Das menschliche Gehirn ist ein bemerkenswertes Organ, das uns von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, unterscheidet. Diese evolutionäre Entwicklung hat jedoch ihren Preis. Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die gesteigerte geistige Leistungsfähigkeit und die vergrößerte Hirnrinde des Menschen mit einer erhöhten Anfälligkeit für altersbedingten Verlust der grauen Substanz einhergehen könnten. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen morphologischer Veränderungen im Gehirn, insbesondere im Zusammenhang mit Alterung und neurodegenerativen Erkrankungen.
Evolutionäre Entwicklung und Anfälligkeit
Eine Studie von Sam Vickery und Kollegen untersuchte MRT-Scans von Schimpansen- und menschlichen Gehirnen, um die "Last-in-First-out"-Hypothese zu untersuchen. Diese Hypothese besagt, dass die Gehirnkortizes des Menschen im Vergleich zu nicht-menschlichen Primaten größer sind, da sich der Mensch entwickelt hat, um zusätzliche kognitive Aufgaben zu erfüllen. Der präfrontale Kortex (PFC), der für Entscheidungsfindung, Planung und Persönlichkeit zuständig ist, ist ein wichtiger Bestandteil dieser Entwicklung.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mit zunehmendem Alter deutliche Veränderungen in der Morphologie und Organisation des menschlichen Gehirns auftreten, die teilweise auf Zellatrophie in späteren Lebensjahren zurückzuführen sind. Zellatrophie, also Gewebeschwund in der grauen Hirnsubstanz, tritt auch bei Schimpansen auf, jedoch in viel geringerem Ausmaß. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen der evolutionären Entwicklung bestimmter kortikaler Areale beim Menschen und einer erhöhten Anfälligkeit für neurodegenerative Prozesse hin.
Altersbedingte Veränderungen in spezifischen Hirnregionen
Die altersbedingte Abnahme der Hirnsubstanz betrifft verschiedene Bereiche des Gehirns unterschiedlich. Bei Menschen zeigen sich die größten Abnahmen im frontalen und präfrontalen Cortex, die für Arbeitsgedächtnis, Selbstkontrolle und höhere Denkfunktionen wichtig sind. Bei Schimpansen hingegen betrifft das Schrumpfen der grauen Hirnsubstanz vor allem die Schläfenbereiche und tieferliegende Hirnregionen wie das Striatum, das für motorische Funktionen und das Belohnungssystem wichtig ist.
Interessanterweise ergaben ergänzende Analysen, dass die am stärksten alternden Hirnbereiche die evolutionär gesehen jüngsten sind, also die Hirnareale, die bei uns Menschen im Vergleich zu den Menschenaffen stark vergrößert sind. Es wurde eine starke positive Korrelation zwischen dieser cerebralen Expansion und dem altersbedingten Abbau beim Menschen gefunden.
Lesen Sie auch: Forschungsansätze zu Hirnveränderungen bei Morbus Parkinson
Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang im orbitofrontalen Cortex und der Insula, die für die bewusste Wahrnehmung und Bewertung von Reizen sowie für die Empathie eine wichtige Rolle spielt und bei uns Menschen besonders ausgeprägt ist. Dies stützt die Hypothese des "Last in - First out", wonach evolutionär neue Strukturen weniger robust und anfälliger für Veränderungen sind als diejenigen, die schon über lange Zeit hinweg optimiert und angepasst werden konnten. Daher nehmen die zuletzt hinzugefügten Strukturen auch als erste Schaden.
Neurodegenerative Erkrankungen und beschleunigte Atrophie
Die Studie von Vickery und Kollegen wies auch auf einen Zusammenhang zwischen altersbedingten Veränderungen in der grauen Hirnsubstanz und neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson hin. Robert Dahnke merkte an, dass die Bilder gezeigt hätten, "dass wir bei neurodegenerativen Erkrankungen eben eine stärkere und schnellere Atrophie in bestimmten Arealen wie beispielsweise dem Hippocampus sehen können".
Bei der Alzheimer-Krankheit sterben nach und nach Nervenzellen im Gehirn ab, was zu einem fortschreitenden Verlust der geistigen (kognitiven) Fähigkeiten führt. Gedächtnisprobleme und Orientierungsschwierigkeiten sind nur zwei der Symptome, die den Alltag der Betroffenen zunehmend erschweren.
Ursachen der Alzheimer-Krankheit
Die genauen Ursachen der Alzheimer-Krankheit sind noch nicht vollständig geklärt, aber es gibt bestimmte Veränderungen im Gehirn von Menschen mit Alzheimer, die sich in vielfältiger Weise auf die Betroffenen auswirken. Ein typisches Frühsymptom sind Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, das heißt, man kann sich an kurz zurückliegende Ereignisse nicht mehr erinnern. Weitere Symptome sind Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, Dinge zu planen und zu organisieren.
Im Gehirn von Menschen mit Alzheimer sammelt sich übermäßig viel Amyloid-beta zwischen den Gehirnzellen an und bildet kleinere, giftige Klumpen (Oligomere) und riesige Zusammenlagerungen (Plaques). Im Inneren der Gehirnzellen sorgt das Tau-Protein für die Stabilität und Nährstoffversorgung. Bei der Alzheimer-Krankheit ist das Tau-Protein chemisch so verändert, dass es seiner Funktion nicht mehr nachkommen kann. Die chemische Veränderung des Tau-Proteins bewirkt, dass es eine fadenförmige Struktur bildet.
Lesen Sie auch: Zusammenhänge biochemischer Veränderungen im Gehirn
Obwohl schon Alois Alzheimer vor fast 120 Jahren Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen im Gehirn seiner Patientin Auguste Deter als Ursache der „Krankheit des Vergessens“ vermutete, gibt es bis heute keinen Beweis dafür. So ist es beispielsweise gelungen, mit modernen Antikörper-Medikamenten die Amyloid-Plaques zu entfernen und damit den Krankheitsverlauf etwas zu verzögern - dauerhaft aufhalten lässt sich der kognitive Abbau jedoch nicht. Auch weiß die Wissenschaft bis heute nicht, warum sich die Oligomere, Plaques und Fibrillen bilden. Zum Teil vermuten Forscherinnen und Forscher, dass die Ablagerungen ein Nebenprodukt anderer Vorgänge sein könnten, deren Ursachen noch nicht bekannt sind.
Die Rolle von Gliazellen
Neben den Ablagerungen von Amyloid und Tau kommen Fehlfunktionen bestimmter Zellen als mögliche Auslöser der Alzheimer-Krankheit in Frage. Im Fokus stehen hier insbesondere die Gliazellen, die etwa 90 Prozent aller Gehirnzellen ausmachen. Aufgabe der Gliazellen ist es, die Nervenzellen im Gehirn zu schützen und zu unterstützen, damit die Signalübertragung - und damit unser Denken und Handeln - reibungslos funktioniert.
Mikrogliazellen spielen eine wichtige Rolle im Immunsystem unseres Gehirns. Wie eine Gesundheitspolizei sorgen sie dafür, dass schädliche Substanzen wie Krankheitserreger zerstört und abtransportiert werden. Astrozyten sind Gliazellen mit gleich mehreren wichtigen Aufgaben, unter anderem versorgen sie das Gehirn mit Nährstoffen, regulieren die Flüssigkeitszufuhr und helfen bei der Regeneration des Zellgewebes nach Verletzungen. Astrozyten stehen im Verdacht, an der Verbreitung der giftigen Amyloid-beta-Oligomere und Tau-Fibrillen beteiligt zu sein.
Die Alzheimer-Krankheit verändert das Gehirn auf vielfältige Weise, aber bis heute ist nicht klar, welche Ursachen die Krankheit letztlich auslösen. Dies liegt zum einen daran, dass die Alzheimer-Krankheit sehr komplex ist, zum anderen aber auch daran, dass es sich zunächst um eine stumme Krankheit ohne Symptome handelt. Treten irgendwann Symptome auf, lässt sich nicht mehr feststellen, wo die Krankheit begonnen hat. Die Forschung geht davon aus, dass die für Alzheimer typischen molekularen Prozesse im Gehirn Jahre oder Jahrzehnte vor dem Auftreten der ersten Symptome beginnen.
Neuroinflammation und Immunreaktion im Gehirn
Das Nervengewebe im Gehirn ist besonders geschützt durch die Blut-Hirn-Schranke. Diese hält Krankheitserreger fern und verhindert, dass Immunzellen und Antikörper in das Nervengewebe des Gehirns eindringen können und die neuronalen Netze zerstören. Im Gehirn gibt es Immunzellen, aber nicht solche, die im Blut sind und im Rest des Körpers wirken. Die Hirn-Immunzellen sind die Mikroglia. Sie beseitigen Zellmüll und Keime im Nervengewebe.
Lesen Sie auch: Behandlung neurologischer Erkrankungen im Alter
Eine Entzündung des Nervengewebes heißt Neuroinflammation. Das ist eine gesunde Reaktion des Immunsystems, mit der das Gehirn vor Infektionen geschützt wird. Bei der Neuroinflammation überwinden Immunzellen des Blutes die Blut-Hirn-Schranke. Eine Neuroinflammation kann aber auch Krankheiten wie Multiple Sklerose auslösen. Dabei entsteht ein komplexes und zerstörerisches Zusammenspiel aus Mikroglia und Immunzellen, die aus dem Blut ins Gehirn wandern.
Bei einem Schlaganfall sterben nicht nur Hirnzellen ab, auch die Blut-Hirn-Schranke wird vorübergehend in Mitleidenschaft gezogen. Mikroglia bekämpfen nicht nur Erreger, sie erfüllen noch einen weiteren Zweck im Gehirn: Sie beseitigen auch abgestorbene Zellen und sonstigen Müll des Gehirngewebes. Deshalb spielen diese Mikroglia-Zellen wahrscheinlich auch eine Rolle bei der Entstehung von Alzheimer.
Bei Alzheimer-Patienten funktionieren die Mikroglia nicht richtig: Veränderungen in einem Gen namens TREM-2 erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Mikroglia ihre Aufgabe nicht richtig bewältigen können. Dann wird der Schutt im Gehirn nicht schnell genug gefressen und die typischen Plaques entstehen. Bei Maus-Versuchen hat sich zudem gezeigt: Die Mikroglia schütteten in solch einer Situation fortwährend Botenstoffe für Entzündungsreaktionen aus.
Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT)
Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist eine Technik, die zur Visualisierung von Hirnaktivitäten eingesetzt wird. Dabei werden Veränderungen des Blutflusses im Gehirn gemessen, die mit neuronaler Aktivität korrelieren. Die fMRT wird bereits standardmäßig beim präoperativen Mapping vor der Resektion von Gehirntumoren eingesetzt.
Mithilfe der fMRT lässt sich bestimmen, wo die zuständigen Areale auf dem Cortex verortet sind, indem der Patient entsprechende Aufgaben im Scanner ausführt. Zur operativen Planung können die fMRT-Bilder dann mit den neurochirurgischen Navigationsdatensätzen fusioniert werden, um die funktionstragenden Gehirnareale bei der Tumorresektion so gut wie möglich zu erhalten.
Darüber hinaus sind aber noch weitere Aufgabenfelder für die fMRT denkbar, die weit über die Operationsplanung hinausgehen. Zurzeit wird viel darüber geforscht, wie man sich die funktionelle Konnektivität der Netzwerke im Gehirn zu Nutze machen kann. Sind beispielsweise die funktionellen Verbindungen des Hippocampus reduziert, kann dies der Hinweis auf eine beginnende Alzheimer-Demenz sein. Diese Veränderungen sind teilweise schon sichtbar, bevor sich morphologische Veränderungen ergeben, und bevor die Symptomatik ausbricht. Ähnliches gilt auch für andere psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Autismus.
Neuronale Signalübertragung und Plastizität
Die Veränderbarkeit neuronaler Signalübertragung ist eine der herausragenden Eigenschaften des Gehirns und wird von Neurobiologen als zelluläre Grundlage für das menschliche Gedächtnis angesehen. Zwei aktuelle Arbeiten aus der Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie haben neue, weit reichende Facetten dieser Veränderbarkeit zu Tage gebracht. Es konnte gezeigt werden, dass die funktionelle Herunterregulierung (Langzeitdepression) von neuronalen Verbindungen oder Synapsen zur Zurückbildung von feinsten Nervenzellausläufern, den so genannten Spines, führt. Da ein Spine (dendritischer Dorn) strukturell den postsynaptischen Teil einer erregenden Synapse bildet, liegt die Vermutung nahe, dass der Verlust von Spines ein morphologisches Korrelat der synaptischen Abschwächung darstellt.
In einer weiteren Studie wurde nachgewiesen, dass Synapsen, die umgekehrt zur Depression gemeinsam verstärkt oder potenziert werden, in einen Wettstreit um zelluläre Ressourcen treten: Sinkt die Verfügbarkeit von Proteinen, die für eine andauernde synaptische Verstärkung benötigt werden, führt die Verstärkung einzelner Synapsen zur Abschwächung anderer, vormalig verstärkter Synapsen.
Ob das Verschwinden der dornenartigen Fortsätze die tatsächliche Ursache für das Vergessen von Information ist, kann aus den Studien von Tobias Bonhoeffer und seiner Abteilung nicht endgültig gefolgert werden. Es spricht jedoch vieles dafür, denn Bonhoeffer und Kollegen konnten einen klaren Zusammenhang zwischen der Rückbildung der Dornen und Langzeitdepression zeigen: Letztere ist mehrfach mit Vergessen in Zusammenhang gebracht worden.
Die Konkurrenz um die Botenstoffe zwischen bestehenden Signalwegen, die von den Martinsrieder Wissenschaftlern erstmalig gezeigt wurde, könnte eine weitere Erklärung für die Plastizität unseres Gehirns und damit auch unseres Gedächtnisses und Lernvermögens sein.
Künstliche neuronale Netzwerke (BENOs)
Für höhere Gehirnfunktionen müssen aktivierende und inaktivierende Nervenzellen in direkter Nachbarschaft zu sogenannten Gliazellen eng und zugleich dynamisch verschaltet sein. BENOs weisen zudem Funktionen auf, die für die Ausbildung von Lernen und Gedächtnis von zentraler Bedeutung sind. Erste Hinweise auf komplexe, physiologische Funktionen in den gezüchteten neuronalen Netzwerken machen Hoffnung, künftig degenerative Erkrankungen des zentralen Nervensystems im Labor simulieren zu können. Erste Anwendungen finden BENOs bereits in der Simulation von Erkrankungen des zentralen Nervensystems, zum Beispiel von Epilepsie Syndromen, und in der Testung von Arzneistoffen.
tags: #morphologische #veränderungen #des #gehirns #ursachen