Musik gegen Demenz: Studien belegen positive Auswirkungen

Die Zahl der Menschen mit Demenz steigt weltweit rasant an. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass derzeit 55 Millionen Menschen betroffen sind und diese Zahl bis 2050 auf 139 Millionen ansteigen wird. Neben medikamentösen Behandlungen rückt Musik als eine vielversprechende nicht-medikamentöse Therapieform in den Fokus. Studien deuten darauf hin, dass Musik die kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit Demenz verbessern kann.

Was ist Demenz?

Demenz ist ein Sammelbegriff für fortschreitende degenerative Hirnerkrankungen, die Gedächtnis, Denken, Verhalten und Emotionen beeinträchtigen. Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenz, bei der Nervenzellen im Gehirn abgebaut werden. Typische Symptome sind Vergesslichkeit, Schwierigkeiten bei der Planung und Umsetzung von Aufgaben, Probleme mit der räumlichen und zeitlichen Orientierung sowie Sprach- und Schreibschwierigkeiten.

Wie wirkt Musik bei Demenz?

Die Kraft der Musik bei Alzheimer und anderen Demenz-Erkrankungen ist wissenschaftlich belegt. Musiktherapie kann die kognitiven Fähigkeiten bei Menschen mit Demenz verbessern. Eine zusammenfassende Analyse von acht Studien aus dem Jahr 2020 ergab, dass sich durch Musiktherapie die wahrgenommene Lebensqualität und Langzeitdepressionen verbesserten. Am wirksamsten war dabei Musikhören, aber auch Singen zeigte positive Effekte. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2024 konzentrierte sich speziell auf Alzheimer und kam zu dem Schluss, dass Musiktherapie die Hirnleistung von Patienten verbessern kann. Insbesondere die Hirnleistung im Allgemeinen, das Reden, die Orientierung und das Gedächtnis profitierten von der Musiktherapie.

Erinnerungen wecken

Für an Demenz Erkrankte ist an erster Stelle eine Funktion der Musik zu nennen: Erinnerungen wecken. Menschen mit Demenz tauchen im Verlauf ihrer Erkrankung in die Realitäten ihrer Kindheit und Jugend. In dieser Lebensphase werden die prägenden musikalischen Erfahrungen gemacht. Die Musik knüpft hier also an schwergewichtige Ressourcen an. Diese alten musikalischen Erfahrungen erweisen sich als “resistent” gegen das Vergessen. Ein altersdementer Patient, der die Orientierung zu sich selbst verloren hat und seinen einen Namen nicht mehr aussprechen kann, kann aber mühelos ein vier-strophiges Volkslied singen. Die Erfahrung, dies noch zu können, trägt zum Identitätserhalt, zum Angstabbau und somit zu einem großen Stück Lebensqualität bei, aber auch zur Bewunderung durch die soziale Umwelt.

Emotionale Fähigkeiten anregen

Demenzerkrankte verfügen zudem noch sehr lange über emotionale Fähigkeiten, auch wenn die kognitiven schon weitgehend eingeschränkt sind. Diese emotionalen Fähigkeiten können mit Hilfe vertrauter Musik gezielt angeregt werden. Das mündet nicht selten in erhöhte Wachheit und Verbalisierungsfähigkeit: Erlebnisse aus dem Altgedächtnis können wieder erzählt werden.

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Musiktherapie gegen Unruhe

Musiktherapie kann einer weiteren Meta-Studie zufolge bei Menschen mit Demenz auch gegen Unruhe helfen. Das Team hatte zwölf Fachartikel ausgewertet und das Ergebnis im Journal „Frontiers of Psychology“ präsentiert.

Studienlage zur Musiktherapie bei Demenz

Die publizierte wissenschaftliche Evidenz zur therapeutischen Bedeutung von Musik bei demenziellen Erkrankungen ist im Vergleich zu medikamentösen Therapieansätzen bei Demenz gering. Trotzdem: Gab es zum Thema Musik und Demenz im Jahr 2000 noch insgesamt 16 wissenschaftliche Beiträge pro Jahr (PubMed: Suchworte „music“ und „dementia“), ist deren Anzahl im Jahr 2021 auf 123 angestiegen. Leider sind davon nur 9 Publikationen als „klinische Studien“ klassiert, was die Hauptherausforderung in dieser „jenseits des Mainstreams“ gelegenen Thematik unterstreicht: Planung und Durchführung guter randomisierter, kontrollierter Interventionsstudien sind extrem anspruchsvoll.

Aktive vs. passive Musikintervention

In einer kürzlich veröffentlichten randomisierten, kontrollierten spanischen Interventionsstudie wurde eine aktive musikalische Gruppenintervention mit passivem Musikhören (ebenfalls im Gruppensetting) verglichen - als Kontrolle diente eine Gruppe ohne Musikintervention. Die aktive Musikgruppenintervention bestand in einem Willkommenslied, Rhythmik, Tanzen, einem Musikquiz und einem Abschiedslied. Die Musikhörgruppe bekam in sitzender Position Musikaufzeichnungen aus dem Computer zu hören, wobei jeweils Sänger wie Titel der gespielten Musik vom Gruppenanimator bekannt gegeben wurden und auch die Möglichkeit für die Pflegeheimbewohner bestand, ihre Erinnerungen und Gefühle zur gehörten Musik auszudrücken und zu diskutieren. Die Wahl der gespielten Musikstücke wurde mit den vorher mittels Fragebogen ermittelten Musikpräferenzen der Studienteilnehmer abgestimmt. Der Kontrollgruppe wurden dokumentarische Naturvideos gezeigt, die vor allem von der afrikanischen Tierwelt handelten und akustisch lediglich Naturgeräusche und keine Musik beinhalteten. Jede Intervention dauerte rund 45 min und fand 2‑mal wöchentlich über 3 Monate statt.

Aktives Musikmachen

Eine ebenfalls kürzlich veröffentlichte systematische Übersicht und Metaanalyse untersuchte die Effekte von aktivem Musikmachen bei Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz. Dabei wurden 21 randomisierte, kontrollierte Studien mit insgesamt 1472 Teilnehmern in die Analyse eingeschlossen. Alle Studien nutzten entweder die Reproduktion von Musik mit Singen bzw. Spielen eines Musikinstruments oder Musikimprovisation aus dem Moment heraus. Über alle Studien zeigte die Musikintervention einen kleinen, aber signifikanten positiven Effekt auf die Kognition der Studienteilnehmer.

Langzeit-Musikgedächtnis

Jacobsen et al. zeigten im Jahr 2015 eindrücklich auf, dass das Hirnareal des musikalischen Langzeitgedächtnisses im Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung - verglichen mit dem restlichen Hirn - lediglich eine minimale kortikale Atrophie und Disruption des Glukosemetabolismus aufweist. Dies erklärt die immer wieder gemachte klinische Beobachtung, dass Patienten in fortgeschrittenen Demenzstadien mit Sprachverlust beim Hören von bekannten Liedmelodien fehlerfrei ganze Liedstrophen mitsingen können.

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Dass Musik das verbale Gedächtnis von Patienten mit Alzheimer-Erkrankung stärken kann, wurde in einer anderen, im selben Jahr publizierten Interventionsstudie gezeigt. Kognitiv Gesunde wie auch Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz konnten sich an gesungene Texte im Vergleich zu den gleichen, aber gesprochenen Texten signifikant besser erinnern. Dreimonatige musikalische Gruppeninterventionen bei Patienten mit früher Alzheimer-Erkrankung führten unmittelbar und auch 6 Monate nach Intervention zu signifikanten kognitiven, emotionalen und sozialen Verbesserungen.

Cochrane Review

Ein niederländisches Cochrane-Team untersuchte in einem aktuellen Cochrane Review die Ergebnisse von 30 Studien mit 1.720 an Demenz erkrankten Personen, die mindestens fünf Sitzungen Musiktherapie erhielten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Musiktherapie im Vergleich zur üblichen Versorgung wahrscheinlich direkt nach der Intervention depressive Symptome verbessert. Möglicherweise verbessern sich auch allgemeine Verhaltensprobleme. Ob sich die Musiktherapie auf Unruhe, Aggression, emotionales Wohlbefinden oder Kognition auswirkt, ist unklar. Im Vergleich zu anderen Aktivitäten wie Malen, verbessert eine Musiktherapie direkt nach der Intervention möglicherweise das Sozialverhalten und verringert möglicherweise Ängste.

Praktische Umsetzung der Musiktherapie

Die Erkenntnisse über die positiven Auswirkungen von Musik bei Demenz werden bereits in der Praxis umgesetzt. So organisiert der Nordbayerische Musikbund (NBMB) im Rahmen des Projekts „Ein Lied für Dich“ Mitmach-Konzerte für Menschen mit Demenz. Zudem können sich Hobby-Musiker beim NBMB in Workshops weiterbilden lassen, wenn sie Musik in Pflegeeinrichtungen bringen möchten.

Individualisierte Musik

In Forschungsprojekten wird die persönliche Lieblingsmusik über Fragebögen und Interviews mit den Angehörigen und, wenn möglich, auch den Menschen mit Demenz erfragt und als Musikliste zusammengestellt. In einem Projekt der Universität Jena wurde untersucht, wie Menschen mit Demenz aller Schweregrade, die in einem Pflegeheim leben, das regelmäßige Hören von individualisierter Musik annehmen. Die Musikintervention konnte erfolgreich in den verschiedenen Pflegeheimen umgesetzt werden. Nach ersten Auswertungen zu kurzfristigen Effekten der Musikintervention aus den 60-minütigen Verhaltensbeobachtungen finden sich bei den teilnehmenden Menschen mit Demenz stets individuelle, jedoch vorwiegend positive Reaktionen auf das Musikhören.

Musik als präventive Maßnahme

Eine große australische Studie untersuchte die Daten von 10.893 australischen Senioren ab 70 Jahren und fand heraus, dass bei denjenigen, die regelmäßig Musik hörten, das Demenzrisiko um 39 Prozent geringer war als bei denen, die nie, selten oder manchmal Musik hörten. Auch das Spielen eines Instruments wirkte positiv: Personen, die oft oder immer musizieren, hatten ein 35 Prozent geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken.

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Musiktherapie in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie

Für die häufigsten psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen im Alter - Depression und Altersdemenz - bietet Musiktherapie grundlegende Hilfen. Aber auch bei Schlaganfall und Parkinson leistet Musiktherapie unersetzliche Dienste.

Depressiven Patienten, deren Gefühlswelt erstarrt ist, stellen einige Eigenschaften der Musik basale Unterstützungspotentiale bereit. Der wichtigste Aspekt bei dieser Erkrankung ist die emotionalisierende Wirkung von Musik, die die Gefühlsleere füllen und die Erstarrung verflüssigen kann. Wo die Gefühlsebene nicht mehr verbalisiert werden kann, ersetzt musikalisches Erleben die Worte und fördert differenzierende Wahrnehmung. Andere Aspekte der Musik sind beispielsweise ihre Funktion als Erinnerungsträger. Musik aktiviert Assoziationen an - meist positiv besetzte - Erlebnisse der Vergangenheit und kann helfen, Lebensbilanzen besser zu bewerten und die brüchig gewordene Identität zu stabilisieren. Musikmachen fördert darüber hinaus die Bereitschaft zu experimentieren, sich probehalber auf neue Erfahrungen einzulassen und neue Lösungswege zu suchen.

Herausforderungen und Zukunftsperspektiven

Trotz der positiven Effekte kämpft die Musiktherapie in Deutschland um Anerkennung. Im Vergleich zu anderen Ländern hinkt Deutschland bei der strukturellen und finanziellen Umsetzung von Kreativtherapien hinterher. Aus diesem Grund diskutieren die Teilnehmenden des Europäischen Musiktherapie-Kongresses in Hamburg unter anderem über musiktherapeutische Ansätze bei Demenz und darüber, wie kreative Therapien künftig besser verankert und internationaler gedacht werden können.

Die publizierte wissenschaftliche Evidenz zur therapeutischen Bedeutung von Musik bei demenziellen Erkrankungen ist im Vergleich zu medikamentösen Therapieansätzen bei Demenz gering. Planung und Durchführung guter randomisierter, kontrollierter Interventionsstudien sind extrem anspruchsvoll.

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