Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu vielfältigen Symptomen führen kann. Störungen der Blasen- und Darmfunktion sind bei MS-Patienten keine Seltenheit, bleiben aber oft unbehandelt. Eine aktuelle Umfrage des MS-Registers der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zeigt, dass knapp ein Drittel der befragten MS-Patienten in Deutschland unter Blasenstörungen leidet, während acht Prozent über Störungen der Darmfunktion klagen. Die DMSG-Experten vermuten jedoch eine höhere Dunkelziffer. Da Funktionsstörungen von Blase und Darm die Lebensqualität erheblich mindern können, ist es wichtig, dass MS-Patienten sich ihrem behandelnden Arzt anvertrauen und über ihre Beschwerden sprechen. Es gibt wirksame Behandlungsmöglichkeiten, um die Symptome zu lindern und ein unabhängiges und mobiles Leben zu ermöglichen.
Ursachen von Darmentleerungsstörungen bei MS
Bei MS greifen körpereigene Zellen des Immunsystems die schützenden Hüllen der Nervenbahnen im Gehirn und Rückenmark an. Dadurch werden elektrische Signale, die Organe und Muskeln steuern, verzögert oder gar nicht mehr richtig weitergeleitet. Auch Blase und Darm können von dieser Schädigung betroffen sein.
Die Nerven im zentralen Nervensystem (ZNS) und die Muskeln müssen korrekt zusammenarbeiten, um die Körperfunktionen zu steuern. Werden bei MS entsprechende Nervenzellen in den Zentren des ZNS angegriffen oder zerstört, können neurogene Blasenfunktionsstörungen oder Störungen im Darm entstehen. MS kann die neurologischen Signalwege stören, die für die direkte Steuerung der Darmfunktionen verantwortlich sind. Das wiederum führt zur neurogenen Darmfunktionsstörung (NBD).
Dr. Fabian Queißert, Leiter der Sektion Neurourologie am Universitätsklinikum Münster, erklärt, dass Blase und Darm bewusst gesteuert werden über Nervenbahnen, die mit einer speziellen Region im Vorderhirn, dem sogenannten Miktionszentrum, verbunden sind. Bei MS werden diese Nervenbahnen angegriffen, wodurch Signale vom Gehirn zu den Ausscheidungsorganen und umgekehrt nicht mehr richtig weitergeleitet werden. Auf diese Weise verlieren Patienten die Kontrolle über Stuhl oder Urin. Die Ursache liegt also im Nervensystem und nicht in Blase oder Darm selbst.
Arten von Darmentleerungsstörungen bei MS
Darmprobleme bei MS können in unterschiedlicher Form auftreten. Grundsätzlich lassen sich zwei Haupttypen unterscheiden:
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- Verstopfung (Obstipation): Bei einer Verstopfung ist der Darm weniger angeregt und transportiert den Stuhl langsamer weiter, wodurch dieser eindickt. Auch kann über diesen Vorgang eine MS Blähungen verursachen. Ursache für die Verstopfung oder sie verstärkend sind neben der Störung des vegetativen Nervensystems Bewegungsmangel sowie einige Medikamente (u.a. Anticholinerika, Opioide).
- Stuhlinkontinenz: Ist durch die Multiple Sklerose der Darm zu stark angeregt, bewegt er sich schneller, der Stuhl wird zügiger weitertransportiert und Durchfall kann entstehen. Bei Stuhlinkontinenz kommt es zu unkontrolliertem Abgang des Darminhalts.
Oft treten beide Symptome gemeinsam auf, fast immer gehen sie mit einer Blasenfunktionsstörung einher.
Diagnose von Darmentleerungsstörungen
Um die Ursache von Darmentleerungsstörungen bei MS zu ermitteln, ist eine sorgfältige Diagnostik erforderlich. Zunächst wird der Arzt ein ausführliches Anamnesegespräch führen, um die Beschwerden des Patienten genau zu erfassen.
Führen Sie ein Tagebuch darüber, wann und wie oft Sie zur Toilette müssen und welche Symptome auftreten. Haben Sie Probleme mit Ihrem Darm? Beantworten Sie 5 kurze Fragen, die Ihnen dabei helfen sollen, sich einen Überblick über Ihre Situation zu verschaffen. Am Ende erhalten Sie die Fragen und Ihre Antworten zusammengefasst als PDF.
Anschließend können verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden, um die Funktion von Darm und Schließmuskel zu beurteilen.
Behandlung von Darmentleerungsstörungen bei MS
Die Behandlung von Darmentleerungsstörungen bei MS sollte auf den Einzelfall abgestimmt sein. Es gibt keine Behandlung, die für alle passt. Generell wird empfohlen, mit weniger invasiven Behandlungsoptionen zu beginnen und erst bei Unwirksamkeit oder Unzulänglichkeit zur nächsten Behandlungsstufe überzugehen. Die “Behandlungspyramide” ist eine Möglichkeit, um medizinische Fachkräfte und Patienten auf ihrem Behandlungspfad bei NBD anzuleiten und zu unterstützen. Sie zeigt auf, welche Optionen es zum Management von Darmschwäche gibt, ermutigt alle Betroffenen aber auch dazu, wenn möglich weniger invasive Möglichkeiten zu berücksichtigen.
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Allgemeine Maßnahmen
- Ernährung: Generell wird eine Ernährung mit fünf Portionen Obst und Gemüse empfohlen. Außerdem sollte täglich ein hoher Anteil an Vollkornprodukten, wie Vollkornbrot oder Produkte aus nicht raffiniertem Getreide, verzehrt werden. Achten Sie auf eine gesunde Ernährung und beurteilen Sie die Stuhlkonsistenz, um dann Ihre Ernährung gegebenenfalls entsprechend anzupassen, um die passende Stuhlkonsistenz herbeizuführen. Ballaststoffreiche Kost und viel Flüssigkeit sind wichtig - mindestens 1,5-2 Liter pro Tag. Darüber hinaus hätten sich Flohsamenschalen, geschroteter Leinsamen und Milchzucker bewährt: Die Bestandteile werden gemischt und esslöffelweise eingenommen. Bei Darminkontinenz sollte man keine blähende oder den Darm anregende Nahrung zu sich nehmen.
- Flüssigkeitszufuhr: Die Flüssigkeitszufuhr ist ebenfalls wichtig. Für einen Erwachsenen wird eine Flüssigkeitsmenge von 1,5 bis 2,5 Litern pro Tag empfohlen. Ob Sie ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen, können Sie leicht an der Farbe Ihres Urins erkennen: Ein ‘hellgelber’ Urin deutet auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr hin. Viele Menschen versuchen ihrem Problem damit zu begegnen, dass sie nur noch sehr wenig trinken. Genau das Gegenteil wäre jedoch richtig!
- Bewegung: Möglichst viel Bewegung, Physiotherapie, Stehtraining und Beckenbodentraining können helfen, die Darmfunktion zu verbessern.
- Druck nehmen, Türen öffnen: „Euroschlüssel“ holen! Er öffnet behindertengerechte Toiletten - überall.
- Sprechen Sie mit Ihrem Arzt: Eine frühzeitige Behandlung von Darmfunktionsstörungen soll Folgeschäden vermeiden und die Lebensqualität verbessern. Deshalb sprechen Sie Darmfunktionsstörungen unbedingt bei Ihrem behandeln Art an, damit eine gezielte Diagnostik und Therapie der Darmfunktionsstörungen erfolgen kann.
Medikamentöse Therapie bei Verstopfung
- Orale Abführmittel: Orale Abführmittel sind ebenfalls eine Möglichkeit, um den Darm wieder in Gang zu bringen. Sie alle zielen darauf ab, die Stuhlform zu modulieren und können regelmäßig angewendet werden, um eine vorhersehbare Stuhlkonsistenz zu erreichen. Osmotisch wirkende Abführmittel (Laxantien) wie Lactulose oder Macrogol ziehen Wasser in den Dickdarm bzw. halten Wasser im Darm zurück. Beide Substanzen machen den Stuhl weicher und regen so die Darmtätigkeit an. Glycerin erweicht den Stuhl, erhöht seine Gleitfähigkeit und fördert die Darmaktivität.
- Zäpfchen: Abführzäpfchen mit dem Wirkstoff Bisacodyl können ebenfalls eingesetzt werden. Sie seien, richtig angewendet, nicht so kritisch zu bewerten wie bisher angenommen. Schlimmer sei es, die Verstopfung nicht zu behandeln. Denn starkes Pressen beim Stuhlgang schwäche letztendlich die Muskulatur.
- Klistiere: Reichten solche Maßnahmen nicht aus, blieben Einläufe als weitere Möglichkeit.
Medikamentöse Therapie bei Darminkontinenz
- Anticholinerika: Anticholinerika können bei Darminkontinenz eingesetzt werden.
- Medizinische Kohle: Medizinische Kohle bindet in Flüssigkeiten gebundene Stoffe. Wichtig: Medizinische Kohle kann die Wirkung anderer Medikamente - auch der Anti-Baby-Pille - verringern.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten
- Digitale rektale Stimulation: Die digitale rektale Stimulation ist eine gängige Behandlungsstrategie für Personen mit neurogenen Darmfunktionsstörungen. Es stellt eine Technik dar, mit der zu einem gewählten Zeitpunkt der Transport von Stuhl in das Rektum stimuliert und die Stuhlentleerung eingeleitet wird. Die digitale Stimulation erfolgt durch Einführen eines behandschuhten, mit einem Gleitmittel bestrichenen Fingers durch den Analkanal in das Rektum und durch Drehen des Fingers in kreisenden Bewegungen. Dies wird so lange fortgesetzt, bis sich der äußere Afterschließmuskel entspannt, Stuhl entleert wird oder bis sich der innere Schließmuskel zusammenzieht und Darmaktivität signalisiert wird.
- Transanale Irrigation (TAI): Die transanale Irrigation (TAI) ist eine weniger konservative Behandlung, bei der Wasser in den Darm gespült wird, damit der Stuhl im Rektum und im absteigenden Dickdarm entleert werden kann. Wasser wird über einen Rektalkatheter in den Darm geführt. Die TAI kann für Personen geeignet sein, die mit Stuhlinkontinenz, Verstopfung, Bauchschmerzen bei der Stuhlentleerung, Blähungen oder länger andauernden Stuhlentleerungen zu tun haben. Regelmäßiges, gezieltes Abführen (z. B. Klistier oder sogenannte „transanale Irrigation (TAI)“. Dabei wird Wasser in den Darm eingebracht, um nach einer bestimmten Einwirkzeit eine vollständige Darmentleerung auszulösen. Der dazu verwendete Rektalkatheter hat einen Ballon, der das Wasser sicher im Darm hält. TAI kann nach Einweisung selbst angewandt werden.
- Stimulation des Sakralnervs: Eine invasivere Behandlung im Kampf gegen neurogene Darmfunktionsstörungen ist die Stimulation des Sakralnervs. Hier werden Elektroden an den Nervenwurzeln im Körper (im Bereich des Kreuzbeins) implantiert. Wird eine kurze Stimulation mit hoher Spannung angewendet, erhöht der Darm seine Aktivität, die Verstopfung wird reduziert und es kann sogar die Stuhlentleerung hervorgerufen werden.
- ACE-Spülung (Antegrade Colonic Enema): Die ACE-Spülung (von Antegrade Colonic Enema, antegrader Einlauf) bezeichnet das Verfahren den Stuhlgang durch Spülen des Darms mit Flüssigkeit hervorzurufen. Ein Stoma wird am Bauch angelegt, durch das eine Salzwasserlösung über einen Katheter in den Darm eingebracht wird. Normalerweise kommt es 30 bis 60 Minuten danach zum Stuhlgang.
- Sakrale Vorderwurzelstimulation (SARS): Die sakrale Vorderwurzelstimulation (SARS) kann ebenfalls angewendet werden, um die Darmfunktionen zu unterstützen, wenn diese durch MS beeinträchtigt sind. Bei diesem Verfahren wird mittels einer Elektrode schwacher Strom durch ausgewählte Sakralnervenwurzeln geleitet. Die Elektrode ist mit einem im Gesäß implantierten elektrischen Impulsgeber verbunden. Auf diese Weise können Botschaften zwischen Darm und Gehirn korrigiert und so das Darmverhalten modifiziert werden.
- Stoma: Das Anlegen eines Stomas gilt häufig als letzte Möglichkeit bei neurogenen Darmfunktionsstörungen. Dennoch haben Studien gezeigt, dass das Anlegen eines Stomas bei manchen Menschen die Lebensqualität erheblich verbessern kann, da es den Zeitaufwand für das Darmmanagement reduziert und den Betroffenen mehr Unabhängigkeit verschafft.
Hilfsmittel
Bei Störungen der Darmfunktion helfen unter anderem Analtampons oder Klistiere.
Psychologische Aspekte
Störungen der Funktion von Blase und Darm bei MS sind für viele Betroffene nicht nur ein hygienisches Problem, sondern auch mit starken Schamgefühlen verbunden. Über Inkontinenz redet man nicht gerne. Weder mit dem Partner noch mit einem Freund, einer Freundin oder Ärzten. Lieber geht man in die Isolation und versucht selbst, das Problem zu lösen. Besonders die Inkontinenz beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich. Schamgefühl, Isolation und Depression sind oft die Folge.
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