente

Von allen Botenstoffen spielt das Serotonin bei der Entstehung der Migräne eine besondere Rolle. Die Konzentration von Serotonin im Blut schwankt mit dem weiblichen Zyklus. Dies erklärt u.a. das Auftreten von Migräneattacken während des Zyklus.

Neue Erkenntnisse und Therapieansätze

Ein Team um Dr. Martin Kaag Rasmussen von der Universität Kopenhagen hat anhand eines Mausmodells für Migräne mit Aura genauer untersucht, welche Mechanismen den Migräne-Attacken zugrunde liegen. Es wurde festgestellt, dass die Reduktion der Gehirnaktivität zu einer Veränderung des Proteoms führt, einschließlich Substanzen, die den Trigeminusnerv aktivieren können, wie das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Dies könnte erklären, warum der Kopfschmerz bei Migräne-Attacken typischerweise einseitig ist.

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Eine Studie im Journal of Clinical Investigation zeigte, dass bei Migräne-Mäusen eine bestimmte Art von Nervenzellen überaktiv ist, was zu einer heftigen Aktivitätswelle gefolgt von einer Ruhephase führt. Die krankhafte Hirnaktivität besserte sich, als die Wissenschaftler eine Substanz verabreichten, die die übermäßige Natriumkanalaktivität blockiert. Dies könnte einen Ansatzpunkt für die medikamentöse Behandlung bestimmter Formen der Migräne darstellen.

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