Hoffnungsschimmer für MS-Patienten: Fortschritte in der Impfstoffforschung

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Dieser Angriff führt zu einer Schädigung der Nerven, was eine Vielzahl von neurologischen Symptomen wie Missempfindungen, Sehstörungen, motorische Störungen und kognitive Beeinträchtigungen verursachen kann. Obwohl es derzeit keine Heilung für MS gibt, konzentriert sich die Forschung auf die Entwicklung von Therapien, die das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen, Symptome lindern und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Ein vielversprechender Ansatz ist die Entwicklung eines Impfstoffs gegen MS.

Die Herausforderung der Autoimmunität bei MS

Bei MS spielen fehlgeleitete Abwehrzellen eine zentrale Rolle. Entgegen ihrer eigentlichen Funktion, fremde Erreger zu bekämpfen, attackieren sie die Isolationsschicht der Nervenzellen. Interessanterweise finden sich solche fehlgeleiteten Abwehrzellen im Blut fast aller Menschen, wie der MS-Spezialist Ralf Gold von der Ruhr-Universität Bochum betont. Für die Gesundheit ist es entscheidend, dass ein Gleichgewicht zwischen aggressiven Abwehrzellen und regulatorischen Zellen besteht, die verhindern, dass das Nervensystem angegriffen wird. Genau hier setzt die Forschung an.

RNA-Impfstoffe als Hoffnungsträger

Christina Krienke arbeitet am Forschungszentrum TRON der Universität Mainz in Kooperation mit BioNTech an einem Impfstoff gegen Multiple Sklerose. Der Ansatz basiert auf der Nutzung von RNA-Technologie.Normalerweise induzieren RNA-Impfungen eine starke Immunantwort. Durch eine spezielle Modifikation der RNA kann diese jedoch ins Immunsystem eingeschleust werden, ohne erkannt zu werden.

Das Immunsystem benötigt normalerweise zwei Informationen für die Aktivierung: ein konkretes Ziel und einen Hinweis, dass es aktiv werden soll. Freie RNA kann ein solcher Hinweis sein, da sie vor allem während einer Infektion auftritt und das Immunsystem aktiviert. Dies wäre bei der Behandlung von MS jedoch kontraproduktiv. Durch die chemische Modifikation wird der spezielle RNA-Impfstoff jedoch quasi unsichtbar und löst keine Immunreaktion aus, sondern stärkt im Gegenteil die regulatorischen Zellen.

Vielversprechende Ergebnisse in Mausmodellen

Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend. In Mausmodellen der MS konnte gezeigt werden, dass die RNA-Impfung die Symptome reduziert. "Wenn wir therapeutisch die RNA applizieren, das heißt, man sieht schon, dass auf alle Fälle der Schwanz gelähmt ist beziehungsweise, dass auch schon ein Hinterbeinchen gelähmt ist. Dann können wir es wirklich soweit wieder reduzieren, dass nur noch die Schwanzspitze gelähmt ist oder dass man wirklich gar keine Symptome mehr bis zum Ende sieht", so Krienke.

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Um die Krankheit bei den Mäusen auszulösen, wird ihnen ein bestimmter Bestandteil der Nerven-Isolationsschicht gespritzt. Aufgrund dieses Wissens konnte Christina Krienke die RNA-Impfung genau auf dieses Molekül oder Antigen maßschneidern. Da die Autoimmunreaktion bei MS-Patienten jedoch gleichzeitig viele Moleküle angreift, hat Christina Krienke ihre RNA-Impfung bei ganz unterschiedlichen Mausmodellen der MS erprobt. Dabei zeigte sich ein sogenannter Nachbareffekt: Die regulatorischen Zellen zielen zwar auf eine Art von fehlgeleiteten Immunzellen ab, aber ihre beruhigenden Botenstoffe bremsen offenbar alle aggressiven Zellen rund um die Isolationsschicht der Nerven mit aus.

MS-Experte Ralf Gold hält die Ergebnisse der Mausversuche für hochspannend.

Individualisierte Impfstoffe und der "Bystander"-Effekt

Ein weiterer Vorteil dieses Impfstoffansatzes ist, dass er leicht auf individuelle krankheitsassoziierte Antigene von Patienten zugeschnitten werden kann. Dies ermöglicht eine personalisierte Therapie, die auf die spezifischen Bedürfnisse jedes Patienten zugeschnitten ist.

Die präklinischen Daten zeigten auch einen immunsuppressiven "Bystander"-Effekt. Dies bedeutet, dass die regulatorischen T-Zellen (Treg), einmal durch ihr Ziel-Antigen aktiviert, bei komplexen Erkrankungen auch Effektor-T-Zellen (Teff) unterdrücken können, die gegen andere Antigene gerichtet sind. Dieser Effekt ist besonders wichtig, da er die Entzündung im Gehirn und Rückenmark reduzieren und die Zerstörung der Myelinscheiden verhindern kann.

Sicherheitsaspekte und Spezifität

Ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen Autoimmunerkrankungen ist die Sicherheit. Es ist entscheidend, dass der Impfstoff keine unspezifische, systemische Immunsuppression auslöst, die das Risiko von Infektionen erhöhen könnte. Die präklinischen Studien mit dem mRNA-Impfstoffkandidaten zeigten, dass er keine Immunreaktionen gegen andere, Nicht-Myelin-Antigene unterdrückt. Dies deutet darauf hin, dass der Impfstoff selektiv auf die fehlgeleiteten Immunzellen wirkt, die für die MS verantwortlich sind, ohne das Immunsystem insgesamt zu schwächen.

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Darüber hinaus führte der Impfstoffkandidat auch nach wiederholter Verabreichung nicht zur Entstehung von Autoantikörpern gegen das Zielantigen. Dies ist eine weitere potenzielle Herausforderung aktueller Autoimmuntherapien, die letztendlich dazu führen könnte, die Krankheit zu verschlimmern.

Der Weg von der Maus zum Menschen

Obwohl die Ergebnisse der Mausversuche vielversprechend sind, ist der Weg von der Maus zum Menschen weit. Menschen weisen eine viel größere Vielfalt auf als Versuchstiere, sowohl was ihr Erbgut als auch was die konkreten Krankheitsverläufe betrifft. Christina Krienke arbeitet deshalb aktuell mit weiteren Mausstämmen und auch an umfangreichen Sicherheitsstudien.

Klinische Studien und weitere Forschung

Derzeit laufen bereits klinische Studien mit liposomalen Nukleosid-modifizierten mRNA-Nanopartikeln bei verschiedenen Erkrankungen. Es ist jedoch noch ein weiter Weg, bis ein Impfstoff gegen MS verfügbar sein wird.

Anokion SA, ein Schweizer Biotech-Entwickler, arbeitet ebenfalls an einer inversen Impfung gegen MS. Bei dieser Methode werden die körpereigenen Antigene, welche zum Beispiel eine Multiple Sklerose auslösen, in der Leber als unschädlich gekennzeichnet. Sie erhalten ein Etikett, ein Label namens "unschädlich". Das erreichten die US-amerikanischen Forscher in Tiermodellen, indem sie dem körpereigenen, schädlichen Antigen einen als unschädlich bekannten Zucker anhefteten, den das periphere Immunsystem immer toleriert: N-Acetyl-Galactosamin, kurz: pGal.

Nach den positiven Studien aus Mausmodellen und solchen mit Primaten, läuft im Moment eine Phase-1-Studie mit MS-betroffenen Patientinnen und Patienten. Oberstes Ziel dieser Phase-1-Studie ist die Sicherheit und Verträglichkeit des Impfstoffes namens ANK-700. Die Rekrutierung der Probanden und Probandinnen ist nun abgeschlossen. Und es liegen bereits Daten aus dem ersten Teil der Phase-1-Studie vor. Demnach zeigte sich ANK-700 bei allen getesteten Dosierungen sicher und gut verträglich. Vorläufige Biomarkerdaten deuten außerdem auf eine antigenspezifischen Immuntoleranz hin und es gibt Hinweise auf die Unterdrückung verwandter Myelin-Antigene, ein gewollter Nebeneffekt, der für die Behandlung komplexer Autoimmunerkrankungen wie MS wichtig ist.

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Impfungen bei MS: Was ist zu beachten?

In der Vergangenheit wurde immer wieder die Sorge geäußert, ob Impfstoffe das Entstehen von Autoimmunerkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) auslösen könnten. Mehrere umfangreiche epidemiologische Studien haben den Zusammenhang zwischen MS und Hepatitis-B Impfung untersucht. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse (Zusammenfassung von Ergebnissen verschiedener Untersuchungen) zur Frage eines Zusammenhangs zwischen einer Tetanus-Impfung und der Entstehung einer MS konnte keinen Zusammenhang zeigen, vielmehr weist die Metaanalyse sogar auf einen möglichen schützenden Effekt der Impfung hin. Auch bezüglich eines möglichen Zusammenhangs zwischen einer Impfung und einer Schubauslösung bei bestehender MS belegt eine neuere Metaanalyse aller durchgeführten Studien die Sicherheit von Impfungen. Für die Tetanus-, BCG-, Hepatitis B- und Varizella-Impfung gibt es keine Evidenz für ein erhöhtes Risiko, nach der jeweiligen Impfung einen MS-Rückfall zu erleiden, für die Influenza-Impfung zeigen die Daten sogar eine klare Evidenz gegen ein erhöhtes Risiko.

Dennoch ist es wichtig, den Impfstatus von MS-Patienten regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls Impfungen aufzufrischen. Eine multizentrische Erhebung aus Deutschland zeigt jedoch, dass der Impfstatus vieler Patienten mit Multipler Sklerose (MS) in Deutschland hochgradig unzureichend ist.

Viele Ärzte befürchten, dass durch Impfungen MS-Schübe ausgelöst werden könnten. Dies betrifft aber nur einige Lebendimpfungen. Alle Totimpfstoffe können und sollten entsprechend STIKO-Empfehlungen auch bei MS-Erkrankten angewendet werden, vor allem bei immunsuppressiven Therapien.

Vor Beginn einer MS-Therapie sollte immer der Impfstatus kontrolliert und ggf. fehlende Impfungen nachgeholt werden. Zeitlich sollten die Impfungen ca. zwei bis vier Wochen vor Beginn einer langfristigen Immuntherapie abgeschlossen sein, wenn die MS-Therapie entsprechend verschiebbar ist. Je nach Krankheitsaktivität kann individuell eine frühere Einleitung der MS-Therapie erwogen werden.

Während der Immuntherapie gibt es erste Daten zu Impfantworten auf die Corona-Impfung unter den verschiedenen Immuntherapien. Allerdings lässt die Datenbasis derzeit nur eine erste Abschätzung weniger hochaktiver Therapien zu. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann dennoch der Impferfolg, aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit anderen Impfstoffen (z.B. der Grippeimpfstoffe), auf die Corona-Impfstoffe übertragen werden. Sollte die Impfantwort als möglicherweise vermindert eingeschätzt werden, kann eine Antikörperbestimmung nach der vollständig durchgeführten Impfung erfolgen.

Ein Schub sollte, mit und ohne hochdosierte Schubtherapie, mindestens sechs Wochen zurückliegen bevor eine Impfung gegen Covid-19 erfolgt. Dies gilt auch, wenn in einer MRT-Kontrolle, auch ohne neue Symptome, Kontrastmittel aufnehmende Herde nachgewiesen wurden.

Auswirkungen von MS-Therapien auf Impfungen

Verschiedene MS-Therapien können die Immunantwort auf Impfungen beeinflussen. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt:

  • Alemtuzumab (Lemtrada): In den ersten sechs Monaten nach einem Therapiezyklus der Therapie erfolgen noch abgeschwächte Impfantworten, von daher sollte der Abstand mindestens sechs Monate betragen.
  • Azathioprin (Imurek): Abgeschwächte Immunantworten in Abhängigkeit von der Dosierung.
  • B-Zell depletierende Therapien (Ocrelizumab/Ocrevus, Ofatumumab/Kesimpta, Rituximab/Mabthera u.a. (off-Label), Ublituximab/Briumvi usw.: Erste Antikörperbestimmungen nach erfolgter Corona-Schutzimpfung bei MS-Erkrankten, die mit B-Zell depletierenden Therapien behandelt wurden, zeigen, dass nach Impfungen mit dem BioNTech-Impfstoff, geimpft vier bis sechs Monate nach der letzten Infusion, nur ein 20-prozentiges Ansprechen bezüglich des Impftiters erfolgt. Empfohlen werden kann eine Impfung am besten vier Monate nach der letzten Infusion. Sollten keine ausreichenden Titer festgestellt werden, werden weitere Impfungen empfohlen.
  • Cladribin (Mavenclad): Bisherige Daten zeigen ein Impfansprechen auf den Corona-Impfstoff von BioNTech, ca. drei bis vier Monate nach der letzten Tabletteneinnahme. Die Impfung erfolgt am günstigsten dann, wenn sich die Lymphozytenzahl weitgehend normalisiert hat, in der Regel drei Monate nach der letzten Tablettengabe.
  • Cortison-Therapie: Die übliche Schubtherapie beeinflusst Impfantworten. Impfungen sollten frühestens zwei Wochen, besser vier Wochen nach einer Hochdosistherapie erfolgen.
  • Dimethylfumarat (Tecfidera) und Diroximelfumarat (Vumerity): Keine Hinweise auf verminderten Impfschutz.
  • Glatirameracetat: (Copaxone 20 und 40, Clift): Impfreaktion gegen Grippe etwas geringer, aber ausreichend; gegen Corona ähnlich erwartet.
  • Interferon-beta (Avonex, Betaferon, Extavia, Plegridy, Rebif 22 und 44): Impfungen gegen Grippeviren zeigten eine gegenüber nicht Interferon-beta Behandelten vergleichbare Impfantwort. Bezüglich der Covid-19-Impfungen gibt es vereinzelt Hinweise, dass eine Therapie mit Interferon-Präparaten keinen Einfluss auf die Impfantwort hat.
  • Mitoxantron (Novantron, Ralenova): Aufgrund des Wirkungsmechanismus ist während der Therapiezyklen eine verminderte Impfantwort zu erwarten, die auch nach Beendigung des letzten Zyklus, der langfristige Blutbildveränderungen mit sich bringt. Es sollte mindestens ein Abstand von sechs Monaten nach der letzten Gabe zur Durchführung einer Corona-Schutzimpfung eingehalten werden.
  • Natalizumab (Tysabri): Impfantworten gegen Grippeviren waren etwas vermindert, aber ausreichend. Bzgl. der Covid-19-Impfungen gibt es vereinzelt Hinweise, dass eine Therapie mit Natalizumab keinen Einfluss auf die Impfantwort hat, sodass die regelmäßigen Infusionen mit der Corona-Schutzimpfung auch zeitnah einhergehen können.
  • Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor Modulatoren (Fingolimod/Gilenya, Ozanimod/Zeposia, Siponimod/Mayzent und Ponesimod/Ponvory): Unter der Therapie mit Fingolimod ist ein reduzierter Impferfolg zu berücksichtigen. Erste Antikörperbestimmungen nach erfolgter Corona-Schutzimpfung bei MS-Erkrankten, die mit Fingolimod behandelt werden, zeigen, dass nach Impfungen mit dem BioNTech-Impfstoff nur selten Antikörperentwicklung nachweisbar war. Bei den Neuen Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor Modulatoren (Siponimod, Ozanimod, Ponesimod) kommt es in den meisten Studien zu einem guten Impferfolg.
  • Autologe Knochenmarkstransplantation (sog. Stammzelltherapie): Es sind mindestens sechs Monate Abstand zwischen Stammzelltransplantation und Impfung zu empfehlen, um eine ausreichende Impfantwort zu erreichen.
  • Teriflunomide (Aubagio): Unter Aubagio kann der Impferfolg bei üblichen Impfungen reduziert sein, wird aber im Allgemeinen als ausreichend angesehen.

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