Die Geschichte der Nervenheilanstalten: Vernachlässigung, Ausgrenzung und Reform

Wie kam es dazu, dass chronisch psychisch Kranke und geistig Behinderte bis in die 70er-Jahre so vernachlässigt wurden? Warum wurden sie aus der Gesellschaft ausgegrenzt und in abseits gelegenen „Irrenanstalten“ aufbewahrt? Diese Fragen führen uns tief in die Geschichte der Psychiatrie und die Entwicklung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen.

Die Anfänge: Isolation als Therapieansatz

„Psychisch Kranke standen seit jeher am Ende der sozialen Rangordnung und der Zuteilung von Lebenschancen“, so Prof. Dr. med. Dr. h. c. Heinz Häfner, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, der sich damals aktiv für eine Reform der Psychiatrie einsetzte. Seine Aussage wird durch einen Blick in die Geschichte der Psychiatrie untermauert.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Ideologie, psychisch Kranke von ihrer gewohnten Umgebung zu isolieren, von dem Heidelberger Psychiater Christian Friedrich Wilhelm Roller aufgebracht. Roller, ein Vertreter der idealistisch-pädagogischen Schule, lehrte, dass die „Entordnung der Vernunft“ (Immanuel Kants Erklärung für psychische Erkrankungen) auf „unordentlichen“ Umgang oder fehlgeleitete Erziehung in Familie und Umwelt zurückzuführen sei. Die Konsequenz daraus war, die Kranken von ihrer angeblich pathogenen Umgebung zu isolieren.

Die ideale Umgebung für diese Isolation war eine landschaftlich idyllisch gelegene Anstalt, denn diese sollte „wohltätig auf das Seelenleben wirken“. Die großherzoglich badische Heil- und Pflegeanstalt Illneau, eingeweiht 1840 und geleitet von Roller, wurde zum Vorbild vieler psychiatrischer Anstalten in Europa.

Die Abwanderung aus der bürgerlichen Kultur

Nach und nach wanderten die psychiatrischen Krankenhäuser „aus der bürgerlichen Kultur und den Zentren des medizinischen Fortschritts“. Der Idealismus der Psychiater stieß auf die Unheilbarkeit der meisten schweren Erkrankungen und der unwirksamen Behandlungsmethoden. Dies führte zu Resignation und therapeutischer Untätigkeit. Die Kranken wurden in zunehmend vernachlässigten Anstalten oft über Jahre oder lebenslang gehalten.

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Überbelegung und die Angst vor „genetischer Degeneration“

Um die Wende zum 20. Jahrhundert erhöhte sich die Zahl der Insassen psychiatrischer Großkrankenhäuser stark, aufgrund hoher Geburtenraten und des Wandels zur Industriegesellschaft. Die Kapazität der Großkrankenhäuser blieb weit hinter dem Bedarf zurück; der Standard der Unterbringung sank.

Die große Zunahme der Hospitalisierten erweckte - aus dem dilettantischen Biologismus jener Zeit - die Angst, die Geisteskrankheiten seien „wegen genetischer Degeneration des Volkskörpers in steiler Zunahme begriffen“. Diese Überzeugung wurde von vielen Bürgern, Professoren, Sozialmedizinern und Politikern geteilt.

Der dunkle Schatten des Nationalsozialismus

Sozialdarwinismus und die sich ausbreitende Idee der Eugenik bereiteten die Katastrophe vor: den Massenmord an rund 200 000 psychisch Kranken und die Zwangssterilisation von fast 300 000 „Erbkranken“ während des Nationalsozialismus. Diese schreckliche Episode in der Geschichte der Psychiatrie verdeutlicht die fatalen Folgen von Stigmatisierung, Ausgrenzung und biologistischen Ideologien.

Internationale Reformen und die deutsche Verzögerung

Während in Großbritannien und den USA bereits 1954 mit Enthospitalisierungsprogrammen begonnen wurde - Soziologen und Journalisten hatten die Verhältnisse in den Anstalten angeprangert - stieg die Zahl der Hospitalisierungen in Deutschland bis 1970 weiter. Der Klinikdirektor Franco Basaglia unternahm in Italien eine Reihe spektakulärer Maßnahmen, um die hospitalisierten psychisch Kranken wieder in das normale Leben zu integrieren. Er war überzeugt davon, dass „Freiheit heilt“.

Als Grund für die verpätete Psychiatrie-Reform vermutet der Historiker Franz Werner Kersting (1998), dass erst die Studentenrevolte und die Kulturevolution der 68er das gesellschaftliche Umfeld vorbereitet hätten. Die 68er-Bewegung brachte einen gesellschaftlichen Wandel mit sich, der tradierte Strukturen und Autoritäten in Frage stellte. Dies schuf Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit den Zuständen in den psychiatrischen Anstalten und den vorherrschenden Vorstellungen über psychische Krankheit.

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