Motorische Unruhe, auch als Bewegungsdrang oder Agitiertheit bekannt, ist ein häufiges und herausforderndes Symptom bei Menschen mit Demenz. Sie äußert sich in einem gesteigerten Bewegungsbedürfnis, das von ziellosem Umherwandern bis hin zu nestelnden oder zupfenden Bewegungen reichen kann. Obwohl Bewegung grundsätzlich positiv für die körperliche und geistige Gesundheit ist, kann ein exzessiver Bewegungsdrang bei Demenz zu verschiedenen Problemen führen. Dazu gehören unter anderem Sturzgefahr, Gewichtsverlust, soziale Konflikte und eine erhöhte Belastung für die Betroffenen selbst sowie für ihre Angehörigen und Pflegekräfte.
Ursachen der motorischen Unruhe
Die Ursachen für motorische Unruhe bei Demenz sind vielfältig und komplex. Sie können in biologische, psychologische und umweltbedingte Faktoren unterteilt werden.
Biologische Ursachen
- Neurodegenerative Veränderungen im Gehirn: Demenz führt zu einem fortschreitenden Abbau von Nervenzellen und -verbindungen im Gehirn. Dies betrifft insbesondere Regionen, die für die Steuerung von Bewegung, Kognition und Emotionen zuständig sind. Die dadurch entstehenden Funktionsstörungen können sich in motorischer Unruhe äußern.
- Ungleichgewicht von Neurotransmittern: Bei Demenz kann es zu einem Ungleichgewicht von Neurotransmittern wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin kommen. Diese Botenstoffe spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation von Stimmung, Antrieb und Verhalten. Eine Dysregulation kann zu Unruhe, Angst und Agitiertheit führen.
- Schmerzen und körperliches Unwohlsein: Menschen mit Demenz können oft nicht mehr klar äußern, wenn sie Schmerzen oder andere körperliche Beschwerden haben. Diese können sich dann in Form von Unruhe und Bewegungsdrang äußern. Mögliche Ursachen sind beispielsweise Harnwegsinfekte, Verstopfung, Juckreiz oder schlecht sitzende Zahnprothesen.
- Medikamente: Einige Medikamente können als Nebenwirkung oder entgegen der erwarteten beruhigenden Wirkung zum Gegenteil führen und Bewegungsdrang auslösen.
Psychologische Ursachen
- Einsamkeit und Langeweile: Wenn Menschen mit Demenz sich einsam und gelangweilt fühlen, kann dies zu Unruhe und dem Bedürfnis nach Beschäftigung führen. Sie suchen dann möglicherweise nach Kontakt und Anregung, indem sie umherlaufen oder andere Aktivitäten ausüben.
- Neugier und Erkundungsdrang: Einige Betroffene sind von Natur aus unternehmungslustig und wissbegierig. Sie erkunden daher ihnen neu oder fremd erscheinende Umgebungen.
- Verunsicherung und Angst: Die nachlassende Kommunikationsfähigkeit und Orientierung kann bei Menschen mit Demenz zu Verunsicherung und Angst führen. Sie meiden dann möglicherweise Gruppensituationen und beschäftigen sich stattdessen mit etwas, das sie noch fehlerfrei beherrschen - nämlich dem Laufen.
- Hinlaufen und Weglaufen: Manchmal haben Menschen mit Demenz ein Ziel vor Augen - sie laufen gewissermaßen zu etwas hin. Der Bewegungsdrang ist in diesem Fall als Suche nach etwas zu verstehen, was Geborgenheit und Sicherheit, quasi eine „heile Welt“ verspricht. Dabei kann es sich um eine geliebte Person, wie beispielsweise die Mutter oder die kleinen Kinder, oder auch um ein früheres Zuhause (oft das Elternhaus) oder sogar den ehemaligen Arbeitsplatz handeln. Manch ein Mensch mit Demenz will weglaufen, weil er sich unwohl oder überfordert fühlt und ihm alles um ihn herum fremd und bedrohlich erscheint.
- Frustration und Überforderung: Im Alltag von Menschen mit Demenz kommt es immer wieder zu Überforderungssituationen, die Frustration oder Angst auslösen können. Sie reagieren dann oft ungeduldig, gereizt oder verärgert.
Umweltbedingte Ursachen
- Reizüberflutung: Eine Umgebung mit zu vielen Reizen, wie Lärm, Hektik oder visuelle Unordnung, kann Menschen mit Demenz überfordern und zu Unruhe führen.
- Mangelnde Struktur und Routine: Ein unstrukturierter Tagesablauf ohne feste Rituale kann bei Menschen mit Demenz zu Orientierungslosigkeit und Unsicherheit führen, was sich in Unruhe äußern kann.
- Ungeeignete Wohnumgebung: Eine Wohnumgebung, die nicht den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz entspricht, kann zu Unruhe und Angst führen. Dies betrifft beispielsweise Stolperfallen, fehlende Orientierungshilfen oder eine unübersichtliche Gestaltung.
Umgang und Behandlung von motorischer Unruhe
Der Umgang mit motorischer Unruhe bei Demenz erfordert ein ganzheitliches und individuelles Vorgehen. Ziel ist es, die Ursachen zu erkennen und zu behandeln, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen zu verbessern.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten immer die erste Wahl bei der Behandlung von motorischer Unruhe sein. Sie umfassen verschiedene Ansätze, die darauf abzielen, die Lebensumstände der Betroffenen zu verbessern und ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
- Ursachenforschung: Es ist wichtig, die individuellen Ursachen für die motorische Unruhe zu erkennen. Dies erfordert eine sorgfältige Beobachtung des Verhaltens der Betroffenen sowie Gespräche mit Angehörigen und Pflegekräften. Dabei sollten sowohl biologische, psychologische als auch umweltbedingte Faktoren berücksichtigt werden.
- Anpassung der Wohnumgebung: Die Wohnumgebung sollte so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz entspricht. Dazu gehören beispielsweise das Entfernen von Stolperfallen, das Anbringen von Handläufen, eine gute Beleuchtung und eine übersichtliche Gestaltung. Auch eine vertraute und beruhigende Atmosphäre kann helfen, Unruhe zu reduzieren.
- Strukturierung des Tagesablaufs: Ein strukturierter Tagesablauf mit festen Ritualen kann Menschen mit Demenz Sicherheit und Orientierung geben. Dazu gehören regelmäßige Mahlzeiten, Schlafzeiten und Aktivitäten. Auch der Wechsel von Aktivität und Ruhephasen ist wichtig.
- Beschäftigung und Aktivierung: Eine sinnvolle Beschäftigung und Aktivierung kann helfen, Langeweile und Einsamkeit zu vermeiden und die kognitiven und motorischen Fähigkeiten zu erhalten. Geeignete Aktivitäten sind beispielsweise Spaziergänge, leichte Gymnastik, Singen, Tanzen, Malen oder handwerkliche Tätigkeiten. Auch biografisch verankerte Tätigkeiten, die den Charakter von Arbeit haben (und deshalb als sinnvoll erlebt werden) können zeitweise das Laufen unterbrechen.
- Soziale Kontakte: Regelmäßige soziale Kontakte können helfen, Einsamkeit und Isolation zu vermeiden. Dazu gehören Gespräche, Besuche von Angehörigen und Freunden oder die Teilnahme an Gruppenaktivitäten.
- Validation: Die Validation ist eine Kommunikationsmethode, die darauf abzielt, die Gefühle und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz anzuerkennen und zu respektieren. Dies kann helfen, Ängste und Frustrationen abzubauen und das Selbstwertgefühl zu stärken.
- Aromatherapie und Musiktherapie: Aromatherapie mit beruhigenden Düften wie Lavendel oder Vanille sowie sanfte Musik können eine entspannende Wirkung haben und Unruhe reduzieren.
- Bewegung ermöglichen: Spaziergänge, Tanzen oder leichte Gymnastik sind gut geeignet, um den Bewegungsdrang zu kanalisieren. Einen sicheren Rahmen für den Bewegungsdrang schaffen.
- Grundbedürfnisse sichern: Essen, trinken, schlafen, Toilettengänge sowie liebevolle Zuwendung sind wichtig.
- Schmerzen erkennen und gezielt behandeln.
- Kleine Aufgaben zur Selbstwirksamkeit geben und dafür danken.
- Den Menschen beobachten und individuelle Entspannungssituationen erkennen.
Medikamentöse Behandlung
Eine medikamentöse Behandlung sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn die nicht-medikamentösen Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind und die motorische Unruhe zu einer erheblichen Belastung für die Betroffenen oder ihre Umgebung führt.
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- Antidementiva: Antidementiva wie Donepezil, Galantamin, Rivastigmin und Memantin können bei einigen Menschen mit Demenz auch positive Auswirkungen auf Verhaltenssymptome wie Unruhe haben.
- Antidepressiva: Bei depressiven Verstimmungen, die mit Unruhe einhergehen, können Antidepressiva wie Citalopram oder Trazodon helfen.
- Neuroleptika: Neuroleptika wie Risperidon, Olanzapin oder Quetiapin können bei starker Agitiertheit und Aggressivität eingesetzt werden. Allerdings sollten sie aufgrund ihrer potenziellen Nebenwirkungen nur kurzfristig und in niedriger Dosierung verwendet werden. Bei Demenz mit Lewy-Körperchen sind Clozapin und Quetiapin ohne Verschlechterung der Parkinsonsymptomatik geeignet.
- Benzodiazepine: Benzodiazepine wie Oxazepam oder Lorazepam können in akuten Situationen zur Beruhigung eingesetzt werden. Allerdings sollten sie aufgrund ihres Abhängigkeitspotenzials und des erhöhten Sturzrisikos nur kurzfristig und mit Vorsicht angewendet werden.
- Pflanzliche Präparate: Pflanzliche Präparate wie Baldrian, Melisse oder Lavendel können bei leichter Unruhe eine beruhigende Wirkung haben.
Weitere unterstützende Maßnahmen
- Pflegekurse und Beratung für Angehörige: Pflegekurse und Beratungsangebote können Angehörigen helfen, den Umgang mit Menschen mit Demenz besser zu verstehen und zu erlernen. Sie erhalten Informationen über die Erkrankung, den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und Möglichkeiten der Entlastung.
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann Angehörigen helfen, sich mit ihren Erfahrungen nicht allein zu fühlen und Unterstützung zu finden.
- Professionelle Unterstützung: In schwierigen Situationen kann es hilfreich sein, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Dies kann beispielsweise durch einen ambulanten Pflegedienst, eine Tagespflegeeinrichtung oder ein stationäres Pflegeheim erfolgen. Auch eine psychologische Beratung oder Therapie kann für die Betroffenen und ihre Angehörigen hilfreich sein.
- Einsatz von Ortungssystemen: Der Einsatz von Ortungssystemen wie GPS-Trackern ist ethisch umstritten; versorgende Personen befürworten den Einsatz teilweise. Immer wieder hören wir von besorgten Angehörigen, dass ihre Liebsten unruhig sind, rastlos im Haushalt umherlaufen und manchmal sogar das Haus verlassen haben, ohne zurückzufinden. Auch in den Medien gibt es immer wieder Meldungen über ältere Menschen, die vermisst werden - nicht selten mit tragischen Folgen.
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