Der Mozart-Effekt und Epilepsie: Mythos oder Realität?

Die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Aufmerksamkeit erfahren, insbesondere im Hinblick auf ihre potenziellen Auswirkungen auf verschiedene Bereiche, von der Intelligenzsteigerung bis hin zur Linderung von Epilepsiesymptomen. Der sogenannte "Mozart-Effekt" hat in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle gespielt, insbesondere die Berichte über positive Effekte der Sonate KV448 auf Epilepsiesymptomatiken. Doch wie belastbar sind diese Behauptungen wirklich?

Die Ursprünge des Mozart-Effekts

Der Ursprung des Mozart-Effekts lässt sich auf eine Studie aus dem Jahr 1993 zurückführen, die erstmals die Vermutung aufwarf, dass das Hören der Sonate in D-Dur für zwei Klaviere (KV 448) von Wolfgang Amadeus Mozart für eine bessere visuell-räumliche Verarbeitung sorgt und somit auch einen positiven Einfluss auf unseren IQ hat. Diese Beobachtung führte zu Spekulationen über eine mögliche Steigerung der Intelligenz von Erwachsenen, Kindern oder sogar Föten im Mutterleib durch das Hören von Mozarts Musik. Es wurde sogar behauptet, dass Kühe mehr Milch geben und Bakterien in Kläranlagen ihre Arbeit besser verrichten würden, wenn sie Mozarts Kompositionen hören. Allerdings hat die Mehrheit dieser vorgeblichen Effekte keinerlei wissenschaftliche Grundlage.

Ein gemeinsamer Ursprung dieser Ideen lässt sich auf die längst widerlegte Beobachtung einer vorübergehenden Leistungszunahme von Studierenden in Raumvorstellungstests nach dem Hören des ersten Satzes allegro con spirito von Mozarts Sonate KV448 in D-Dur zurückführen. Rasch und unbegründet wurden die Ergebnisse der Untersuchung auf Intelligenz im Allgemeinen übertragen. Nach dem Artikel hat sich die Vorstellung von einem Mozarteffekt wie ein Lauffeuer verbreitet. In Florida wurden irgendwann sogar nur noch Kindertagesstätten gefördert, in denen mindestens eine Stunde am Tag Mozart lief. Es wurden weitere Untersuchungen veröffentlicht, die den Mozarteffekt bei Pflanzen oder Tieren beschrieben haben. Solche Untersuchungen hatten zwar keine wissenschaftliche Basis, wurden aber trotzdem weiterverbreitet.

Der Mozart-Effekt und Epilepsie: Neue Forschungsergebnisse

In jüngster Zeit erfuhr dieser Mozart-Effekt eine weitere Variation: Einige Studien berichteten von Symptomlinderungen bei Epilepsiepatienten, nachdem diese KV448 gehört hatten. Epileptische Anfälle sind normalerweise zeitlich begrenzt. Bei vielen Patienten treten aber auch zwischen den Anfällen interiktale epileptiforme Entladungen (IED) auf, die in einer normalen Elektroenzephalografie (EEG) aufgezeichnet werden können. Die IED lassen sich auch durch Musik beeinflussen. Eine besonders gute Wirkung erzielt die Sonate für zwei Klaviere in D-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart, was nach der Nummer im Köchel-Verzeichnis auch als „Mozart K448“-Effekt bezeichnet wird. Frühere Studien haben gezeigt, dass der Effekt die Anfallsfrequenz senken kann.

Eine neue Forschungsarbeit, an der unter anderem die Klinik für Neurologie in Hannover beteiligt war, führte nun mehrere Versuche mit Epilepsie-Patienten und Epilepsie-Patientinnen, bei denen bisher kein Medikament angeschlagen hat, durch. Bei der Krankheit Epilepsie senden die Nervenzellen zu viele Signale gleichzeitig, dies führt unter anderem zu Krampfanfällen. Den Probanden wurden verschiedene Ausschnitte von Stücken, zwischen 15 und 90 Sekunden, vorgespielt und dabei wurden ihre Hirnaktivitäten beobachtet. Es zeigte sich, dass sich ab einer Hördauer von 30 Sekunden eine beruhigende Wirkung einstellt. Die Anzahl der Ausschläge in der Hirnstromableitung reduzierte sich um 66,5%. Das heißt, dass die für die Krankheit typischen Erregungszustände im Gehirn deutlich weniger werden und somit Symptome gelindert werden könnten. Die Auswirkungen waren am stärksten im rechten und linken präfrontal Kortex, das sind die Regionen im Gehirn, die für die emotionalen Reaktionen verantwortlich sind. Musik weckt in uns immer bestimmte Emotion. Die Untersuchung zeigte, dass der Effekt vor allem mit dem Vermitteln von positiven Gefühlen zu tun hat. Diese Gefühle scheinen beim Zuhörer eher bei besonders melodischen Stücken, wie Mozarts erwähnte Sonate, ausgelöst zu werden. Bei anderen, weniger melodischen Titeln, wie zum Beispiel Wagners Vorspiel zum ersten Akt der Oper "Lohengrin", konnten die Forscher den Effekt weniger oder gar nicht beobachten.

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Robert Quon von der Geisel School of Medicine und Mitarbeiter haben den Effekt an 16 Erwachsenen untersucht, bei denen wegen einer medikamentenresistenten Epilepsie ein intrakranielles EEG abgeleitet wurde (Scientific Reports, DOI: 10.1038/s41598-021-95922-7). Dabei werden die Elektroden nach der Eröffnung der Schädelkalotte direkt auf dem Cortex platziert. Die Forscher haben den Patienten verschiedene Musikstücke in der Länge von 30 und 90 Sekunden vorgespielt. Die meisten Stücke zeigten keine Wirkung. Ganz anders bei der Sonate K448: Schon nach 30 Sekunden kam es zu einer deutlichen Verminderung der IED um durchschnittlich 66,5 Prozent.

Das zweite erstaunliche Resultat dieser Studie war zudem, dass man genau diese Wirkung mit keinem anderen Musikstück erzielen konnte. Keine Wirkung zeigte sich auch bei einer Version der Mozartsonate, bei der das Team die tiefen Frequenzen und vor allem den Gamma-Frequenzbereich um 40 Hertz herausgefiltert hatte. „Aber ungeachtet dessen belegen unsere Ergebnisse für die veränderte Sonate sowie für ähnliche und bevorzugte Musikstücke mit ähnlichen Frequenzstrukturen, dass Mozarts Komposition etwas Spezielles an sich haben muss“, schreiben die Wissenschaftler. Irgendetwas am Aufbau dieser Sonate und ihren Melodieabfolgen oder Harmonien scheint speziell auf Epilepsie zu wirken.

Beim Hören der Mozartsonate mehrten sich in diesen Hirnarealen die langsamen Thetawellen, wie die Forschenden feststellten. Dieses Wellenmuster tritt normalerweise auf, wenn wir tiefenentspannt oder im Dämmerschlaf sind. Auffallend auch: Anders als viele andere Musikstücke ist der Anfang der Mozartsonate aus mehreren kontrastierenden musikalischen Themen mit jeweils eigenen Harmonien aufgebaut. Nach Ansicht von Quon und seinen Kollegen könnten diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass die spezielle musikalische Struktur der Mozartsonate KV448 eine wichtige Rolle für ihre epilepsielindernde Wirkung spielt. Möglicherweise löst sie unbewusste emotionale Reaktionen aus, die dann im Frontalhirn die dämpfenden Thetawellen fördern. Als nächstes wollen die Forschenden nun testen, ob sie gezielt Musikstücke produzieren können, die die wirksamen Strukturen der Mozartsonate aufweisen. Das könnte dabei helfen, die für diese Wirkung nötigen Strukturen zu identifizieren und auf dieser Basis dann eine gezieltere Musiktherapie zu entwickeln.

Die Forscher vermuten, dass der relativ konstant wiederholte Sechzehntel-Rhythmus, der in der verwendeten Aufnahme etwa 128 Schlägen pro Minute entsprach, einen Einfluss haben könnte. Auch die klassische Sonatenform könnte von Bedeutung sein.

Kritische Betrachtung des Mozart-Effekts

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse einiger Studien ist es wichtig, den Mozart-Effekt kritisch zu betrachten. Eine neue umfassende Forschungssynthese von Sandra Oberleiter und Jakob Pietschnig von der Universität Wien zeigte anhand der gesamten verfügbaren wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema, dass es keine belastbaren Nachweise zu einem solchen positiven Effekt von Mozarts Musik auf Epilepsie gibt: Zurückzuführen ist dieser angebliche Mozart-Effekt auf selektive Berichte, zu kleine Stichproben und inadäquate Forschungspraktiken in diesem Literaturkorpus.

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Die Psychologin Sandra Oberleiter war an einer Metastudie zum sogenannten Mozarteffekt bei Epilepsie beteiligt. Sie sagt, dass die untersuchten Einzelstudien eigentlich nicht aussagekräftig waren. "Die Studien basieren auf wahnsinnigen kleinen Stichproben. Die Ergebnisse sind deshalb nicht robust. Zweitens sind die Studiendesigns auch nicht modern." Insgesamt ist die Zahl der Untersuchungen um die Mozarthypothese herum recht übersichtlich. Erst eine Vielzahl von Zitierungen und die Auswertung in Medien habe dem sogenannten Mozarteffekt eine Form von Autorität verliehen, sagt Sandra Oberleiter. Die wackeligen und mit fragwürdigen Methoden erlangten Ergebnisse der Ursprungsuntersuchung von 1993 seien über die Zeit in den Hintergrund getreten. "Es ist ein Effekt, der super gut klingt. Und natürlich wäre das auch wünschenswert, wenn einfach das Hören einer Mozart-Sonate intelligenter machen würde."

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