Motoneuronerkrankungen: Definition, Diagnose und Therapie

Motoneuronerkrankungen (MND) bezeichnen eine Gruppe von neurologischen Erkrankungen, die das motorische Nervensystem betreffen. Charakteristisch für diese Erkrankungen ist die Degeneration von Motoneuronen, den Nervenzellen, die für die Steuerung der Muskelbewegungen verantwortlich sind. Dies führt zu fortschreitender Muskelschwäche, Muskelabbau und verschiedenen anderen Symptomen.

Was sind Motoneuronerkrankungen?

Bei Motoneuronerkrankungen handelt es sich um Erkrankungen des motorischen Nervensystems. Die Leitsymptome sind eine voranschreitende Muskelschwäche („Parese“) sowie Muskelverschmächtigungen („Atrophie“) häufig mit Muskelzuckungen („Faszikulation“) oder eine Muskelsteifigkeit („Spastik“).

Die Rolle der Motoneuronen

Motoneuronen sind Nervenzellen, die sich im Gehirn und Rückenmark befinden und für die Übertragung von Signalen an die Muskeln zuständig sind. Man unterscheidet zwischen zwei Arten von Motoneuronen:

  • Das erste Motoneuron (oberes Motoneuron): Befindet sich im Gehirn und sendet Signale an das zweite Motoneuron im Rückenmark. Eine Schädigung des ersten Motoneurons führt zu spastischen Lähmungen.
  • Das zweite Motoneuron (unteres Motoneuron): Befindet sich im Rückenmark und sendet Signale direkt an die Muskeln. Eine Schädigung des zweiten Motoneurons führt zu schlaffen Lähmungen und Muskelabbau.

Symptome

Die Symptome von Motoneuronerkrankungen können je nach Art der Erkrankung und betroffenem Bereich des Nervensystems variieren. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

  • Muskelschwäche (Parese)
  • Muskelabbau (Atrophie)
  • Muskelzuckungen (Faszikulationen)
  • Muskelsteifigkeit (Spastik)
  • Probleme beim Sprechen, Kauen und Schlucken
  • Atembeschwerden

Sensible Symptome, d.h. eine Störung des „Gefühls“, sind nicht typisch. Dies ist häufig wichtig zur Abgrenzung von anderen neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose und einer Polyneuropathie.

Lesen Sie auch: Ursachen, Symptome und Behandlungen von Motoneuron-Erkrankungen

Ursachen

Die Ursachen von Motoneuronerkrankungen sind vielfältig und oft nicht vollständig geklärt. In einigen Fällen sind genetische Faktoren beteiligt, während in anderen Fällen Umweltfaktoren oder eine Kombination aus beidem eine Rolle spielen können.

Formen von Motoneuronerkrankungen

Es gibt verschiedene Formen von Motoneuronerkrankungen, die sich in ihren Symptomen, ihrem Verlauf und ihren Ursachen unterscheiden. Zu den häufigsten Formen gehören:

  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
  • Spinale Muskelatrophie (SMA)
  • Spastische Spinalparalyse (SSP)
  • Progressive Muskelatrophie (PMA)
  • Primäre Lateralsklerose (PLS)

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste Form der Motoneuronerkrankung. Sie ist seit mehr als 100 Jahren bekannt und kommt weltweit vor. Hauptsymptome der ALS sind eine zunehmende Muskelschwäche an Armen und Beinen sowie Probleme beim Sprechen und Schlucken. Diese Symptome schreiten häufig relativ schnell innerhalb weniger Jahre voran. Die Abkürzung für Amyotrophe Lateralsklerose ist ALS. Die Krankheit ALS hat nichts mit MS (Multiple Sklerose) zu tun, es handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Erkrankungen.

Pro Jahr erkranken etwa ein bis zwei von 100.000 Personen an ALS. Die Krankheit beginnt meistens zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, nur selten sind jüngere Erwachsene betroffen. Männer erkranken etwas öfter als Frauen (1,6:1). Die Häufigkeit der ALS scheint weltweit etwas zuzunehmen. Das Krankheitstempo ist bei den einzelnen Patienten sehr unterschiedlich, die Lebenserwartung ist verkürzt.

Die ALS betrifft nahezu ausschließlich das motorische Nervensystem. Die Empfindung für Berührung, Schmerz und Temperatur, das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken, die Funktionen von Blase und Darm bleiben in den meisten Fällen normal. Das motorische System, das unsere Muskeln kontrolliert und die Bewegungen steuert, erkrankt sowohl in seinen zentralen („oberes oder 1. Motorisches Neuron“ im Gehirn mit Pyramidenbahn bis ins Rückenmark) als auch in seinen peripheren Anteilen („unteres oder 2.

Lesen Sie auch: Lesen Sie mehr über obere motorische Neuronreflexe

Die Erkrankung der motorischen Nervenzellen im Rückenmark und ihren Fortsätzen zur Muskulatur führt zu unwillkürlichen Muskelzuckungen (Faszikulationen), Muskelschwund (Atrophie) und zu Muskelschwäche (Paresen) an Armen und Beinen und auch in der Atemmuskulatur. Welche Symptome zeigt die ALS? Die ersten Symptome der Krankheit können bei den einzelnen Betroffenen an unterschiedlichen Stellen auftreten. Muskelschwund und -schwäche können sich z.B. zunächst nur in der Hand- und Unterarmmuskulatur einer Körperseite zeigen, bevor sie sich auf die Gegenseite und auf die Beine ausdehnen. Seltener ist ein Beginn in der Unterschenkel- und Fußmuskulatur oder in der Oberarm- und Schultermuskulatur. Bei einem Teil der Erkrankten treten erste Symptome im Bereich der Sprech-, Kau- und Schluckmuskulatur auf (Bulbärparalyse). Sehr selten äußern sich die ersten Symptome in Form von spastischen Lähmungen. Schon in den Frühstadien der ALS wird häufig über unwillkürliche Muskelzuckungen (Faszikulationen) und schmerzhafte Muskelkrämpfe geklagt.

In der Regel schreitet die Krankheit über Jahre gleichmäßig langsam fort, dehnt sich auf weitere Körperregionen aus und führt zu einer zunehmenden Atemschwäche. Die Lebenserwartung ist im Mittel auf drei bis vier Jahre verkürzt.

Therapie der ALS

Therapeutisch ist in Deutschland das Medikament Riluzol zugelassen, zudem gibt es seit 2017 u.a. in den USA, der Schweiz und Korea eine Zulassung für das Medikament Edaravone (nicht in der EU). Daneben gibt es eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten, um einzelne Symptome der Erkrankung, wie z.B. Muskelkrämpfe oder vermehrten Speichelfluss, abzumildern. Neue Therapien werden aktuell in klinischen Studien untersucht. Die Versorgung von Patienten mit einer ALS sollte in einem multidisziplinären Team unter Einbindung einer Spezialambulanz erfolgen.

Spinale Muskelatrophie (SMA)

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine erbliche Motoneuronerkrankung, die häufig schon im frühen Kindesalter beginnt. Es gibt allerdings auch Verlaufsformen, die erst im frühen Erwachsenenalter zu ersten Symptomen führen. Dabei kommt es zu einer fortschreitenden schlaffen Muskelschwäche an Armen und Beinen. Bei der klassischen Form der SMA (Deletion des SMN1-Gens) gibt es inzwischen die Möglichkeit, mit spezifischen Medikamenten die Erkrankung auch kausal zu behandeln mit der Hoffnung, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen.

Andere Formen

Neben ALS und SMA gibt es noch weitere, seltenere Formen von Motoneuronerkrankungen, wie z.B. die spastische Spinalparalyse (SSP), die progressive Muskelatrophie (PMA) und die primäre Lateralsklerose (PLS). Diese Erkrankungen haben jeweils eigene charakteristische Merkmale und Verläufe.

Lesen Sie auch: Erfahrungsbericht Myford Umbau

Diagnose von Motoneuronerkrankungen

Die Diagnostik von Motoneuronerkrankungen erfordert eine gute Abgrenzung zu anderen Erkrankungen mit einem ähnlichen Erscheinungsbild. Dabei ist vor allem die sorgfältige klinisch-neurologische Untersuchung durch einen Experten wichtig.

Wie wird die ALS diagnostiziert? Zuständig für die Diagnosestellung der Krankheit ist der Neurologe. Der Patient wird zunächst klinisch untersucht, insbesondere muss die Muskulatur im Hinblick auf Muskelschwund und Kraft sowie Faszikulationen beurteilt werden. Ebenso ist eine Beurteilung von Sprache, Schluckakt und Atemfunktion wichtig. Die Reflexe müssen geprüft werden. Darüber hinaus müssen andere Funktionen des Nervensystems, die von der ALS üblicherweise nicht betroffen sind, untersucht werden, um ähnliche, aber ursächlich unterschiedliche Erkrankungen zu erkennen (sog. ALS-Mimics) und um Fehldiagnosen zu vermeiden. Der Ausschluss anderer Erkrankungen ist wegen der meist besseren Prognose und Behandelbarkeit unbedingt notwendig.

Eine wichtige Zusatzuntersuchung ist die Elektromyographie (EMG), die den Befall des unteren Motoneurons auch in klinisch noch normal erscheinenden Muskeln beweisen kann. Untersuchungen der motorischen und sensiblen Nervenleitung dienen der Abgrenzung zu Erkrankungen der peripheren Nerven (Neuropathien), z.B. der klinisch zu Beginn täuschend ähnlichen multifokalen motorischen Neuropathie (MMN). Zusätzlich zum EMG wird zunehmend der neuromuskuläre Ultraschall eingesetzt, mit dem schmerzfrei Faszikulationen und Muskelatrophien erfasst werden können. Außerdem sind umfassende Untersuchungen des Blutes und des Urins notwendig, insbesondere um immunologische oder andere entzündliche Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und hormonelle Störungen (z.B. Schilddrüse) auszuschließen. Bei der Erstdiagnostik ist auch eine Untersuchung des Nervenwassers (Liquor) sinnvoll. Derzeit wird intensiv nach sogenannten Biomarkern gesucht, mit deren Hilfe früh im Blut oder Nervenwasser die Diagnose gestützt werden kann. Bereits frühzeitig sind bei der ALS erhöhte Neurofilament-Konzentrationen in Liquor und Serum nachweisbar, dies ist jedoch nicht spezifisch für die ALS, sondern kommt auch bei anderen neurologischen Erkrankungen vor. Eine Muskelgewebe-Untersuchung ist im Regelfall nicht erforderlich und wird nur für diagnostisch besonders schwierige Fälle empfohlen zur Abgrenzung anderer neuromuskulärer Erkrankungen. Bildgebende Untersuchungen gehören ebenfalls zur Diagnostik. Eine Kernspintomographie (MRT) des Kopfes und der Hals-, Brust- oder Lendenwirbelsäule (je nach dem Ort des Beginns der Symptome) ist Standard, zusätzliche Röntgenuntersuchungen, z.B. vom Brustkorb oder der Wirbelsäule, können notwendig werden. Eine genetische Untersuchung aus dem Blut ist vor allem sinnvoll bei besonders frühem Beginn der Krankheit oder wenn andere ähnliche Fälle in der Familie bekannt sind. Mit dem Aufkommen neuer Behandlungsmöglichkeiten für einige häufige Formen der genetisch bedingten ALS gewinnt diese Diagnostik aber auch darüber hinaus an Bedeutung. In der Regel empfiehlt sich für die Erstdiagnostik der Krankheit ein kurzer stationärer Aufenthalt.

Differentialdiagnose

Es ist wichtig, Motoneuronerkrankungen von anderen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen abzugrenzen. Dazu gehören beispielsweise:

  • Multiple Sklerose (MS)
  • Polyneuropathien
  • Myopathien
  • Andere neurologische Erkrankungen

Therapie von Motoneuronerkrankungen

Therapeutisch gibt es bislang nur bei sehr wenigen Motoneuronerkrankungen eine kausale Behandlung. Daher ist die sichere Diagnosestellung entscheidend. Es gibt darüber hinaus zahlreiche effektive symptomatische Therapien, um die Beschwerden wie z.B. Schmerzen, Muskelkrämpfe und Bewegungseinschränkungen zu mildern. Wichtig ist daneben das frühzeitige Erkennen und die Behandlung von nächtlichen Atemstörungen und von Schluckstörungen. Dabei kommen neben Medikamenten und Physiotherapie/Logopädie auch Hilfsmittel wie eine nächtliche Heimbeatmung, Ernährungssonden, Orthesen und Roboter zum Einsatz.

Leider gibt es noch keine Therapie, die Motoneuron-Erkrankungen heilen kann. In einigen Fällen kann eine medikamentöse Behandlung den Verlauf der Erkrankung verzögern. Der symptomatischen Therapie von Lähmungen, Schluck-, Sprech- und Atemstörungen kommt eine wichtige Rolle zu. Neben medikamentösen Maßnahmen sind Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie notwendig, die ambulant durchgeführt werden können. Im Rahmen des Neuromuskulären Zentrums ist eine kostenfreie ergotherapeutische und psychosoziale Beratung verfügbar.

Medikamentöse Therapie

Bei einigen Formen von Motoneuronerkrankungen, wie z.B. der spinalen Muskelatrophie (SMA), gibt es inzwischen Medikamente, die kausal wirken und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen können. Bei der ALS ist in Deutschland das Medikament Riluzol zugelassen, das die Überlebenszeit verlängern kann. Zudem gibt es seit 2017 u.a. in den USA, der Schweiz und Korea eine Zulassung für das Medikament Edaravone (nicht in der EU).

Symptomatische Therapie

Die symptomatische Therapie zielt darauf ab, die Beschwerden der Patienten zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Dazu gehören:

  • Physiotherapie: Zur Erhaltung der Muskelkraft und Beweglichkeit
  • Ergotherapie: Zur Anpassung des Wohnumfelds und zur Erlernung von Kompensationsstrategien
  • Logopädie: Zur Verbesserung der Sprech- und Schluckfunktion
  • Atemtherapie: Zur Unterstützung der Atmung
  • Schmerztherapie: Zur Linderung von Schmerzen und Muskelkrämpfen
  • Hilfsmittelversorgung: Z.B. Rollstühle, Orthesen, Kommunikationsgeräte

Multidisziplinäre Betreuung

Die Versorgung von Patienten mit einer Motoneuronerkrankung sollte in einem multidisziplinären Team unter Einbindung einer Spezialambulanz erfolgen. Dieses Team kann aus Neurologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Atemtherapeuten, Psychologen und Sozialarbeitern bestehen.

Leben mit einer Motoneuronerkrankung

Die Diagnose einer Motoneuronerkrankung ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen oft ein Schock. Die Erkrankung führt zu fortschreitenden Einschränkungen und Veränderungen im Alltag. Es ist wichtig, sich frühzeitig mit der Erkrankung auseinanderzusetzen und sich professionelle Unterstützung zu suchen.

Unterstützungsmöglichkeiten

Es gibt verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen mit Motoneuronerkrankungen und ihre Angehörigen:

  • Selbsthilfegruppen: Zum Austausch mit anderen Betroffenen
  • Patientenorganisationen: Z.B. die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM)
  • Beratungsstellen: Für psychosoziale und sozialrechtliche Fragen
  • Pflegedienste: Für die häusliche Pflege
  • Hospize: Für die palliative Versorgung

Unsere Spezialsprechstunde für Motoneuron-Erkrankungen ist Teil des Neuromuskulären Zentrums der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM). Patientinnen und Patienten mit einer vermuteten oder bereits gesicherten Motoneuron-Erkrankung bieten wir umfassende Unterstützung an. Dies beinhaltet die ausführliche Beratung im Hinblick auf die Erkrankung, aber auch auf ihre psychosozialen Folgen.

Forschung zur ALS

Weltweit wird sehr intensiv an der Erforschung der Ursachen der ALS und zum Thema Frühdiagnostik gearbeitet. Auch deutsche Forschergruppen, die dem Medizinisch-Wissenschaftlichen Beirat der DGM angehören, sind in diesem Bereich aktiv und haben beste internationale Kontakte. Vielen ist die Ice Bucket Challenge, eine Benefizaktion, die 2014 um die Welt ging, noch ein Begriff.

tags: #motor #neurone #disease #definition #German