Die Wirksamkeit von Musik gegen Demenz: "Alive Inside" und personalisierte Therapieansätze

Der Dokumentarfilm "Alive Inside" hat eindrücklich gezeigt, wie Musik die Lebensqualität von Menschen mit Demenz verbessern kann. Dieser Artikel beleuchtet die vielfältigen Aspekte der Musiktherapie bei Demenz, von den im Film dargestellten bewegenden Erfahrungen bis hin zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Anwendungen.

"Alive Inside": Ein Film bewegt die Welt

Der 2014 veröffentlichte Dokumentarfilm "Alive Inside" von Michael Rossato-Bennett dokumentiert die tiefgreifende Wirkung von Musik auf Menschen mit Demenz. Der Film begleitet Betroffene, Angehörige und Experten wie den Neurologen Oliver Sacks und den Musiker Bobby McFerrin und zeigt, wie personalisierte Musik Erinnerungen wecken, die Lebensgeister neu entfachen und ein Gefühl der Identität zurückgeben kann.

Die Wiederherstellung der Erinnerung durch Musik: Ein Blick auf die Grundlagen

Unsere Erinnerungen sind eng mit unseren Sinnen verbunden. Die neuerliche Aktivierung eines Sinnes kann lebhafte Bilder aus der Vergangenheit hervorrufen, selbst wenn diese Jahrzehnte zurückliegen. Marcel Proust beschrieb dies eindrücklich in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" anhand des Geschmacks von Tee und Madeleines. Aber auch der Gehörsinn kann das Gedächtnis anregen.

Der Film "The Music Never Stopped" zeigte bereits in dramatisierter Form, wie ein junger Mann mit Kurzzeitgedächtnisverlust mithilfe von Musik wieder einen Bezug zu seiner Vergangenheit und seiner Familie finden konnte. Im realen Leben bestätigte sich dieses Phänomen, als der Sozialarbeiter Don Cohen iPods an Heimbewohner verteilte. Er beobachtete, wie die Musik aus ihrer Vergangenheit sie aus ihrer Apathie holte und sie wieder aktiver am Leben teilnehmen ließ.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Musiktherapie bei Demenz

Die faszinierende Dokumentation "Alive Inside" feierte ihre Premiere 2014 auf dem Sundance Film Festival und wurde dort mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Der Film folgt der Erforschung des Zusammenhangs von Musik und ihren Folgen für unser Gehirn.

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Studie der Brown University: Individualisierte Musik zeigt Wirkung

Eine Studie von Kali S. Thomas vom Gerontologiezentrum der Brown University in Providence (Rhode Island) untersuchte die Wirkung individualisierter Musik- und Gedächtnistherapie (M&M) bei Demenz. Die Ergebnisse von fast 13.000 Langzeitheimbewohnern in 98 US-Pflegeheimen mit M&M wurden mit denen von 98 Einrichtungen ohne individualisiertes Musikprogramm verglichen. Es wurde untersucht, ob während des Programmzeitraums angstlösende und antipsychotische Medikamente eingesetzt wurden.

Die Studie deutet darauf hin, dass individualisierte Musik bei dementen Patienten therapeutisch wirksam ist. In den Heimen mit Musikprogramm stieg der Anteil der Heimbewohner, die ihre antipsychotische Behandlung innerhalb von sechs Monaten beendeten, von 17,6 Prozent auf 20,1 Prozent. Auch der Einsatz von angstlösenden Medikamenten sank, wenn auch weniger deutlich. In den M&M-Heimen zeigten mehr Patienten geringere Verhaltensauffälligkeiten, während in den Kontrollheimen keine Veränderung festgestellt wurde.

Studienergebnisse der Universität Helsinki

Eine randomisierte klinische Studie der Universität Helsinki untersuchte die Auswirkungen von Musik auf Patienten mit beginnender Demenz. Dabei wurden 89 Patienten mit milder bis mittelschwerer Demenz in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe erhielt Musikunterricht mit Schwerpunkt auf Singen, die zweite Gruppe genoss passiv Musik und tauschte sich darüber aus, und die dritte Gruppe erhielt keine musikalische Ausbildung.

Die Ergebnisse zeigten, dass sich in beiden Musikgruppen der Gemütszustand der Patienten verbesserte. Das Singen hatte eine größere Auswirkung auf den psychologischen Stress und trainierte das Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis besser als der passive Musikgenuss. Bei jüngeren Patienten half die aktive Musik auch, die Orientierungsfähigkeit und die Verstandesfunktion zu erhalten.

In den meisten kognitiven Tests waren die Ergebnisse in den beiden Musikgruppen ähnlich. Die Patienten konnten während der sechsmonatigen Phase häufig eine Verschlechterung vermeiden, die in der dritten Gruppe auftrat.

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Forschungsprojekt der Universität Jena

Seit Januar 2018 führt die Abteilung Klinisch-psychologische Intervention der Universität Jena ein 3-jähriges Forschungsprojekt zum Thema "Individualisierte Musik für Menschen mit Demenz" durch. Die Projektidee entstand auf Grundlage des Films "Alive Inside". Ziel des Projekts ist es, die Wirkung von individualisierter Musik auf Menschen mit Demenz zu untersuchen.

Die bisherigen Erfahrungen des Projektteams mit der individualisierten Musikintervention für Menschen mit Demenz bestätigten positive Effekte. Menschen mit Demenz zeigten sich z.B. in Bewegungen, Tanzen, Summen, Mitsingen sowie in positiven mimischen Reaktionen wie Lächeln oder Ausdruck von Freude bis hin zur Beteiligung an Gesprächen, die vor dem Musikhören nicht mehr möglich schienen.

Die Wirkung personalisierter Musik auf verschiedene Symptome der Demenz

Musik und Angst

Angst ist ein zentrales Thema bei Demenz. Demenzpatienten sind mit einer Welt konfrontiert, die ihnen nicht mehr vertraut ist, was zu Desorientierung, Unruhe, Aggression und Angst bis hin zur Depression führen kann. Forscher der University of California fanden heraus, dass personalisierte Musik eine enorm günstige Wirkung auf angstbesetzte Verhaltensweisen bei Demenzpatienten hat.

In einer dreijährigen Studie mit 4.107 Bewohnern in 265 kalifornischen Pflegeheimen bewirkte die Musiktherapie einen signifikanten Rückgang des benötigten Arzneimitteleinsatzes: bei Antipsychotika betrug er 13% und bei Medikamenten gegen Angstzuständen 17%. Bei den Patienten, die das Musikprogramm nutzten, war auch die Häufigkeit von depressiven Symptomen und aggressivem Verhalten um 16% bzw. 20% und die Häufigkeit von Schmerzen um 17% rückläufig.

Musik und Dysphagie

Dysphagie, die Störung des Schluckvorgangs, ist ein weiteres großes Problem bei fortgeschrittener Demenz. Eine Studie der Initiative ‚Music& Memory’ in Kooperation mit der Stony Brook University School of Medicine in New York hat herausgefunden, dass vertraute Musik-Playlisten das Schlucken bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz verbessern konnten. Dies könnte langfristig zu besseren Ernährungsergebnissen bei Demenzpatienten führen und Komplikationen durch ungewolltes Verschlucken sowie die Notwendigkeit und den Einsatz von Ernährungssonden verringern.

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Musik und die Aktivierung des Gehirns

Forscher der University of Utah lieferten objektive Beweise dafür, dass biographisch bedeutungsvolle Musik ein alternativer Weg für die Kommunikation mit fortgeschrittenen Alzheimer-Patienten sein könnte. Sie fanden heraus, dass die persönlichen Soundtracks viele Regionen des Gehirns aktivierten, darunter das Salienznetzwerk, das visuelle Netzwerk, das exekutive Netzwerk und Teile des Kleinhirns. Diese Regionen kommunizierten auch miteinander, was zu einer höheren funktionellen Verbindung führte.

Ein besonderes Augenmerk lag auf dem Salienznetzwerk, das für die Gänsehaut zuständig ist, die man beim Hören eines besonders bewegenden Musikstücks bekommt. Das Salienznetzwerk ist eng mit den Belohnungsschaltkreisen verbunden und spielt eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung der Musikwahrnehmung und beim Musikgenuss. Überraschenderweise ist die Salienz-Region eine Insel des Gedächtnisses, die lange Zeit von der Zerstörung durch die Alzheimer-Krankheit verschont bleibt.

Die beobachteten symptomatischen Linderungen und das „Aufwachen“ der Patienten beim Hören von Lieblingsmusik könnten auf die spezifische Fähigkeit dieser Musik zurückgeführt werden, Salienz-Schaltkreise zu aktivieren und weitere funktionelle Netzwerke auszubilden.

Praktische Anwendungen der Musiktherapie bei Demenz

Die Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Musiktherapie bei Demenz werden in verschiedenen Bereichen praktisch umgesetzt:

  • "Music & Memory": Diese US-amerikanische gemeinnützige Organisation stattet Pflegeheime mit iPods aus und schult Mitarbeiter darin, auf die individuelle Biographie und die Vorlieben des Patienten zugeschnittene Musik therapeutisch umzusetzen.
  • "Ein Lied für Dich": Der Nordbayerische Musikbund (NBMB) organisiert Mitmach-Konzerte für Menschen mit Demenz und bietet Workshops für Hobby-Musiker an, die Musik in Pflegeeinrichtungen bringen möchten.
  • Singende Krankenhäuser: Diese Initiative hat sich zur Aufgabe gemacht, die heilsame Kraft des Singens für Menschen zu nutzen und erlebbar zu machen.

Die Bedeutung der Musiktherapie angesichts steigender Demenzzahlen

Die Zahl der Demenzkranken steigt weltweit. Angesichts dieser Entwicklung ist es wichtig, alle Möglichkeiten zu nutzen, die Alzheimer-Symptome verbessern oder zumindest kontrollierbarer machen können, damit die Lebensqualität der Patienten verbessert werden kann.

Die Möglichkeiten der Musik werden nach Ansicht von Forschern derzeit in der Betreuung von Demenzpatienten zu wenig genutzt. Eine musikalische Weiterbildung der Pflegekräfte könnte eine kosteneffektive Möglichkeit sein, die Betreuung von Demenz-Patienten zu verbessern.

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