Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems, die weltweit Millionen Menschen betrifft. Obwohl es moderne Therapien gibt, bleiben viele Symptome wie Spastiken, Schmerzen und Erschöpfung schwer zu behandeln. In den letzten Jahren hat medizinisches Cannabis zunehmend an Bedeutung gewonnen - als ergänzende Behandlungsoption bei MS.
Multiple Sklerose: Eine komplexe Erkrankung
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem körpereigene Nervenzellen angreift. Dies führt zu Entzündungen und Vernarbungen an den Myelinscheiden, den schützenden Hüllen der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark. Die genaue Ursache der MS ist bis heute unbekannt. Die Erkrankung wird auch als "Krankheit der 1000 Gesichter" bezeichnet, da die neurologischen Symptome je nach betroffenem Gebiet stark variieren können. Häufige Symptome im Anfangsstadium sind Sensibilitäts- und Sehstörungen, Muskellähmungen, Blasenstörungen, extreme Müdigkeit und Spastiken. Im fortgeschrittenen Stadium kann die Erkrankung zu dauerhaften Behinderungen führen.
Medizinisches Cannabis: Definition und Wirkungsweise
Medizinisches Cannabis bezeichnet Arzneimittel auf Basis der Cannabispflanze, die bestimmte Anforderungen an Qualität und Reinheit erfüllen. Die Hauptwirkstoffe sind Cannabinoide, insbesondere Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Diese ähneln körpereigenen Endocannabinoiden und wirken auf das Endocannabinoid-System (ECS), ein Netzwerk aus Rezeptoren, das verschiedene Körperfunktionen reguliert.
Einsatz von Cannabis bei MS-Symptomen
Studien und Erfahrungsberichte legen nahe, dass Cannabinoide gezielt MS-Symptome lindern können.
Spastik
Über 80 % der MS-Betroffenen leiden unter Spastiken, schmerzhaften Muskelverkrampfungen, die die Bewegungen einschränken. Mehrere placebokontrollierte Studien zeigen, dass Cannabispräparate wie Nabiximols (z. B. Sativex®) die Spastik signifikant reduzieren und gleichzeitig die Schlafqualität verbessern können. In einer Studie mit 630 MS-Patienten mit schwerer Spastik (Ashworth-Skala >2 in >2 Muskelgruppen) erhielten die Teilnehmer über 15 Wochen entweder ein Cannabisprodukt oder ein Placebo. Diejenigen, die Cannabisprodukte (Dronabinol oder Cannador) einnahmen, zeigten signifikant deutlichere Verbesserungen der Spastizität und Schlafqualität im Vergleich zu denjenigen, die ein Placebo erhielten.
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Schmerzen
MS geht häufig mit neuropathischen Schmerzen einher, die durch Nervenschäden verursacht werden und oft schlecht auf klassische Schmerzmittel ansprechen. Cannabinoide beeinflussen Schmerzrezeptoren im Gehirn und Rückenmark und können dadurch Schmerzsignale abschwächen. Viele Patienten berichten auch von einer positiven Wirkung auf chronische Erschöpfung (Fatigue) sowie auf depressive Verstimmungen. Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie aus dem Jahr 2005 zeigte, dass die Interventionsgruppe, die durchschnittlich 26 mg THC (Nabiximol) pro Tag einnahm, nach 4 Wochen eine 41%ige Reduktion der Schmerzen (gegenüber einer 22%igen Reduktion in der Placebogruppe) erzielte.
Auswahl und Anwendung von Cannabispräparaten
Die Auswahl des geeigneten Präparats hängt vom Symptombild, der gewünschten Wirkung und dem individuellen Verträglichkeitsprofil ab. Besonders wirksam bei MS haben sich Kombinationen aus THC und CBD im Verhältnis von 1:1 oder 2:1 gezeigt.
Verfügbare Cannabis-Produkte:
- Sativex®: Ein Cannabisextrakt als Mundspray, der eine Kombination aus THC und Cannabidiol (CBD) enthält. Er ist speziell für die symptomatische Therapie der Spastik bei MS zugelassen.
- Medizinische Cannabisblüten: In verschiedenen Sorten mit unterschiedlichen Gehalten an THC und CBD erhältlich. Die Blüten können schonend verdampft inhaliert (z. B. mittels Vaporizer) oder zu Extrakten weiterverarbeitet werden.
- Cannabisextrakt: Wird aus den Blüten gewonnen und kann als Öl oder in anderen Darreichungsformen verabreicht werden. Vorteilhaft ist hierbei die kontrollierbare Dosierung.
- Dronabinol, THC, CBD, Nabilon: Dies sind weitere synthetische oder natürliche Cannabinoide, die in verschiedenen Präparaten enthalten sein können.
Mögliche Nebenwirkungen und Risiken
Wie jedes Medikament kann auch medizinisches Cannabis Nebenwirkungen verursachen. Häufige Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Benommenheit, Desorientiertheit, Gleichgewichtsstörungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. In seltenen Fällen können psychiatrische Symptome wie Angst oder Halluzinationen auftreten, insbesondere bei höheren Dosen von THC. Im medizinischen Rahmen unter ärztlicher Aufsicht gilt das Abhängigkeitspotenzial als gering.
Warnen muss man ausdrücklich vor dem Autofahren unter Einfluss von Cannabinoiden. Cannabis hat und auch Sativex kann Einfluss auf die Aufmerksamkeit haben. Das Lenken von Fahrzeugen oder Maschinen unterliegt zwar dem eigenen Ermessen (ähnlich wie beim Alkoholkonsum) und es kann nach ein paar Wochen ein Gewöhnungseffekt eintreten, der einen wieder konzentrierter macht, doch was im Zweifel, also im Fall eines Unfalles oder auffälliger Fahrweise etwa, zählt, ist eine individuelle Entscheidung der beteiligten Behörden. Und: Cannabinoide sind mehrere Tage im Blut nachweisbar, d.h. auch Tage nach der Einnahme von Cannabis kann eine Kontrolle ein "Zuviel" ergeben. Bisher gilt noch der Grenzwert von 1,0 ng/ ml THC im Blut. Diskutiert wird derzeit die Anhebung auf z. B. 3,5 ng/ml.
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Dazu kommt, dass Alkohol und jegliche Art von Cannabinoiden eine "schlechte" Mischung sind. Alkohol, aber auch Medikamente wie Tranquilizer oder Muskelrelaxanzien und Cannabinoide verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung und Nebenwirkung. Bei einer dauerhaften Behandlung der Spastik beispielsweise mit Sativex sollte also auf den Genuss von Alkohol verzichtet werden.
Rechtliche Aspekte und Verschreibung
Seit dem 1. April 2024 können Ärzte medizinisches Cannabis per elektronischem Rezept - wie andere Arzneimittel auch - verordnen. Mit der Teil-Legalisierung von Cannabis unterliegt die Verordnung von Cannabisarzneimitteln nicht länger dem Betäubungsmittelgesetz.
Die Voraussetzungen für die Verschreibung bleiben jedoch gleich: Patienten erhalten medizinisches Cannabis/Cannabinoide bei schweren (chronischen) Erkrankungen nur, wenn keine andere medizinische Möglichkeit besteht oder nicht eingenommen werden kann und eine Aussicht auf Besserung durch Cannabinoide besteht.
Was bleibt, ist der Erstantrag bei der Krankenkasse bei Schmerzen: Die Kasse (der MDK) prüft vor der allerersten Verordnung, ob der Patient/ die Patientin Anspruch auf eine Versorgung damit hat. Denn Sativex ist nur für die MS-bedingte „mittelschwere bis schwere Spastik als Add-on-Therapie“ zugelassen; für diese Anwendung ist kein Antrag bei der Krankenkasse erforderlich - wohl aber, wenn man es z. B. bei Schmerzen einsetzen will. Alle anderen Fertig- oder Rezepturarzneimittel auf Cannabis-Basis, die synthetischen Präparate sowie Blüten und Blätter, benötigen den Antrag, auch bei der Spastik.
Aktuelle Forschung und Studienlage
In den letzten Jahren hat die Forschung um Cannabis als Arzneimittel bei MS deutlich an Fahrt aufgenommen. Viele Studien konnten zeigen, dass medizinisches Cannabis insbesondere auf die Muskelspastizität und neuropathische Schmerzen bei Multipler Sklerose eine symptomlindernde Wirkung hat. Die in den Studien verwendeten Dosen lagen meist zwischen 20 und 40 mg THC pro Tag und Patient. Eine Überlegenheit eines bestimmten Cannabispräparats konnte bisher nicht gezeigt werden.
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Die Cochrane-Autorinnen interessierten sich für die Endpunkte Spastizität (schmerzhafte Verkrampfungen), Schmerzen und Wahrnehmung des Behandlungseffekts durch die Patientinnen. Die subjektiv wahrgenommene Schwere der Spastik kann anhand einer von den Patienten auszufüllenden numerischen 10-Punkte-Ratingskala (von 0 = subjektiv keine Spastik bis 10 = maximale Spastik) gemessen werden. Gemessen mit dieser NRS-Skala kann Cannabis bei Menschen mit MS die Schwere der Spastik nach 6 bis 14 Wochen wahrscheinlich um mindestens 30% verbessern (Vertrauenswürdigkeit der Evidenz auf Basis von fünf Studien: moderat).
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