Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die weltweit Millionen von Menschen betrifft. Bisher ist keine Heilung möglich, und die Erkrankung führt zumeist zu bleibender Behinderung. Ein zentrales Merkmal der MS ist die Schädigung von Nervenfasern, den sogenannten Axonen, und deren isolierender Schutzschicht, dem Myelin. Diese Schädigung ist maßgeblich für den Schweregrad der Erkrankung und den Verlauf der MS verantwortlich. Neueste Forschungsergebnisse der Universität Leipzig und des Max-Planck-Instituts (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen stellen nun bisherige Annahmen über die Rolle des Myelins in Frage und eröffnen neue Perspektiven für die Entwicklung von Therapieansätzen.
Die Rolle des Myelins bei Multipler Sklerose
Axone sind die neuronalen Verbindungen im zentralen Nervensystem, die von einer isolierenden Schutzschicht, dem Myelin, umgeben sind. Das Myelin wird von hochspezialisierten Gliazellen, den Oligodendrozyten, gebildet und ermöglicht die schnelle Weiterleitung elektrischer Nervenimpulse. Bisher ging man davon aus, dass bei MS Oligodendrozyten und Myelin durch Immunzellen abgebaut werden, wodurch die Axone schutzlos lokalen Entzündungsprozessen ausgesetzt sind und irreversible Schäden davontragen.
Neue Erkenntnisse: Myelin als Gefährdung für Axone?
Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass das bisher als schützend angesehene Myelin das Überleben der Axone sogar gefährden kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Myelinscheiden durch Immunzellen angegriffen wurden, aber weiterhin die Axone umhüllen und sie somit von der Außenwelt isolieren. Oligodendrozyten sind nicht nur für die Bildung des Myelins zuständig, sondern leisten auch wichtige Unterstützungsfunktionen für den Energiestoffwechsel der Axone. Myelinisierte Axone sind stark von metabolischer Unterstützung abhängig, da sie kaum eigenen Zugang zu Nährstoffen haben. Diese Unterstützung erfordert eine intakte Architektur des Myelins, einschließlich der engen Kommunikationskanäle zwischen Oligodendrozyten und Axonen.
Prof. Klaus-Armin Nave vom MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften beschreibt die Forschungshypothese des Teams wie folgt: „Wenn Oligodendrozyten einer akuten entzündlichen Umgebung ausgesetzt sind, könnten sie ihre unterstützende Funktion für die Nervenfasern verlieren und das Myelin wird zu einer Bedrohung für das Überleben der Nervenfasern.“
Forschungsmethoden und Ergebnisse
Um diese Hypothese zu überprüfen, untersuchten die Forschenden Gewebeproben von Patient*innen mit Multipler Sklerose sowie verschiedene Mausmodelle der Krankheit, um den Autoimmunangriff auf das Myelin experimentell nachzustellen. Mittels Elektronenmikroskopie konnten sie in den Gewebeproben der Erkrankten nachweisen, dass die irreversible Schädigung fast immer in den noch mit Myelin ummantelten Axonen auftritt. Umgekehrt konnten sie mit Hilfe von genetisch veränderten Mausmodellen zeigen, dass „nackte“ Axone in einer akuten entzündlichen Region des zentralen Nervensystems besser vor der Degeneration geschützt sind.
Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt
Ultrastrukturelle Veränderungen in der weißen Substanz bei MS
Ein deutsch-niederländisches Forschungsteam hat herausgefunden, dass ultrastrukturelle Veränderungen in gesunden Bereichen der weißen Substanz von MS-Patienten das Gewebe anfälliger machen für Entzündungen und die Bildung von Läsionen. Die weiße Substanz besteht aus langen Nervenfasern und Myelin.
Die Forschenden konnten zeigen, dass in der normal aussehenden weißen Substanz von MS-Erkrankten die Myelinscheiden auffällig verändert und das Myelin weniger kompakt ist. Auch sind die Ranvierschen Schnürringe desorganisiert. Zudem fanden sie in dem scheinbar normalen Gewebe zelluläre Marker für eine Entzündung: T-Lymphozyten und aktivierte Immunzellen des Gehirns, sogenannte Mikrogliazellen. Die Dichte der Mitochondrien - die Kraftwerke der Zelle - war in den Fortsätzen von Nervenzellen auffällig erhöht, was nahelegt, dass die Kommunikation zwischen Nervenzellen mehr Energie erfordert als bei gesunden Menschen.
Aletta van den Bosch aus dem niederländischen Team vermutet, dass die Mitochondrien nicht nur lebenswichtige Energie produzieren, sondern auch viele Nebenprodukte wie Sauerstoffradikale, die den Myelinabbau verstärken könnten.
Bedeutung für die MS-Forschung und Therapie
Diese neuen Erkenntnisse stellen das vorherrschende Bild von Myelin als ausschließlich schützende Struktur in Frage und ermöglichen ein tieferes Verständnis der Krankheit. Sie könnten die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien zur Bewahrung der Funktionalität der Nervenfasern ermöglichen.
Prof. Ruth Stassart vom Universitätsklinikum Leipzig erklärt: „Indem wir das vorherrschende Bild von Myelin als ausschließlich schützende Struktur hinterfragen, können wir ein tieferes Verständnis der Krankheit gewinnen und möglicherweise neue therapeutische Strategien entwickeln, um die Funktionalität der Nervenfasern zu bewahren."
Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann
Dr. ergänzt: „Anstatt das geschädigte Myelin zu erhalten könnte es therapeutisch sogar besser sein, den schnellen Abbau zu fördern und die Neubildung von funktionsfähigem Myelin zu unterstützen.“
Die Rolle der Magnetresonanztomographie (MRT)
Die Magnetresonanztomographie (MRT) spielt eine zentrale Rolle bei der Diagnose von MS und der Beurteilung von subklinischer Krankheitsaktivität. MS-Läsionen, die durch Demyelinisierung entstehen, können in der MRT als multifokale Areale abweichenden Signals dargestellt werden. Die konventionelle MRT hat jedoch nur eine geringe Korrelation mit dem klinischen Status der Behinderung und erlaubt keine spezifische Erfassung des Erhaltungszustandes des Myelins. Daher engagiert sich die Neuroradiologie in der Standardisierung der MS-Bildgebung und der Entwicklung von potentiellen Surrogatmarkern, welche eine spezifischere Messung des Myelins erlauben.
Neue quantitative MR Bildgebungstechniken wie die multi-component magnetic resonance Driven Equilibrium Single Pulse Observation of T1/T2 (mcDESPOT) werden in der klinischen Forschung eingesetzt. Diese nicht-invasive MR Technik erlaubt die quantitative Beurteilung der Myelinisierung der weißen Hirnsubstanz und eröffnet neue Möglichkeiten, um in-vivo die Entwicklung demyelinisierender Erkrankungen der weißen Substanz insbesondere bei Multiple Sklerose zu untersuchen.
Axonale Degeneration: Ein Schlüsselfaktor bei MS
Im langfristigen Verlauf der MS können auch Beschädigungen an den Nervenfasern (Axonen) selbst entstehen. Dies wird als „axonaler Schaden" bezeichnet und trägt wesentlich zur bleibenden Behinderung bei MS-Patient*innen bei.
Die Bedeutung der Ranvierschen Schnürringe
Die Myelinscheide weist in regelmäßigen Abständen Lücken auf, die als Ranviersche Schnürringe bezeichnet werden. In diesen Schnürringen sitzen zahlreiche Membranproteine, die für die Reizweiterleitung entscheidend sind. Da diese Ionenpumpen sehr viel Energie verbrauchen, ist das Axon vollgepackt mit Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen.
Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick
Forschende haben herausgefunden, dass bei MS die Ranvierschen Schnürringe desorganisiert sind, was die Signalweiterleitung beeinträchtigen kann.
tags: #multiple #sklerose #axon #veränderungen