Multiple Sklerose und Tinnitus: Ursachen und Zusammenhänge

Tinnitus, das Wahrnehmen von Geräuschen ohne externe Schallquelle, ist ein weit verbreitetes Phänomen. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland etwa 10 bis 15 % der Gesamtbevölkerung an Tinnitus, wobei 2 bis 3 Millionen Menschen von chronischem Tinnitus betroffen sind. Die Ausprägungen und Ursachen der Ohrgeräusche können vielfältig sein und reichen von Rauschen, Pfeifen, Klopfen oder Brummen im Ohr bis hin zu Ohrensausen. Oft geht ein Tinnitus auch mit einer Hörminderung einher.

Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Multipler Sklerose (MS) und Tinnitus besteht, ist komplex. Obwohl Tinnitus nicht als typisches Symptom der MS gilt, berichten einige MS-Patienten über Ohrgeräusche. Dieser Artikel beleuchtet die möglichen Ursachen von Tinnitus im Zusammenhang mit MS und gibt einen Überblick über Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten.

Multiple Sklerose: Eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der das Immunsystem fälschlicherweise dieMyelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Dieser Angriff führt zu Entzündungen und Schädigungen der Nervenfasern, was die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper stören kann.

Die Erkrankung beginnt meist im jungen Erwachsenenalter, wobei Frauen doppelt so oft betroffen sind wie Männer. MS kann zu einer Vielzahl von neurologischen Symptomen führen, die je nach betroffenem Bereich des Nervensystems variieren. Häufige Symptome sind:

  • Lähmungen
  • Sehstörungen
  • Sensibilitätsverluste
  • Koordinationsstörungen
  • Müdigkeit (Fatigue)
  • Kognitive Beeinträchtigungen

Der Verlauf der MS ist sehr unterschiedlich. Bei den meisten Betroffenen verläuft die Erkrankung schubartig, wobei sich Symptome plötzlich verschlimmern oder neue Symptome auftreten, gefolgt von Phasen der teilweisen oder vollständigen Erholung. Bei einigen Patienten geht die schubförmige MS nach einigen Jahren in eine schleichend fortschreitende Form über (sekundär progrediente MS). Es gibt auch eine primär progrediente Form, bei der die Symptome von Anfang an kontinuierlich fortschreiten.

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Tinnitus: Vielfältige Ursachen für Ohrgeräusche

Tinnitus ist die auditive Wahrnehmung von Geräuschen, ohne dass eine externe Schallquelle vorhanden ist. Die Geräusche werden von den Betroffenen unterschiedlich wahrgenommen, beispielsweise als Summen, Klingeln, Pfeifen oder Brummen. Tinnitus kann vorübergehend oder chronisch auftreten und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen.

Die Ursachen von Tinnitus sind vielfältig. Man unterscheidet zwischen subjektivem und objektivem Tinnitus. Der subjektive Tinnitus, der etwa 99 % der Fälle ausmacht, wird nur von dem Betroffenen selbst gehört. Seine Entstehung ist bislang nicht vollständig geklärt. Fachleute gehen davon aus, dass geschädigte Haarzellen oder fehlgeschaltete Nervenbahnen falsche Signale an das Gehirn weitergeben. Eine andere Störungsquelle kann direkt im Hörzentrum entstanden sein, so dass die übermittelten Informationen des Hörnervs richtig ankommen, aber falsch verarbeitet werden.

Der objektive Tinnitus kann von anderen Menschen gehört und medizinisch messbar gemacht werden. Es handelt sich hierbei um Strömungsgeräusche von Blutgefäßen durch Verengungen (pulsierendes Geräusch) oder klickende Töne, die durch unwillkürlich zuckende Bewegungen der Muskulatur im Mittelohr oder Gaumen entstehen.

Zu den häufigsten Ursachen von Tinnitus gehören:

  • Lärmbelastung: Hohe oder langfristige Lärmbelastung, beispielsweise durch laute Musik oder Maschinenlärm, kann die Haarzellen im Innenohr schädigen und zu Tinnitus führen.
  • Hörverlust: Altersbedingter Hörverlust oder Hörverlust aufgrund anderer Ursachen kann ebenfalls Tinnitus verursachen.
  • Infektionen: Mittelohrentzündungen oder andere Infektionen des Ohrs können Tinnitus auslösen.
  • Medikamente: Einige Medikamente können als Nebenwirkung Tinnitus verursachen.
  • Psychische Ursachen: Stress, Depressionen, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen können Tinnitus verstärken oder auslösen.
  • Hörsturz: Ein plötzlicher teilweiser oder kompletter Hörverlust (Innenohrschwerhörigkeit) kann mit Tinnitus einhergehen.
  • Morbus Menière: Diese Erkrankung des Innenohrs kann zu Tinnitus, Schwindel und Hörverlust führen.
  • Kopfverletzungen und Traumata: Verletzungen des Kopfes oder der Halswirbelsäule können Tinnitus verursachen.
  • Vaskuläre Probleme: Blutgefäßanomalien oder Durchblutungsstörungen im Ohrbereich können Tinnitus verursachen.
  • Kiefergelenkprobleme: Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), also Schmerzen und Fehlfunktionen der Kaumuskulatur und der Kiefergelenke, kann ebenfalls Tinnitus auslösen.
  • Veränderte Druckverhältnisse im Ohr:

Mögliche Zusammenhänge zwischen MS und Tinnitus

Obwohl Tinnitus nicht zu den typischen Symptomen der MS gehört, gibt es verschiedene mögliche Erklärungen für das Auftreten von Ohrgeräuschen bei MS-Patienten:

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  1. Läsionen im Gehirn: MS-bedingte Entzündungen und Schädigungen im Gehirn können auch Bereiche betreffen, die für die Verarbeitung von akustischen Signalen zuständig sind. Läsionen im Hirnstamm oder in der Hörrinde können möglicherweise zu Tinnitus führen.
  2. Medikamente: Einige Medikamente, die zur Behandlung von MS eingesetzt werden, können als Nebenwirkung Tinnitus verursachen. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Antidepressiva oder Immunmodulatoren.
  3. Begleiterkrankungen: MS-Patienten leiden häufiger an Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Schlafstörungen, die wiederum Tinnitus verstärken oder auslösen können.
  4. Susac-Syndrom: In seltenen Fällen kann Tinnitus im Rahmen des Susac-Syndroms auftreten, einer Autoimmunerkrankung, die die kleinen Blutgefäße im Gehirn, der Netzhaut und des Innenohrs betrifft. Gerade die Kombination zentralnervöser Symptome mit Sehstörungen bei jungen Patienten führt regelmäßig zu der Fehldiagnose einer Multiplen Sklerose. „Dabei sind Hörstörungen für die MS eher untypisch“, erklärt Dr. Kleffner. „Im Gegensatz zur MS ist das Susac-Syndrom nämlich eine Erkrankung der Blutgefäße und nicht der Myelinscheide.“
  5. Zufälliges Zusammentreffen: Es ist auch möglich, dass das Auftreten von Tinnitus bei MS-Patienten ein zufälliges Zusammentreffen ist und keine direkte Verbindung zur MS besteht.

Diagnose von Tinnitus bei MS-Patienten

Die Diagnose von Tinnitus bei MS-Patienten umfasst in der Regel die folgenden Schritte:

  1. Anamnese: Der Arzt erfragt die genaue Art der Ohrgeräusche, deren Dauer, Häufigkeit und Intensität sowie begleitende Symptome wie Hörverlust, Schwindel oder Kopfschmerzen. Auch die Krankengeschichte des Patienten und die eingenommenen Medikamente werden erfasst.
  2. Hörtest: Ein Hörtest (Audiogramm) wird durchgeführt, um das Hörvermögen zu überprüfen und einen möglichen Hörverlust festzustellen.
  3. HNO-ärztliche Untersuchung: Eine Untersuchung durch einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO-Arzt) dient dazu, andere Ursachen für den Tinnitus auszuschließen, beispielsweise eine Mittelohrentzündung oder einen Hörsturz.
  4. Neurologische Untersuchung: Bei MS-Patienten ist eine neurologische Untersuchung wichtig, um den Zustand der MS zu beurteilen und mögliche neurologische Ursachen für den Tinnitus zu identifizieren.
  5. Bildgebung: In einigen Fällen kann eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns durchgeführt werden, um MS-bedingte Läsionen in den Hörbahnen oder anderen relevanten Hirnregionen zu erkennen.
  6. Weitere Untersuchungen: Je nach Verdacht können weitere Untersuchungen wie eine Tinnitus-Analyse, eine otoakustische Emissionsmessung (OAE) oder eine Untersuchung der Hirnstamm-Audiometrie (BERA) durchgeführt werden.

Behandlung von Tinnitus bei MS-Patienten

Die Behandlung von Tinnitus bei MS-Patienten richtet sich nach der Ursache der Ohrgeräusche und dem individuellen Leidensdruck des Patienten. Da Tinnitus viele verschiedene Ursachen haben kann, ist oft eine interdisziplinäre Herangehensweise sinnvoll. Es gibt keineStandardtherapie für Tinnitus, aber verschiedene Behandlungsansätze können helfen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.

Mögliche Behandlungsoptionen sind:

  1. Behandlung der Grunderkrankung: Wenn der Tinnitus durch eine Grunderkrankung wie eine Mittelohrentzündung, einen Hörsturz oder eine CMD verursacht wird, sollte diese behandelt werden.
  2. Anpassung der Medikamente: Wenn Medikamente als Ursache für den Tinnitus vermutet werden, sollte in Absprache mit dem Arzt geprüft werden, ob die Dosis reduziert oder das Medikament gewechselt werden kann.
  3. Hörgeräte: Bei Tinnitus in Verbindung mit einem Hörverlust können Hörgeräte helfen, die Hörfähigkeit zu verbessern und den Tinnitus zu überdecken.
  4. Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT): Die TRT ist ein psychotherapeutischer Ansatz, der darauf abzielt, die Wahrnehmung des Tinnitus zu verändern und dieStressreaktion darauf zu reduzieren. Ziel ist es, dass der Tinnitus nicht mehr alsBedrohung wahrgenommen wird und in den Hintergrund tritt.
  5. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Die KVT ist eine weitere psychotherapeutische Methode, die helfen kann, den Umgang mit Tinnitus zu verbessern und negative Gedanken und Gefühle zu reduzieren.
  6. Entspannungstechniken: Stress kann Tinnitus verstärken. Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Yoga oder Meditation können helfen, Stress abzubauen und die Symptome zu lindern.
  7. Geräuschtherapie: Bei der Geräuschtherapie werden leise, angenehme Geräusche eingesetzt, um den Tinnitus zu überdecken und die Aufmerksamkeit davon abzulenken. Dies kann beispielsweise mit einemNoiser, einem Tinnitus-Masker oder entspannenderMusik erfolgen.
  8. Medikamentöse Therapie: Es gibt keine spezifischen Medikamente gegen Tinnitus. In einigen Fällen können jedoch Medikamente eingesetzt werden, um begleitende Symptome wie Schlafstörungen, Depressionen oder Angstzustände zu behandeln.
  9. Physiotherapie: Bei Tinnitus in Verbindung mit Nackenverspannungen oder CMD kann Physiotherapie helfen, die Muskeln zu entspannen und dieFunktion der Kiefergelenke zu verbessern.
  10. Alternative Therapien: Einige Patienten berichten von positiven Erfahrungen mit alternativen Therapien wie Akupunktur,Chirotherapie oderHomöopathie. Die Wirksamkeit dieser Methoden bei Tinnitus ist jedoch wissenschaftlich nicht ausreichend belegt.

Was können MS-Patienten selbst tun?

Neben den genannten Behandlungsoptionen gibt es auch einige Maßnahmen, die MS-Patienten selbst ergreifen können, um mit Tinnitus besser umzugehen:

  • Stressmanagement: Stress ist ein wichtiger Faktor bei Tinnitus. MS-Patienten sollten versuchen, Stress zu vermeiden oder abzubauen, beispielsweise durch Entspannungstechniken, Sport oder Hobbys.
  • Gesunder Lebensstil: Eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung können das allgemeine Wohlbefinden verbessern und Tinnitus reduzieren.
  • Lärmschutz: MS-Patienten sollten ihre Ohren vor lauten Geräuschen schützen, beispielsweise durch das Tragen von Ohrstöpseln bei Konzerten oder in lauten Umgebungen.
  • Vermeidung von Reizstoffen: Einige Substanzen wie Koffein, Alkohol oder Nikotin können Tinnitus verstärken. MS-Patienten sollten daher ihren Konsum dieser Substanzen einschränken oder vermeiden.
  • Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein, um mit Tinnitus umzugehen und Strategien zur Bewältigung zu entwickeln.
  • Aufklärung: Je besser MS-Patienten über Tinnitus informiert sind, desto besser können sie damit umgehen und die richtige Behandlung wählen.

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