Frauen, die unter Migräne leiden und gleichzeitig hormonell verhüten, stehen oft vor der Frage, wie sich dies auf ihr Schlaganfallrisiko auswirkt. Die Meinungen von Experten und Fachgesellschaften gehen hier auseinander. Während einige Leitlinien zur Vorsicht raten, sehen andere bei bestimmten Voraussetzungen keinen Grund zur Besorgnis. Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Studienlage, Empfehlungen und Risikofaktoren, um eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu bieten.
Kontroverse Leitlinien: WHO vs. DMKG
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt Frauen mit Migräne, ab dem 35. Lebensjahr auf die Pille zu verzichten. Bei Migräne mit Aura, einem neurologischen Ausfall, der dem Migräneanfall vorausgeht (z.B. Sehstörungen), rät die WHO sogar Frauen aller Altersstufen von der Pilleneinnahme ab. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) teilt diese Einschätzung in ihren Leitlinien zur Empfängnisverhütung.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) widerspricht dieser pauschalen Empfehlung. Sie argumentiert, dass der Großteil der Migränepatienten kein erhöhtes Schlaganfall- oder Herzinfarktrisiko hat. Für junge Frauen mit Migräne mit Aura sei das Risiko zwar leicht erhöht, hänge aber von der Aktivität der Migräne ab. Zusätzliche Risikofaktoren wie Rauchen würden die Gefahr erhöhen. Die DMKG betont, dass Patientinnen mit Migräne mit Aura über diese Zusammenhänge informiert sein müssen.
Kryptogener Schlaganfall und die Pille
Manche Schlaganfälle treten ohne erkennbare Ursache auf. Fachleute sprechen dann von einem kryptogenen ischämischen Schlaganfall, bei dem ein Blutgerinnsel eine Hirnarterie verstopft, ohne dass offensichtliche Risikofaktoren vorliegen. Bei Frauen unter 50 Jahren machen kryptogene Hirninfarkte etwa 40 Prozent der ischämischen Schlaganfälle aus.
Eine Studie der Universität Istanbul hat gezeigt, dass die Einnahme von Kombinationspillen, die Östrogen- und Gestagen-Ersatzstoffe enthalten, das Risiko für ungeklärte Schlaganfälle verdreifachen kann. Dies bedeutet, dass auch junge bis mittelalte Frauen ohne spezielle Risikofaktoren wie erhöhtes Thromboserisiko, Bluthochdruck, Rauchen, Migräne mit Aura oder Übergewicht betroffen sein können.
Lesen Sie auch: Vergleichende Analyse: Migräne vs. Epilepsie
Das Forschungsteam um Mine Sezginder verglich 268 Frauen im Alter von 18 bis 49 Jahren, die einen kryptogenen ischämischen Schlaganfall erlitten hatten, mit 268 gesunden Kontrollpersonen gleichen Alters. Dabei wurde neben dem Einsatz hormonell wirksamer Verhütungsmittel auch andere Risikofaktoren berücksichtigt.
Das Ergebnis: Unter den Schlaganfallpatientinnen hatten 66 ein Kombipräparat eingenommen, während es in der Kontrollgruppe nur 38 waren.
Unbekannte Risikofaktoren?
„Unsere Ergebnisse bestätigen frühere Hinweise auf ein erhöhtes Schlaganfallrisiko bei Einnahme der Pille“, erklärt Dr. Mine Sezgin. „Erstaunlich ist jedoch, dass der Zusammenhang selbst dann bestehen bleibt, wenn man andere bekannte Risikofaktoren berücksichtigt. Das spricht für zusätzliche, bisher nicht verstandene Mechanismen - möglicherweise genetischer oder biologischer Natur.“
Die meisten untersuchten Frauen nahmen Präparate mit dem Wirkstoff Ethinylestradiol in einer Dosierung von 20 Mikrogramm kombiniert mit einem Gestagen-Ersatzstoff ein - die klassische niedrig dosierte Kombinationspille. Andere Östrogen-Verwandte wie Estradiolhemihydrat oder Estradiolvalerat wurden seltener eingenommen.
Es bleibt unklar, ob andere hormonbasierte Kontrazeptiva in Hinblick auf kryptogene Schlaganfälle ein geringeres Risiko bergen. Laut Sezgin sind größere Studien nötig, um Unterschiede zwischen den verschiedenen Zusammensetzungen zu erkennen. Es gibt bereits Untersuchungen, die das allgemeine Schlaganfallrisiko für verschiedene Hormonersatzpräparate untersucht haben. Es ist bekannt, dass hormonell wirksame Verhütungsmittel das Risiko für Schlaganfälle, Herzinfarkte und Thrombosen erhöhen können, da sie die Blutgerinnung verstärken und somit die Bildung von Blutgerinnseln begünstigen.
Lesen Sie auch: Neurologische Expertise bei Migräne
Das Forschungsteam um Sezgin rät zur Vorsicht: Bei jungen Frauen mit zusätzlichen Risikofaktoren sollten Ärzte die Verordnung kombinierter Kontrazeptiva besonders sorgfältig abwägen.
Junge Frauen und die Pille: Ein Wandel
Unabhängig von der Risikodiskussion greifen junge Frauen ohnehin zunehmend seltener zur Pille, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Eine Erhebung der Techniker Krankenkasse (TK) aus dem Jahr 2024 zeigt, dass nur noch 26 Prozent der dort versicherten Frauen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren die Pille nehmen. Im Jahr 2020 lag der Wert noch bei 39 Prozent.
Schlaganfallrisiko: Allgemein niedrig bei jungen Frauen
Ob mit oder ohne Pille: Das Schlaganfallrisiko für junge Frauen ist insgesamt niedrig. Eine aktuelle dänische Untersuchung ergab, dass auf 100.000 Einnahmejahre gerechnet 18 Frauen, die keine hormonell wirksamen Verhütungsmittel verwenden, einen ischämischen Schlaganfall erleiden. Bei Kombipillen sind es 39, bei reinen Gestagen-Pillen („Minipille“) 33 und bei der Spirale (Intrauterinpessar mit Levonorgestrel) 23.
Alternativen zur Pille bei Migräne
Geht es nach den „Medical eligibility criteria for contraceptive use“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sollten orale Kontrazeptiva bei Migränepatientinnen wenn überhaupt nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Konkret raten die Expert:innen, die Pille bei Patientinnen mit Migräne ohne Aura ab dem 35. Lebensjahr abzusetzen oder nur in Ausnahmefällen anzusetzen. Wer dagegen unter Migräne mit Aura leidet, sollte komplett auf die Pille - genau kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK) - verzichten, und zwar unabhängig vom Alter.
Auch hierzulande wird in der Leitlinie zur Empfängnisverhütung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) von der Nutzung der Pille unter Migräne abgeraten, allerdings nur bei Vorliegen einer Aura. Die DGGG empfiehlt: „Bei Migräne mit Aura sollen kombinierte hormonelle Kontrazeptiva nicht verordnet werden. Beim Auftreten einer Migräne mit Aura unter Einnahme einer kombinierten hormonellen Kontrazeption soll die Einnahme beendet werden.“
Lesen Sie auch: Migräne als Risikofaktor für Demenz?
Der Grund: Es könnte ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfälle bestehen. „Migräne mit Aura erhöht das Risiko für den ischämischen Hirninfarkt. Das bei Frauen mit Migräne mit Aura erhöhte Risiko für ischämischen Hirninfarkt wird durch die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva weiter erhöht.“ Denn auch die Pille allein kann das Schlaganfallrisiko steigern.
Minipille als Alternative?
Die Deutsche Kopfschmerz- und Migränegesellschaft (DMKG) hat in einer Stellungnahme deutlich gemacht, dass für viele Betroffene, die unter Migräne ohne Aura leiden, eine Verhütung durch orale Kontrazeptiva trotzdem möglich ist, da Studienergebnisse gezeigt hätten, dass das Schlaganfallrisiko bei ihnen generell nicht erhöht sei.
Sowohl die Leitlinie als auch die DMKG empfehlen, bei Migräne mit oder ohne Aura auf eine Pille, die ausschließlich Gestagen enthält (Minipille), zurückzugreifen, wenn kein weiterer Risikofaktor für einen Schlaganfall vorliegt. Tritt unter der Einnahme der Minipille eine Migräne mit Aura neu auf, sollte das Präparat jedoch wieder abgesetzt werden.
Notfallkontrazeptiva können unbedenklich auch von Migränepatientinnen genutzt werden, so die Empfehlung in der Leitlinie.
Migräne: Mehr als nur Kopfschmerzen
Migräne zählt zu den primären Kopfschmerzen. Der pochende oder pulsierende einseitige sehr starke Schmerz kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen, denn die Attacken kommen anfallsweise und können vier bis 72 Stunden andauern. Während zwischen den ersten Anfällen mitunter mehrere Jahre liegen, können die Abstände im Laufe der Zeit immer kürzer und die Attacken heftiger werden.
Hormonelle Verhütung und Migräne: Eine Studienübersicht
Amerikanische Neurologen analysierten in einer vergleichenden Übersichtsstudie, ob Migräne und hormonelle Verhütung gemeinsam das Schlaganfallsrisiko erhöhen und ob dies mit der Dosierung des Verhütungsmittels Estrogen zusammenhängt. Sie fanden, dass es für eine abschließende Einschätzung der Effekte deutlich bessere Studien braucht.
Frühere Studien fanden, dass Patienten mit Migräne mit Aura ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle haben. Zusätzlich wurde auch die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel mit einem solchen Risiko in Verbindung gebracht. Daher wurde für lange Zeit von einer solchen Verhütung bei Migränepatientinnen mit Aura eher abgeraten. Aber sind diese Richtlinien bei den heutigen Verhütungsmitteln und ihren Dosierungen noch sinnvoll?
Dazu durchsuchten die Wissenschaftler die medizinwissenschaftliche Datenbanken PubMed, die Bibliothek der Cochrane-Kollaboration und EMBASE. Aus 2 480 Aufzeichnungen kristallisierten sich 15 Studien heraus, die den Einschlusskriterien genügten. 6 dieser Studien gaben Risikoschätzungen für die untersuchte Patientengruppe an. Insgesamt zeigten die Risikoraten ein erhöhtes Schlaganfallsrisiko für hormonell verhütende (Estrogen) Frauen mit Migräne an. Die Dosierung des Hormons war dabei nicht relevant. Allerdings waren die Studien eher klein und hatten eine große Streuweite in den Ergebnissen. Die Frage, wie genau das Risiko mit der Dosierung des Hormons zusammenhing, konnte daher keine Studie beantworten.
7 Studien untersuchten spezifisch, ob Migräne und hormonelle Verhütung zusammenwirkten, fanden aber keinen solchen Effekt. Eine Studie unterschied aber speziell zwischen Migräne mit und ohne Aura und fand, dass das Risiko der Aura-Patienten im Vergleich erhöht war.
Diese vergleichende Übersichtsstudie zeigt damit, dass es für eine abschließende Einschätzung der Effekte von hormoneller Verhütung auf das Schlaganfallsrisiko bei Frauen mit Migräne deutlich bessere Studien braucht. Die bisher vorhandenen Daten deuten aber an, dass hormonelle Verhütung bei Migräne mit Aura zu einem zusätzlich erhöhten Risiko führt. Das absolute Schlaganfallrisiko ist allerdings auch mit diesen Risikofaktoren eher gering.
Triptane und Schlaganfallrisiko: Eine unbegründete Sorge?
Viele Ärzte scheuen sich, Migränepatienten, insbesondere jungen Frauen, hochwirksame Triptane zu verschreiben, da diese Medikamente im Ruf stehen, das Schlaganfallrisiko zu erhöhen. Neurologe Dr. Wolf-Oliver Krohn kennt dieses Problem aus der Praxis. Immer wieder werde gerade jüngeren Frauen von einer Behandlung mit Triptanen abgeraten, insbesondere wenn sie die Pille nehmen.
Diese Sorge ist jedoch unbegründet. Eine große Studie aus Dänemark zeigte, dass die zusätzliche Einnahme eines Triptans die durch die Pille leicht erhöhte Schlaganfallgefahr nicht verstärkt. Die Studie erfasste alle Menschen, die zum ersten Mal ein Triptan einnahmen, also auch Frauen mit der Pille.
Die unberechtigte Sorge vor Schlaganfällen durch Triptane hat allerdings Konsequenzen. Nur etwa sieben Prozent der Migräne-Betroffenen erhalten die Medikamente gegen ihr Leiden.
Triptane haben sich bewährt, wenn klassische Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen nicht ausreichend wirken. Die Zahl der Migräne-Anfälle lässt sich zudem durch Sport, Entspannung und die Suche nach Auslösern verringern, etwa Schlafmangel und Stress. Vorbeugend wirkt eine Reihe von Medikamenten, wie zum Beispiel Beta-Blocker. Helfen diese nicht, können sogenannte CGRP-Antikörper verschrieben werden.
Triptane: Selektiver Einsatz entscheidend
Triptane bewirken über einen selektiven Agonismus an den Serotonin-Rezeptoren 5-HT1B und 5-HT1D eine Vasokonstriktion von Blutgefäßen, die die Hirnhaut versorgen. Es werden jedoch in geringem Umfang auch andere Blutgefäße verengt, weshalb Triptane bei Patienten mit bestimmten kadiovaskulären Risikofaktoren nicht angewendet werden dürfen.
Eine bevölkerungsweite Fall-Crossover-Studie aus Dänemark bestätigt, dass Triptane bei Patienten mit entsprechendem Risikoprofil tatsächlich besser nicht eingesetzt werden sollen. Bei Patienten mit niedrigem Ausgangsrisiko erhöhte die Anwendung eines Triptans das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko nur marginal.
Berücksichtigt wurden alle Bewohner Dänemarks, die zwischen Januar 1995 und August 2022 erstmals eine Verordnung über ein Triptan eingelöst hatten. Insgesamt hatten 429.612 Personen im Studienzeitraum die Anwendung eines Triptans begonnen; das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 38 Jahren und der Frauenanteil bei 76 Prozent. Es kam zu elf Herzinfarkten, 18 ischämischen Schlaganfällen und 35 ischämischen/nicht spezifizierten Schlaganfällen, die sich entweder während eines Zeitfensters im Fokus oder eines Vergleichszeitfensters ereigneten. Allerdings waren die Patienten, die ein solches Ereignis erlitten, durchschnittlich 60 Jahre alt und hatten fast alle bereits vorher ein hohes kardiovaskuläres Risiko.
Menstruelle Migräne und hormonelle Verhütung
Bei Frauen tritt Migräne häufig in zeitlichem Zusammenhang mit der Menstruation auf. Viele Patientinnen wissen allerdings nicht, dass sie die Beschwerden auch durch die Wahl ihrer Arzneimittel beeinflussen können: Kombinierte orale Kontrazeptiva können Migräneanfälle begünstigen, reine Gestagenpräparate aber zyklusabhängige Kopfschmerzen bessern.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits vor zwei Jahren im Rahmen ihrer Leitlinien zur Familienplanung eine Empfehlung veröffentlicht, nach der Frauen mit Migräne ohne Aura mit einem reinen Gestagenpräparat verhüten sollten, um das Schlaganfallrisiko zu minimieren. Die WHO rät Patientinnen mit Aura grundsätzlich von einer hormonellen Kontrazeption ab.
Nach Angaben der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft leiden circa sieben Prozent aller Migräne-Patientinnen an menstrueller Migräne, der Anteil an Frauen mit menstruationsassoziierter Migräne ist noch deutlich höher. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine Migräne ohne Aura. Ursache von zyklusabhängigen Migräneanfällen scheinen die prämenstruell rasch abfallenden Östradiolspiegel zu sein.
Differenzierte Beratung notwendig
Migränepatientinnen müssen hinsichtlich geeigneter Verhütungsmethoden differenzierter beraten werden als Patientinnen, bei denen die Kopfschmerzen andere Ursachen haben. Gynäkologen sollten jede Patientin nach wiederkehrenden Kopfschmerzen fragen, gegebenenfalls eruieren, ob es sich um eine Migräne handeln könnte, und die Patientin im Verdachtsfall zum Neurologen überweisen.
Die Rolle von Östrogen bei Migräne
Zahlreiche für die Pathophysiologie der Migräne relevante Gehirnareale, das kraniale Gefäßsystem, die Dura mater sowie das Hinterhorn des Rückenmarks exprimieren Estrogen-Rezeptoren. Dadurch können schmerzhafte Reize moduliert werden. Migräneattacken können in zeitlicher Relation zum menstruellen Fenster auftreten.
Es besteht umfangreiche Evidenz, dass ein erhöhtes Risiko für ischämische Schlaganfälle sowohl mit der Migräne ohne Aura als auch mit der Migräne mit Aura assoziiert ist.
Menstruelle Migräne in der internationalen Kopfschmerzklassifikation
Die aktuelle 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation ICHD3 hat Migräneattacken, die in zeitlicher Relation zum menstruellen Fenster auftreten, wie auch die Vorauflagen im Hauptteil keinen Platz zugewiesen. Die erste Auflage im Jahre 1988 führte für die Migräne im Zusammenhang mit der Menstruation keinerlei formelle Kriterien auf.
In der zweiten Auflage der internationalen Kopfschmerzklassifikation 2004 wurden im Anhang erstmals zwei Unterformen der Migräne im Zusammenhang mit der Menstruation definiert: die „reine menstruelle Migräne“ (Attacken ausschließlich im Zusammenhang mit der Menstruation) und die „menstruationsassoziierte Migräne“ (zusätzlich Attacken zu anderen Zeiten des Zyklus). Bei beiden Formen handelte es sich um Untergruppen ausschließlich der Migräne ohne Aura.
Auch in der 3. Auflage der internationalen Kopfschmerzklassifikation aus dem Jahre 2018 findet man die „reine menstruelle Migräne“ und die „menstruationsassoziierte Migräne“ weiterhin nur im Anhang. Für beide Diagnosen wird gefordert, dass die Migräneattacken am Tage 1 ± 2 der Menstruation (d. h. Tag −2 bis +3) der Menstruation in mindestens 2 von 3 Menstruationszyklen auftreten. Erweitert wurden die Kriterien nun jedoch zusätzlich um eine Unterform mit Aura, obwohl menstruelle Migräneattacken meist ohne Auren verlaufen. Definiert werden damit eine reine menstruelle Migräne mit und ohne Aura sowie eine menstruationsassoziierte Migräne mit und ohne Aura.
Für die Zwecke der ICHD-3 wird die Menstruation als endometriale Blutung infolge des normalen endogenen Menstruationszyklusses oder eines Entzuges von externen Gestagenen angesehen, letzteres gilt für kombinierte orale Kontrazeptiva und eine zyklische Hormonersatztherapie.
Mehr als 50 % der Frauen mit Migräne berichten über einen Zusammenhang zwischen Menstruation und Migräne. Die Prävalenz in verschiedenen Studien variiert aufgrund der unterschiedlichen diagnostischen Kriterien. Die Prävalenz der reinen menstruellen Migräne ohne Aura schwankt zwischen 7 % und 14 % bei Migränepatientinnen, während die Prävalenz der menstruationsbedingten Migräne ohne Aura zwischen 10 % und 71 % bei Migränepatientinnen variiert. Etwa eine von drei bis fünf Migränepatientinnen hat im Zusammenhang mit der Menstruation eine Migräneattacke ohne Aura.
Estrogenentzug als Auslöser?
Die Mechanismen der Migräne unterscheiden sich möglicherweise in Abhängigkeit davon, ob die endometriale Blutung als Folge des normalen endogenen Menstruationszyklusses oder eines Entzuges von externen Gestagenen (wie bei kombinierten oralen Kontrazeptiva und einer zyklischen Hormonersatztherapie) auftritt.
Es gibt Hinweise, dass zumindest bei einigen Frauen menstruelle Migräneattacken durch einen Estrogenentzug ausgelöst werden können, auch wenn möglicherweise andere hormonelle oder biochemische Veränderungen zu diesem Zeitpunkt des Zyklus ebenfalls relevant sein können. Wenn eine rein menstruelle Migräne oder menstruationsassoziierte Migräne mit einem exogenen Estrogenentzug in Zusammenhang stehen, sollten beide Diagnosen, rein menstruelle Migräne ohne Aura bzw. menstruationsassoziierte Migräne ohne Aura und Estrogenentzugskopfschmerz vergeben werden.
Estrogen und das Gehirn
Das am meisten relevante endogene Estrogen ist 17 β-Estradiol. Es hat Zugang zum zentralen Nervensystem durch passive Diffusion durch die Bluthirnschranke. Es kann jedoch auch lokal im Gehirn aus Cholesterin oder aus aromatisierten Vorstufen durch das Enzym Aromatase synthetisiert werden und dort als Neurosteroid wirken.
Estrogene entwickeln ihre biologische Wirkung im zentralen Nervensystem durch genomische oder nichtgenomische zelluläre Mechanismen. Dadurch können die Neurotransmission und die Zellfunktion verändert werden. Zahlreiche Gehirnareale, die in der Pathophysiologie der Migräne involviert sind, exprimieren Estrogenrezeptoren. Dies trifft insbesondere für den Hypothalamus, das Kleinhirn, das limbische System, Brückenkerne sowie das periaquäduktale Grau (Substantia grisea periaquaeductalis) zu. Estrogen-Rezeptoren werden ebenfalls in der Hirnrinde exprimiert, wodurch die Schmerzempfindlichkeit afferent und efferent moduliert werden kann.
Das serotoninerge System kann durch Estrogen aktiviert werden, was sich protektiv gegenüber Migräneattacken auswirken kann. Estrogen kann auch die erregende Wirkung von Glutamat erhöhen. Dies kann die erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Entstehen einer Migräneaura in Phasen hoher Estrogen-Konzentrationen erklären. Estrogen kann das γ-Aminobuttersäure-System (GABA) modulieren, welches inhibitorisch im Nervensystem wirkt. Estrogene können auch das endogene Opioidsystem durch erhöhte Synthese von Enkephalin modulieren. Entsprechend kann ein erniedrigter Estrogen- und Progesteron-Spiegel während der späten Lutealphase mit einer reduzierten Aktivierung des Opioidsystems korreliert sein. Dies bedingt eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit.
Hohe Estrogenkonzentrationen fördern zudem die Bildung von weiteren schmerzhemmenden Neurotransmittern und Neuropeptiden, wie u.a. Das Neuropeptid Oxytocin wird im Hypothalamus gebildet. Es hat umfangreiche Effekte im zentralen Nervensystem. Insbesondere moduliert es Stimmung und Verhalten. Es beeinflusst die körpereigene Schmerzkontrolle und kann migränepräventiv wirken. In Phasen erhöhter Estrogen-Konzentrationen sind auch die Spiegel von Oxytocin erhöht. Estrogen führt zu einer erhöhten Produktion von Oxytocin im Hypothalamus und weiteren Hirnarealen, insbesondere im trigeminalen Nucleus caudalis.
Die Pathophysiologie der Migräne wird mit erhöhter kortikaler nozizeptiver Aktivität im trigemino-vaskulären nozizeptiven System in Verbindung gebracht. Diese bedingt sowohl eine Vasodilatation der intrakraniellen Gefäße als auch eine meningeale Inflammation. Die lokale Aktivierung der Estrogen-Rezeptoren im Trigeminusganglion soll möglicherweise zur Triggerung von Migräneattacken beitragen.
tags: #Migräne #Pille #Schlaganfall #Risiko