Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die weltweit etwa zwei Millionen Menschen betrifft. In Deutschland wird die Zahl der Erkrankten auf über 200.000 geschätzt. Obwohl die MS nicht heilbar ist, haben sich die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren rasant entwickelt. Ein weitverbreiteter Irrtum ist, dass MS-Patienten zwangsläufig auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Dieser Artikel beleuchtet die Realität der Rollstuhl-Notwendigkeit bei MS, die Fortschritte in der Therapie, die verschiedenen Arten von Rollstühlen und die Bedeutung einer individuellen Hilfsmittelversorgung.
Multiple Sklerose: Die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern
Die MS wird oft als "Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" bezeichnet, da sie sich bei jedem Betroffenen anders äußert. Die entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems wird durch eine Fehlsteuerung des Immunsystems ausgelöst. Dies führt zu vielfältigen Symptomen wie Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen, Schmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Da grundsätzlich alle Nerven betroffen sein können, sind die Beschwerden entsprechend vielseitig und verstärken sich bei Fieber, Anstrengung oder Hitze.
Ursachen und Verlauf der MS
Die genauen Ursachen der MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass genetische Einflüsse, Virusinfekte und Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Die MS verläuft bei den meisten Patienten in Schüben, wobei sich die Symptome nach Tagen oder Wochen wieder bessern (remittierend). Bei etwa 30-50% der Betroffenen geht die schubförmig-remittierende MS innerhalb von 6 bis 10 Jahren in eine sekundär-progrediente Form über, bei der sich die Behinderungen kontinuierlich verschlechtern. Etwa 20% der Erkrankten erleiden von Beginn an einen primär-progredienten Verlauf.
Diagnose und Therapie
Die Diagnose der MS ist aufgrund der vielfältigen Symptome und des individuellen Verlaufs oft schwierig. Sie basiert auf einer Kombination von neurologischen Untersuchungen, Kernspintomographie (MRT), Liquoruntersuchung und elektrophysiologischen Untersuchungen. Moderne Diagnosekriterien ermöglichen eine gesicherte Diagnose oft schon nach dem ersten Schub.
Die MS-Therapie zielt darauf ab, akute Schübe zu mindern, beschwerdefreie Intervalle zu verlängern und Rückfälle zu vermeiden. Ärzte verabreichen hierzu u. a. Glukokortikosteroide zur Unterdrückung akuter Entzündungsprozesse. In der Langzeittherapie stehen verschiedene immunmodulierende Substanzen zur Verfügung, die den Verlauf der MS positiv beeinflussen können. Zudem werden die Symptome der MS, wie z.B. Spastik, medikamentös bzw. auch durch nicht-medikamentöse Maßnahmen behandelt.
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Fortschritte in der MS-Therapie und ihre Auswirkungen auf die Rollstuhl-Notwendigkeit
Dank der rasanten Entwicklung der MS-Therapie hat sich die Langzeitprognose für MS-Patienten deutlich verbessert. Eine aktuelle US-amerikanische Studie zeigt, dass fast 90 Prozent der Patienten mit Multipler Sklerose (MS) knapp 17 Jahre nach der Erstdiagnose noch ohne Hilfe gehfähig sind. Ohne Therapie wären nach vergleichbaren epidemiologischen Studien in dieser Zeit nur etwa 50 Prozent ohne Gehhilfe oder einen Rollstuhl ausgekommen.
Die EPIC-Studie aus San Francisco
Eine Langzeitstudie der Universität von Kalifornien in San Francisco (EPIC) untersuchte die Entwicklung von Behinderungen bei MS-Patienten über einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren. Die Ergebnisse zeigten, dass bei 41 Prozent der Studienteilnehmer unter einer Therapie mit Interferon beta und hochpotenten Wirkstoffen wie Natalizumab und Rituximab der EDSS-Wert (Expanded Disability Status Scale) stabil blieb oder sich sogar verbesserte. Nur 10,7 Prozent der Patienten erreichten während der medianen Krankheitszeit von 16,8 Jahren einen EDSS-Wert von 6 oder größer, was der Notwendigkeit von Krücken oder eines Rollstuhls entspricht.
Bedeutung der Immuntherapie
Die Studie belegte auch, dass eine Immuntherapie spätere Behinderungen reduzieren kann. Eine kürzlich veröffentlichte multizentrische retrospektive Beobachtung (Jokubaitis et al., Ann Neurol) zeigte ebenfalls, dass die Langzeitprognose unter Immuntherapie besser ist, als man es aus früheren natürlichen Verlaufsstudien oder im direkten Vergleich ohne Therapie erwarten würde.
Einschränkungen der Studienergebnisse
Es ist wichtig zu beachten, dass die Zahlen aus der EPIC-Studie aus einem einzigen Zentrum stammen und daher mit Vorsicht interpretiert werden müssen. Zudem erlitten über die Zeit 59 Prozent der Studienteilnehmer eine klinisch signifikante Behinderung. Die Studie verdeutlicht aber auch, dass die MS-Forschung noch lange nicht am Ziel ist.
Die Rolle von Hilfsmitteln: Mehr als nur ein Rollstuhl
Auch Hilfsmittel aus dem Sanitätshaus spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der MS. Sie können die Lebensqualität erhöhen und Defizite reduzieren.
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Der Gehstock als erstes Hilfsmittel
Ein erstes Hilfsmittel aus dem Bereich der Reha-Technik ist häufig ein Gehstock. Je nach Einschränkung können weitere Hilfsmittel dazukommen, wie z.B. ein Rollator oder ein Aktivrollstuhl bis hin zum Pflegerollstuhl. Im Wohnumfeld muss die Sturzgefahr minimiert werden.
Die Bedeutung der individuellen Abstimmung
Die Hilfsmittelversorgung sollte eng mit dem Patienten abgestimmt werden. MS-Patienten sind meist sehr mündige Patienten, die sich Ihrer Krankheit bewusst sind und sich mit den nötigen Hilfsmitteln auseinandersetzen. Sanitätshäuser sind Fachhändler mit speziell ausgebildeten Fachberatern, die MS-Patienten umfassend beraten können.
Rollstuhlarten und ihre Einsatzgebiete
Die Bandbreite an Rollstühlen mit verschiedenen Funktionsweisen ist groß. Die Auswahl des richtigen Rollstuhls sollte in Absprache mit dem behandelnden Arzt und den Experten im Sanitätsfachhandel erfolgen.
Aktivrollstuhl/Adaptivrollstuhl
Der Aktivrollstuhl bzw. Adaptivrollstuhl ist für eine dauerhafte Nutzung von relativ vitalen und agilen Rollstuhlfahrern geeignet. Er lässt sich am besten an die Bedürfnisse seines Nutzers anpassen und ermöglicht eine hohe Flexibilität und einen aktiven Lebensstil.
Standardrollstuhl
Der Standardrollstuhl dient als Übergangslösung, für Krankentransporte, in (Senioren-) Heimen oder nach Beinverletzungen.
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Elektrorollstuhl
Der Elektrorollstuhl ist für Menschen geeignet, die ein größeres Defizit in Bezug auf die Armkraft bzw. in der Arm-/Hand-Beweglichkeit haben.
Pflegerollstuhl
Der Pflegerollstuhl ist für Patienten gedacht, die auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen sind.
Unterschiede zwischen Falt- und Starrrahmenrollstühlen
Aktivrollstühle sind in einer faltbaren Version oder mit einem starren Rahmen erhältlich. Der größte Vorteil des Faltrollstuhls ist seine platzsparende Größe, vor allem wenn er transportiert werden soll. Der Starrrahmenrollstuhl ist leichter als die faltbare Version und eignet sich vor allem für sportliche und fortgeschrittene Rollstuhlfahrer.
Sportrollstühle
Aktivrollstühle gibt es schließlich auch für den sportlichen Gebrauch. Die Sportrollstühle sind nicht für den Alltag gedacht und müssen besonders hohe Ansprüche in Bezug auf die Belastbarkeit, Leichtigkeit und Sicherheit erfüllen.
Wie erhalte ich meinen Wunschrollstuhl?
Wird die Anschaffung eines Rollstuhls nötig, hat der Patient in der Regel von seinem behandelnden Arzt eine Verordnung für einen Rollstuhl als medizinisches Hilfsmittel bekommen. In der Regel arbeitet die Kranken- beziehungsweise Pflegekasse mit bestimmten Sanitätshäusern beziehungsweise Fachhändlern zusammen. Deren Fachpersonal berät dich bei der Wahl des richtigen Modells, das alle medizinisch notwendigen Ausstattungsmerkmale enthält.
Anspruch auf einen neuen Rollstuhl
Der Patient kann sehr wohl auch einen neuen Rolli auf Rezept erhalten. Kann der Patient anhand der ärztlichen Verordnung nachweisen, dass er ein eigens auf seine Bedürfnisse angepasstes Modell benötigt, wird das Sanitätshaus einen entsprechenden Kostenvoranschlag erstellen. Wird dieser von der Krankenkasse akzeptiert, zahlt der spätere Nutzer auch hier nur die gesetzliche Zuzahlung von max. zehn Euro.
Unterstützung durch den Arzt
Holen Sie sich hier Unterstützung von Ihrem Arzt, der auf der Verordnung genau definieren muss, welchen Rollstuhl Sie benötigen. Gehen die Anforderungen an den Rollstuhl über das Maß des medizinisch Notwendigen hinaus, ist der Kostenträger allerdings nicht verpflichtet, die Leistung zu übernehmen. Manchmal muss der Patient für seinen Traumrolli kämpfen und nach Erhalt des Bescheids Einspruch einlegen.
Weitere Aspekte der MS und ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität
Neben der Rollstuhl-Notwendigkeit gibt es viele weitere Aspekte, die die Lebensqualität von MS-Patienten beeinflussen können.
Alter bei Erkrankungsbeginn
Das Durchschnittsalter für den Beginn der MS liegt zwischen 15 und 40 Jahren. Die MS wird deshalb auch als "Krankheit junger Erwachsener" bezeichnet.
Nicht ansteckend und geringe Vererbbarkeit
Die MS ist keine Infektionskrankheit und somit nicht ansteckend. Das Risiko, MS auf seine Kinder zu vererben, ist sehr gering und liegt zwischen 1% und 5%.
Depressionen und Stress
MS-Betroffene sind infolge ihrer Erkrankung stärker gefährdet, eine Depression zu entwickeln. Dauerhafter Stress kann das Schubrisiko erhöhen.
Sport und Bewegung
Es ist allgemein unbestritten, dass Bewegung und körperliche Betätigung entscheidend zum menschlichen Wohlbefinden beitragen. Viele wissenschaftliche Untersuchungen konnten nachweisen, dass ein enger Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und seelischer Stimmungslage besteht.
Impfungen
Die meisten gängigen Impfungen (z.B. Grippe, Tetanus, Hepatitis-B etc.), die bei Reisen in bestimmte Länder generell allen Reisenden empfohlen werden, können auch bei Menschen mit MS vorgenommen werden. MS-Betroffene sollten dabei jedoch wissen, dass Impfungen das Immunsystem aktivieren bzw. Immunprozesse beeinflussen. Deshalb ist bei Impfungen ein intensives Gespräch mit dem behandelnden Arzt notwendig.
Lebenserwartung
Die Lebenserwartung wird heute in Ländern mit einer guten medizinischen Versorgung und einer flächendeckenden Verfügbarkeit von immunmodulatorischen und symptomatischen Therapien durch die MS eher geringfügig beeinträchtigt.
Wärmeempfindlichkeit
Bei vielen MS-Betroffenen verstärken sich die MS-Symptome bei hohen Temperaturen. Wärme wird schlecht vertragen.
Blasenprobleme
Im Laufe der MS kann es zu Einschränkungen der Blasenfunktion kommen.
Fatigue
Die rasche Ermüdbarkeit bzw. Energielosigkeit bei körperlichen und geistigen Aufgaben (=Fatigue) gilt als ein typisches Symptom der MS und tritt bei etwa 80% der Betroffenen auf.
Kinderwunsch
Aus medizinischer Sicht ist die Multiple Sklerose kein Hindernis, ein Kind zu bekommen.
Ernährung
Bis heute gibt es keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass die Ernährung bei MS einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf hat.
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit
Selbstverständlich kann die MS Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben. Abhängig von der Art der Tätigkeit, den Symptomen und dem Grad der Behinderung, müssen sich Menschen mit MS gegebenenfalls in ihrem Arbeitsleben neu arrangieren.
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