Multiple Sklerose Forschung: Auf dem Weg zur Heilung?

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), von der in Deutschland mehr als 280.000 Menschen betroffen sind. Bei MS schädigen fehlgeleitete Immunzellen die Hüllen der Nervenzellen im Gehirn. Die Erkrankung verläuft bei den meisten Betroffenen in Schüben, die als überschießende Entzündungsreaktionen in Rückenmark und Gehirn völlig unregelmäßig auftreten. Dabei zerstören fehlgeleitete Immunzellen die schützenden Myelin-Hüllen der Nervenfasern und schädigen so die Nerven. Dies kann schwerwiegende Folgen haben, die alle Gehirn- und Rückenmarksfunktionen betreffen können - hauptsächlich aber die Bewegungsfähigkeit und Koordination, den Tastsinn und das Sehvermögen. Für einen großen Anteil der Patientinnen und Patienten bringt die Multiple Sklerose schwere Behinderungen mit sich.

Obwohl es bisher keine Heilung für MS gibt, hat die Forschung in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Neue Therapieansätze zielen darauf ab, die Entzündung zu bremsen, die Anzahl und Schwere der Schübe zu verringern und sogar die Reparatur der geschädigten Myelin-Hüllen zu fördern. Dieser Artikel beleuchtet einige der vielversprechendsten Forschungsbereiche und Therapieansätze, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für MS-Patienten geben.

Aktuelle Therapieansätze und ihre Grenzen

Um die Entzündung bei MS-Schüben zu bremsen, wird in der Regel hochdosiertes Kortison eingesetzt. Eine vorbeugende Immuntherapie soll zudem die Anzahl und die Schwere der Schübe verringern. Zwar können die Nervenfaser-Hüllen durch körpereigene Reparaturprozesse teilweise wiederhergestellt werden. Aber diese spontane Remyelinisierung verläuft bei MS-Betroffenen meist unvollständig oder unterbleibt ganz. Und bis heute gibt es kein Medikament, das diese Reparatur fördert. Die meisten Medikamente müssen möglichst früh im Krankheitsprozess eingesetzt werden, da sich einmal zerstörtes Nervengewebe quasi nicht regenerieren lässt. Aktuell können bei der Suche nach dem individuell richtigen Wirkstoff wertvolle Monate vergehen.

Mikroglia und Polysialinsäure: Ein neuer Ansatz zur Remyelinisierung

Ein vielversprechender Forschungsansatz konzentriert sich auf die Mikrogliazellen des Gehirns. Neben ihrer Funktion als „Müllabfuhr“ übernehmen diese Zellen auch Aufgaben für die Immunantwort und suchen ständig nach Anzeichen von Verletzungen oder Infektionen. Besteht ein Problem, werden die Mikrogliazellen aktiviert und setzen Zytokine und andere Signalmoleküle frei. Das lockt weitere Immunzellen wie T- und B-Zellen an, die sich normalerweise außerhalb des Gehirns aufhalten.

Bei der Aktivierung der Mikroglia spielt die körpereigene Zuckerverbindung Polysialinsäure eine entscheidende Rolle. „Die Mikroglia verfügt über einen Immunrezeptor namens Siglec-E, der Polysialinsäure erkennt“, erklärt der Biochemiker Dr. Hauke Thiesler. Bindet das Zuckermolekül an den Rezeptor, schalten die Mikrogliazellen vom Zustand „entzündungsfördernd“ auf „entzündungshemmend“ um.

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Dieser Regelmechanismus lässt sich offenbar auch von außerhalb steuern. Durch externe Zugabe von Polysialinsäure in Kulturen mit lebenden Gewebeschnitten konnten die Forschenden zeigen, dass zuvor zerstörte Myelinhüllen in Folge einer entzündungshemmenden Wirkung der Polysialinsäure auf die Mikroglia fast vollständig erneuert wurden. „Die Mikrogliazellen sind die Schlüsselzellen, die direkt vor Ort die Arbeit machen und die wir mit Hilfe der Polysialinsäure quasi in eine bestimmte Richtung leiten und dadurch auf Heilung programmieren wollen“, sagt der Biochemiker.

Die Forschenden sind aufgrund der „frappierenden Ergebnisse“ optimistisch, dass die Myelin-Regulierung auch im lebenden Organismus funktioniert. „Der Vorteil ist, dass der Siglec-E-Rezeptor im Gehirn tatsächlich nur auf den Mikroglia-Zellen sitzt und die Polysialinsäure somit dort ganz gezielt eingreifen kann“, erklärt Dr. Thiesler. Und weil der Mechanismus generell die Entzündungsaktivität senkt, könnte das Verfahren auch für andere neurodegenerative Erkrankungen interessant sein, vermutet der Biochemiker. Als nächstes möchte das Forschungsteam die Ergebnisse im Tiermodell überprüfen und dafür die in Niedersachsen vorhandene MS-Expertise nutzen.

Eine Aktivierung der Selbstheilungskräfte im Gehirn wäre eine vielversprechende Unterstützung in der MS-Therapie, die derzeit ausschließlich auf das Immunsystem außerhalb abzielt, betont Dr. Lara-Jasmin Schröder aus der Klinik für Neurologie mit klinischer Neurophysiologie.

Subtypen der MS: Ein Durchbruch für die Präzisionsmedizin

Eine bahnbrechende Studie hat gezeigt, dass es auch auf Zellebene drei Subtypen der MS gibt. Jeder ist durch ein spezifisches Profil von Immunzellen im Blut gekennzeichnet und mit verschiedenen Krankheitsverläufen assoziiert. Dies ergab die Analyse der Blutproben von mehr als 500 MS-Patienten im Frühstadium, die nun im hochkarätigen Fachjournal „Science Translational Medicine“ veröffentlicht wurde.

Das internationale Forscherteam mit Leitung an der Universität Münster hat mit seiner Studie nicht nur einen Durchbruch beim Verständnis der Krankheit erzielt. "Diese Ergebnisse sind auch ein entscheidender Schritt in Richtung Präzisionsmedizin bei MS", so Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Uniklinik für Neurologie und Koordinator der in Zusammenarbeit mit dem Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) entstandenen Arbeit. „Indem wir die individuellen Variationen des Immunsystems von Patienten verstehen, kommen wir der personalisierten Behandlung näher, die effektiver ist und weniger Nebenwirkungen hat."

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Konkret unterscheiden Analysen aus Münster erstmals drei verschiedene Typen der immunologischen Aktivierung, die mit spezifischen Kennzeichen und Krankheitsverläufen einhergehen: den entzündlichen, den degenerativen und einen dritten, den die Wissenschaftler noch nicht im Detail beschreiben können. Patienten mit „entzündlicher“ MS litten im ersten Jahr nach der Diagnose unter mehr Krankheitsschüben und zeigten Läsionen, die auf eine Fehlfunktion der Blut-Hirn-Schranke hinweisen. Wer hingegen die degenerative Form der MS hatte, war von Anfang an schwerer betroffen und die Behinderung schritt schneller voran. Die Neuroimmunologinnen und Neuroimmunologen fanden hier zudem winzige Löcher in der Hirnsubstanz, die Ursache für diesen schweren Krankheitsverlauf sein könnten. Es wird deutlich: Die MS entsteht auf verschiedenen Wegen und hat unterschiedliche Erscheinungsformen im Immunsystem. Da verwundert es nicht, dass auch bestehende Therapien ganz unterschiedlich gut „anschlagen“.

Die nun gewonnenen Daten könnten die Suche nach dem individuell richtigen Wirkstoff beschleunigen. Zudem lässt sich mit dem Immunzellprofil besser einschätzen, ob schwere Nebenwirkungen auftreten: "Unsere Studie bietet Klinikerinnen und Klinikern auch ein praktisches Instrument, um den Krankheitsverlauf und das Ansprechen auf eine bestimmte Behandlung vorherzusagen", erklärt Prof. Luisa Klotz, die das Projekt gemeinsam mit Prof. Wiendl leitet, und ergänzt: "Dies ist ein klarer Fortschritt in Richtung einer personalisierten Medizin in der Multiplen Sklerose.“

Identifizierung von Zielantigenen: MLC1 als potenzieller Angriffspunkt

Forschende des Universitätsklinikums Bonn (UKB), der Universität Bonn und der FAU Erlangen-Nürnberg identifizierten mit dem Membranprotein MLC1 ein potentielles Zielantigen bei MS. Dazu verwendete das Team eine neuartige Kombination moderner Techniken. Der Erfolg mit B-Zell-depletierenden Therapien, die gezielt B-Zellen aus dem Körper entfernen, zeigt deren wesentlichen Beitrag zur Krankheitsaktivität der MS.

„Das Zielantigen der MS ist schon lange ein Rätsel und es scheint kein definiertes einzelnes Zielantigen zu geben“, sagt Prof. Stefanie Kürten, Geschäftsführende Direktorin des Anatomischen Instituts am UKB. Vor kurzem konnte bereits das Antigen GlialCAM als relevant für die MS identifiziert werden. Das Forschungsteam um Prof. Kürten kombinierte die Technik der B-Zell-Stimulation von peripheren mononukleären Blutzellen (PBMCs) mit einem humanen proteomweiten Protein-Microarray. Damit testeten sie die B-Zell-Antwort von MS-Patienten im Vergleich zu Gesunden oder Patienten mit anderen neuroinflammatorischen oder neurodegenerativen Erkrankungen. „Eines der Top-Hit-Proteine war das MLC1, auf das wir uns daher fokussierten“, sagt Co-Erstautor Raffael Dahl von der FAU Erlangen-Nürnberg. Die Co-Erstautorin Alicia Weier, Doktorandin der Universität Bonn an der Neuroanatomie des UKB, ergänzt: „Darüber hinaus ist es ein sehr interessanter Kandidat, da das Protein auf Astrozyten und Neuronen exprimiert wird.

Das Forschungsteam konnte das bestehende Konzept einer äußerst vielfältigen Autoimmunreaktion bei MS bestätigen. Es stellte eine signifikant erhöhte Antikörperreaktion gegen MLC1 in B-Zell-Kulturen und Serumproben von Patienten mit MS fest. Außerdem beobachtete es deutlich erhöhte Titer gegen MLC1 in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit bei Patienten mit viral bedingten neuroinflammatorischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems.

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Künftige Studien müssen sich mit dem diagnostischen und prognostischen Wert von MLC1-spezifischen Antikörpern bei neuroinflammatorischen Erkrankungen wie MS beschäftigen und die Rolle der MLC1-Expression von Neuronen und Astrozyten charakterisieren. „Interessant ist beispielsweise, wie die beiden Moleküle MLC1 und GlialCAM miteinander interagieren, welche funktionelle Rolle sie spielen und ob es eine zeitliche Abfolge der Antigenerkennung im Verlauf der MS gibt“, sagt Prof. Kürten.

Innovative Zelltherapie: Das Immunsystem austricksen

Kann das Immunsystem von Patienten mit multipler Sklerose dazu überredet werden, Attacken gegen das eigene Nervensystem einzustellen? Offensichtlich ja! Das jedenfalls lassen Ergebnisse einer ersten klinischen Studie mit einer innovativen Zelltherapie hoffen. Jetzt wurde erstmals ein völlig neues Verfahren zur Behandlung der multiplen Sklerose mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erfolgreich in einer klinischen Studie geprüft.

Die Idee klingt einfach: Das Immunsystem der Betroffenen, genauer die T-Zellen, sollen dazu gebracht werden, ihre Angriffe auf die Myelinscheide der Nervenzellen einzustellen. Was einfach klingt, ist medizinisch äußert komplex: Mehr als 20 Jahre haben Professor Dr. Roland Martin und sein Team an der neuen Behandlung geforscht, bis sie nun klinisch erprobt werden konnte.

Vereinfacht beschrieben passiert Folgendes: Aus dem Blut der MS-Patienten werden über ein spezielles Aufbereitungsverfahren (Leukozytapherese) weiße Blutkörperchen, die Leukozyten, entnommen. Anschließend werden die Zellen in einem Reinlabor unter sehr hohen Sicherheitsauflagen weiterverarbeitet. Der wichtigste Schritt dabei ist, dass sieben Peptide, also kurze Eiweiße, an die Oberfläche der Zellen gekoppelt werden. Sie sind Bestandteil der Myelinscheide. „Genau diese Peptide werden vom Immunsystem der MS-Patienten fälschlicherweise als fremd erkannt, obwohl sie ein wichtiger Bestandteil des eigenen Nervensystems sind“, erklärt Martin.

Nach mehreren Wasch- und Kontrollschritten werden die veränderten Leukozyten den Patienten noch am selben Tag als Infusion wieder verabreicht. „Was dann im Körper der Patienten passiert, ist erstaunlich: Das Immunsystem wird regelrecht ausgetrickst“, sagt Martin. Die veränderten Leukozyten sterben durch programmierten Zelltod. Nach gegenwärtigem Wissen werden die toten Leukozyten in die Milz transportiert. Dort werden ihre Bestandteile - und damit auch die sieben Myelinpeptide - dem Immunsystem präsentiert. Es entwickelt sich Immuntoleranz, d. h., den T-Zellen wird „beigebracht“, diese Myelinpeptide nicht als fremd, sondern als körpereigen zu erkennen. „Unser Verfahren nutzt damit einen sehr natürlichen Mechanismus aus, mit dem unser Körper gewährleistet, dass wir gegen die täglich in großen Mengen absterbenden eigenen Zellen keine Immunantwort und damit keine Autoimmunantwort ausbilden“, erklärt Martin.

In der Milz werden die sieben Myelinpeptide dem Immunsystem präsentiert. Es entwickelt sich Immuntoleranz.

Nach den langjährigen Vorarbeiten wurde der innovative Therapieansatz nun erstmals in einer klinischen Studie an neun MS-Patienten geprüft. Die Patientinnen und Patienten erhielten unterschiedliche Zahlen der eigenen peptidgekoppelten Zellen bis zu einer Maximaldosis von 3 x 109, also drei Milliarden Zellen. Das Ergebnis: Die Therapie wurde von allen neun Patienten gut vertragen. Es traten keine Hinweise auf Sicherheitsrisiken auf. „Das war keineswegs selbstverständlich. Die Therapie hätte durchaus eine überschießende und damit gefährliche Reaktion des Immunsystems auslösen können“, beschreibt Dr. Andreas Lutterotti, der die Studie am Zentrum für Molekulare Neurobiologie in Hamburg während seines Humboldt-Forschungsstipendiums betreute. Dies war jedoch nicht der Fall. „Bei den Patienten, die eine hohe Dosierung erhalten hatten, konnten wir sogar positive Effekte auf den Krankheitsverlauf beobachten. Diese Ergebnisse lassen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun hoffen, auf dem richtigen Weg zu sein. „Es handelt sich um ein bisher am Menschen nie eingesetztes Verfahren, um die Toleranz des Immunsystems ganz gezielt und hochspezifisch wiederherzustellen. Damit ist unsere Zelltherapie sicherlich einer der innovativsten Therapieansätze und ein Meilenstein auf dem Weg zu einer personalisierten Behandlung der multiplen Sklerose“, so Martin.

Für die Zukunft plant er in Kooperation mit seinen Hamburger Kolleginnen und Kollegen eine Phase-II-Studie, um die Wirksamkeit dieser neuen Behandlung auf den Krankheitsverlauf von Patientinnen und Patienten mit multipler Sklerose zu prüfen.

CAR-T-Zellen: Ein Hoffnungsschimmer aus der Krebsforschung

CAR-T-Zellen - die Immuntherapie mit diesem sperrigen Namen zeigte ihre ersten Erfolge im Einsatz gegen einige Arten von Blutkrebs. Dabei werden sogenannten T-Zellen aus dem Blut der Patienten entnommen und im Labor genetisch verändert - sie werden zu CAR-T-Zellen. Sie können jetzt andere Immunzellen erkennen, die werden B-Zellen genannt. Wenn diese B-Zellen sich zu bösartigen Krebszellen entwickelt haben, können die T-Zellen sie mit der neuen Oberfläche unschädlich machen.

Solche CAR-T-Zellen können auch bei Autoimmunerkrankungen wirksam sein - zum Beispiel bei seltenen Erkrankungen wie Lupus oder Myasthenie. Auch bei Multipler Sklerose gab es erste Erfolge. Das zeigen neue Forschungsergebnisse. Denn bei Autoimmunerkankungen bilden die B-Zellen Antikörper, die sich gegen den eigenen Körper wenden.

Stefan Tenoth bekam schließlich die Zusage für eine CAR-T-Zell Therapie und erhielt seine CAR-T-Zellen im vergangenen Januar. Nach fünf Monaten erfolgte dann die entscheidende MRT-Untersuchung. “Und da hat man dann festgestellt, dass sämtliche Entzündungen und vor allem die Entzündung in meiner Halswirbelsäule komplett weg war. Das war unglaublich. Das hat noch kein anderes Medikament oder keine andere Behandlung geschafft, dass die Entzündung weg ist. Verbessern wird sich Stefan Tenoths Zustand vermutlich nicht. Aber vielleicht wird es ab jetzt auch nicht mehr schlechter. So eine experimentelle Therapie kommt bisher nur für wenige Patienten in Frage - denn die Nebenwirkungen können massiv sein.

Stammzelltransplantation: Ein Neustart für das Immunsystem

Was tun, wenn fehlgesteuerte Abwehrzellen permanent das Zentrale Nervensystem attackieren und keine Medikamente die Multiple Sklerose (MS) aufhalten kann? Für diese Patient:innen kommt ein anderer Behandlungsansatz, der ursprünglich für die Krebsmedizin entwickelt wurde, in Frage. Dabei wird in einer Art „Reboot“ das fehlgesteuerte Immunsystem zunächst komplett heruntergefahren und anschließend neu gestartet. Dabei spielen körpereigene, autologe Stammzellen eine besondere Rolle.

Die sogenannten Mutterzellen sind in der Lage, neue Blutkörperchen und Blutplättchen zu bilden. Deshalb werden sie zu Beginn der Behandlung aus dem Knochenmark ins Blut mobilisiert, dort gesammelt und dann zunächst eingefroren.

Anschließend wird mit einer hochdosierten Chemotherapie das falsch programmierte Immunsystem ausgeschaltet, die Stammzellen werden aufgetaut und zurückgegeben. Es entsteht ein neues blutbildendes System mit einer neuen körpereigenen Abwehr, die bestenfalls auch keine Nerven mehr attackiert.

Im UKE wird das Verfahren seit einigen Jahren bei MS-Patient:innen angewandt. „Wir haben die Behandlung stetig weiterentwickelt, schwerwiegende Komplikationen hat es in keinem Fall gegeben“, sagt Prof. Dr. Nicolaus Kröger, Leiter der Interdisziplinären Klinik für Stammzelltransplantation im UKE. Die Bilanz bisher: „Bei 15 von 20 Transplantierten kam die Krankheit zum Stillstand, vier Patient:innen sind beschwerdefrei.

Tolebrutinib: Hoffnung auf Wirkung unabhängig von Entzündungen

Der Wirkstoff Tolebrutinib weckt große Hoffnungen für die Therapie der Multiplen Sklerose (MS). Beide Studien finden positive Effekte bzw. Tendenzen für den Verlauf der MS. Damit rückt ein Medikament in greifbare Nähe, das nicht nur Schübe reduziert, sondern möglicherweise auch das Fortschreiten der Behinderung verlangsamt - und das unabhängig von sichtbarer Entzündung.

Die GEMINI-1- und 2-Studien zeigen, dass Tolebrutinib bei schubförmiger MS mindestens ebenso gut wie das Standardmedikament Teriflunomid akute Schübe reduziert. Darüber hinaus gab es deutliche Hinweise darauf, dass die Krankheit langsamer voranschreitet - auch unabhängig von Rückfällen, ein Phänomen, das unter dem Begriff PIRA (progression independent of relapse activity) bekannt ist. Parallel dazu belegte die HERCULES-Studie erstmals signifikant positive Effekte bei sekundär progredienter MS. Der primäre Endpunkt der Studie, nämlich dass das Fortschreiten der Behinderung verzögert wurde, wurde erreicht. Damit ist Tolebrutinib eines der wenigen Medikamente mit Wirkung bei dieser schwer behandelbaren Verlaufsform.

„Unsere Ergebnisse zeigen dass Tolebrutinib bei MS-Patient*innen wirkt, bei denen keine aktiven Entzündungen mehr nachweisbar sind - und das ist ein absolut entscheidender Innovationspunkt“, sagt Wiendl. Das sei ein bedeutender Fortschritt gegenüber bisherigen Therapien, die primär auf die Kontrolle akuter Entzündungsprozesse abzielen.

„Eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Studien ist, dass Tolebrutinib die Krankheit bremsen kann, selbst wenn keine akuten Entzündungen sichtbar sind“, betont Wiendl. Denn bisherige Medikamente bremsen zwar zum Teil akute Entzündungen, nicht aber langsame Verschlechterungen ohne messbare Entzündungszeichen.

Die SOX6-Bremse: Ein potenzieller Ansatz zur Reparatur von Myelinschäden

Ein US-Forschungsteam hat eine Entdeckung gemacht, die die Tür zu einer Therapie öffnen könnte. Die Forschenden beschreiben es als eine Art Bremse, die die Reifung wichtiger Gehirnzellen steuert. Bei Multipler Sklerose (MS), so das Team, scheine diese Bremse zu lange angezogen zu bleiben. Könnte man diese Bremse lösen, die Zellreifung steuern, dann würde das einen potenziellen Ansatz liefern, um durch MS und ähnliche Erkrankungen des Nervensystems verursachte Schäden zu reparieren.

Dabei geht es um die Myelinscheiden im Gehirn, die zu den Behinderungen bei MS führen. "Und die einzigen Zellen, die sie reparieren können, sind sogenannte Oligodendrozyten", beschreibt es der leitende Autor der Studie, Paul Tesar, Direktor des Institute for Glial Sciences, Cleveland, USA. Um die Ursache dafür zu finden, untersuchten die Forschenden den gesamten Entwicklungsprozess der myelinbildenden Oligodendrozyten. Dabei fiel immer wieder ein Protein namens SOX6 auf. Das Team fand heraus, dass SOX6 wie eine Bremse wirkt und Zellen durch ein als "Genschmelze" bekanntes Phänomen in einem unreifen Zustand blockiert.

Im Hirngewebe von MS-Patienten stellten die Forschenden dann aber fest, dass ungewöhnlich viele Zellen in einem unreifen Zustand steckengeblieben waren. Und das war spezifisch für MS: In Proben von Alzheimer- und Parkinson-Patienten gab es dafür keine Hinweise. Die SOX6-Bremse schien zu lange angezogen. Um das zu testen, verwendete das Team ein auf das Protein gerichtetes molekulares Medikament namens Antisense-Oligonukleotid (ASO), um SOX6 in Mausmodellen zu reduzieren. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Oligodendrozyten bei MS nicht dauerhaft zerstört, sondern möglicherweise einfach blockiert sind", sagte Jesse Zhan, Co-Leiter der Studie und Medizinstudent im Medical Scientist Training Program der School of Medicine.

KI-Analyse: Neubewertung des Krankheitsverlaufs bei MS

Eine große internationale Studie hat das Bild der MS-Typen auf den Kopf gestellt. Forscherinnen und Forscher der Universitätsklinik Freiburg und der Universität Oxford haben mithilfe von KI-gestützten Analysen über 8.000 Patientendaten mit mehr als 118.000 Visiten sowie mehr als 35.000 MRT-Aufnahmen ausgewertet. Ergebnis: MS ist kein starres System mit festen „MS-Typen“, sondern eher ein kontinuierlicher Krankheitsprozess, der sich in verschiedene Zustände einteilen lässt.

"Unsere Daten zeigen eindeutig, dass MS nicht über verschiedene Subtypen wie schubförmig oder progrediente MS zu charakterisieren ist, sondern ein kontinuierlicher Krankheitsprozess mit definierbaren Zustandsübergängen ist“, sagt Prof. Dr. Das neue Modell beschreibt MS als Abfolge von Zuständen („states“) mit spezifischen Übergangswahrscheinlichkeiten. Frühere, milde Zustände gehen meist über entzündliche Zwischenphasen in fortgeschrittene, irreversible Krankheitsstadien über. Bemerkenswert: Ein direkter Übergang in die schweren Stadien ohne vorherige Entzündungsaktivität ist praktisch ausgeschlossen - stille, symptomfreie Entzündungen oder klinische Schübe sind zentrale Treiber der Verschlechterung. Außerdem gilt: Wer einmal ein klinisch fortgeschrittenes Zustandsbild erreicht hat, kehrt nicht mehr in die frühen Stadien zurück.

Das neue Modell könnte bei einer individuellen Risikoeinschätzung helfen. „Statt Patienten zu kategorisieren, sollten wir ihren Zustand quantifizieren und dynamisch verfolgen“, so Wiendl. Patienten mit aktiver, aber klinisch stummer Entzündungsaktivität benötigen nach dem Modell gerade frühzeitige Therapieentscheidungen.

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