Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen an MS erkrankt, wobei die Erkrankung meist im jungen Erwachsenenalter auftritt. Weltweit gibt es fast drei Millionen Menschen mit MS, über 280.000 davon in Deutschland. MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen angreift. Es handelt sich um eine komplexe Erkrankung mit vielen Erscheinungsbildern - und entsprechend individuell ist die Therapie.
Symptome und Diagnose
Die MS wird oft als "Krankheit mit tausend Gesichtern" bezeichnet, da sie eine Vielzahl von Symptomen verursachen kann, darunter:
- Gefühlsstörungen
- Lähmungen
- Seh- und Gleichgewichtsstörungen
- Müdigkeit (Fatigue)
- Muskelschwäche und verlangsamte Bewegungsabläufe
- Missempfindungen auf der Haut (Ameisenkribbeln, Taubheitsgefühle)
- Erhöhte Muskelspannung, Verkrampfung und Steifigkeit (Spastik)
- Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis)
- Unkontrollierte Augenbewegungen (Nystagmus)
Die Diagnose von MS ist nicht einfach, da es keinen einzelnen "MS-Test" gibt. Stattdessen wird eine Ausschlussdiagnose gestellt, die verschiedene Untersuchungen umfasst:
- Magnetresonanztomographie (MRT): Nachweis von Entzündungsherden an mehreren Stellen im Gehirn oder Rückenmark.
- Lumbalpunktion: Untersuchung des Nervenwassers.
- Messungen von Sehnerven (VEP) und Nervenbahnen (SEP).
Verlaufsformen der MS
Die MS kann in verschiedenen Formen auftreten:
- Schubförmig remittierende MS (RRMS): In etwa drei Viertel aller Fälle tritt die MS in Schüben auf. Zu Beginn der Krankheit ist das bei 85 Prozent so, und die Betroffenen haben durchschnittlich alle zwei bis drei Jahre einen Schub. Ein Schub ist gekennzeichnet durch episodisches Auftreten und vollständige oder teilweise Rückbildung (Remission) neurologischer Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen.
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Bei etwa 15 Prozent der Betroffenen geht die schubförmige MS später in eine sekundär progrediente Multiple Sklerose über. Die Symptome zwischen den Schüben bilden sich nicht mehr zurück oder verstärken sich über die Zeit.
- Primär progrediente MS (PPMS): 15 Prozent der Betroffenen haben zu Beginn der Erkrankung keine Schübe, bei ihnen fällt die MS durch eine langsame Zunahme der Beschwerden auf.
Zusätzlich wird bei jeder Form bewertet, ob sie entzündlich aktiv oder nicht aktiv ist.
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Das Immunsystem bei MS
Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden der Nervenfasern im ZNS an. Diese Myelinscheiden sind für die schnelle und effiziente Übertragung von Nervenimpulsen unerlässlich. Durch die Entzündung und Schädigung der Myelinscheiden kommt es zu einer Verlangsamung oder Blockierung der Nervenleitgeschwindigkeit, was die vielfältigen Symptome der MS verursacht.
Die genauen Mechanismen, die zu dieser fehlgeleiteten Immunantwort führen, sind noch nicht vollständig verstanden. Es wird jedoch angenommen, dass eine Kombination aus genetischer Prädisposition und Umwelteinflüssen eine Rolle spielt.
Immunmodulation und Immunsuppression
Die Immuntherapie spielt eine zentrale Rolle bei der Behandlung von MS. Sie zielt darauf ab, das fehlgesteuerte Immunsystem zu beeinflussen, indem sie es entweder verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv).
- Immunmodulatoren: Diese Medikamente verändern die Aktivität des Immunsystems, um die Entzündung im ZNS zu reduzieren. Beispiele hierfür sind Interferon-beta und Glatirameracetat.
- Immunsuppressiva: Diese Medikamente unterdrücken die Aktivität des Immunsystems, um den Angriff auf die Myelinscheiden zu stoppen. Beispiele hierfür sind Natalizumab und Fingolimod.
Therapieansätze bei MS
Die Therapie der Multiplen Sklerose ist vielfältig und zielt darauf ab, die Symptome zu lindern, die Schübe zu reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.
Akuttherapie
- Cortison: Bei einem akuten Schub wird oft Cortison als Infusion oder Tablette eingesetzt, um die Entzündung zu reduzieren und die Symptome schneller abklingen zu lassen.
- Blutwäsche (Plasmapherese): In seltenen Fällen kann eine Blutwäsche eingesetzt werden, um jene körpereigenen Immunzellen zu entfernen, die die Entzündung verursachen.
Langzeittherapie
- Immuntherapie: Die Immuntherapie ist die wichtigste Grundlage der Langzeitbehandlung von MS. Es gibt mittlerweile gut 20 Immuntherapie-Mittel (Stand: April 2023), einige davon auch für die sekundär oder primär progrediente MS. Diese Medikamente beeinflussen das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie dieses verändern (immunmodulierend) oder dämpfen (immunsuppressiv).
- Symptomatische Therapie: Viele Folgesymptome der MS lassen sich medikamentös oder mit anderen Maßnahmen behandeln. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien.
Lebensstil und Ernährung
Im täglichen Leben gibt es einiges, dass die Multiple Sklerose günstig beeinflussen kann:
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- Regelmäßige körperliche Aktivität: Sport und Bewegung sind ein wirksames Gegenmittel gegen Müdigkeit und Muskelschwäche.
- Gesunde Ernährung: Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen hat positive Effekte.
- Nichtrauchen: Rauchen ist ein Risikofaktor und sollte vermieden werden.
- Vitamin D: Ein kurzer, aber regelmäßiger Aufenthalt in der Sonne kann helfen, einen Vitamin-D-Mangel auszugleichen.
Ernährung und Darmgesundheit
Die Rolle der Ernährung und der Darmmikrobiota bei MS wird zunehmend erforscht. Studien deuten darauf hin, dass eine Fehlbesiedlung im Darm (Dysbiose) das Immunsystem beeinflussen und Entzündungen fördern kann.
- Kochsalz: Ein hoher Kochsalzgehalt in der Nahrung kann die Zusammensetzung der Darmmikrobiota verändern und die Bildung von proinflammatorischen T-Zellen fördern.
- Fettsäuren: Langkettige Fettsäuren können die Differenzierung von Th1- und Th17-Zellen verstärken, während kurzkettige Fettsäuren die Bildung von Treg-Zellen fördern.
- Probiotika: Die Gabe von Probiotika mit Lactobazillen kann im Tierversuch die Dysbiose wieder ausgleichen.
Es gibt verschiedene MS-Diäten, wie die Swank-Diät, die McDougall-Diät und die Paleodiät. Die Evidenz für ihre Wirksamkeit ist jedoch schwach.
MS und Geschlecht
Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei MS. Frauen sind häufiger von der schubförmig remittierenden MS (RRMS) betroffen als Männer. Die Ursachen für diese Entwicklung werden kontrovers diskutiert.
Einige Studien deuten darauf hin, dass genetische Unterschiede im Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) eine Rolle spielen könnten. MHC-Gene präsentieren den Zellen des Immunsystems Proteinbruchstücke und teilen ihnen auf diese Weise mit, was körpereigene und was Fremdstoffe sind. Es macht auch einen Unterschied, ob ein Mann oder eine Frau bestimmte MHC-Gene aufweist. So erfüllt ein schützendes MHC-Gen bei einer Frau tatsächlich seine Funktion und verhindert zum Beispiel die Infektion mit dem Herpesvirus. Bei einem Mann funktioniert dieser Mechanismus nicht - er erkrankt. Andererseits kann ein bestimmtes Risiko-MHC-Gen bei einer Frau zu einer Autoimmunreaktion wie MS führen, während die verantwortlichen T-Zellen bei einem Mann von diesem Gen „unbeeindruckt“ wären.
Darüber hinaus konnten die Forscher zeigen, dass bestimmte Zellen im Immunsystem von Gesunden miteinander kooperieren - und zwar immer dann, wenn sie einander in den Bindungsstellen zwischen T-Zell-Rezeptor und MHC-Molekül ähneln. Ganz anders bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen: Insbesondere im Immunsystem erkrankter Männer arbeiten auch T-Killerzellen zusammen, die einander kaum ähnlich sind. Was im Fall der Gesunden vor Infektionen schützt, könnte nun besonders großen Schaden hervorrufen, denn MS wird durch diese Immunzellen mitverursacht. Bündeln sie - unerwünscht - ihre Kräfte, könnte das der Grund dafür sein, dass die Krankheit bei Männern oft schwerer verläuft als bei Frauen.
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MS und Schwangerschaft
Während der Schwangerschaft nimmt die Wahrscheinlichkeit für einen Schub ab. In den ersten drei Monaten nach der Geburt nimmt sie zu. Stillen scheint vor Schüben zu schützen. MS-Medikamente können sich auf das ungeborene Kind auswirken, weswegen besondere Vorsicht geboten ist. Nicht jedes Medikament darf in der Schwangerschaft gegeben werden. Eine Schwangerschaft sollte daher möglichst in einer stabilen Phase der Erkrankung geplant und Medikamente eher abgesetzt werden - zumal sie, wie oben beschrieben, einen gewissen Schutz vor Schüben bietet. Die Therapie eines schweren Schubes mit Kortison ist in der Schwangerschaft ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel möglich. Wenn Kortison im ersten Schwangerschaftsdrittel gegeben wird, besteht ein erhöhtes Risiko, dass das Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren wird. Die meisten Immuntherapien werden allerdings über die Muttermilch an den Säugling weitergegeben, was die Entscheidung über einen Therapiebeginn verkompliziert.
Leben mit MS
Die Diagnose Multiple Sklerose heißt nicht, dass der Alltag komplett umgestellt werden muss. Das wichtigste ist, dass Neuerungen im Alltag gut angenommen werden können und kontinuierlich umgesetzt werden. Besonders wichtig sollte es sein, auf sich selbst und das eigene Befinden noch mehr zu achten und Ihre Bedürfnisse entsprechend anzupassen.
Mit der richtigen Therapie und einem aktiven Lebensstil können die allermeisten Menschen mit Multipler Sklerose (MS) ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen und lange Zeit mobil bleiben. Multiple Sklerose steht grundsätzlich weder einer Ausbildung noch der Berufsausübung, Freundschaften, Sport, sozialen Kontakten oder der Gründung einer Familie im Wege.
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