Kleine Babys und Kinder erleben jeden Tag eine Fülle neuer Eindrücke. Ob es die Erkundungstour auf dem Spielplatz ist, der Besuch bei Oma und Opa, der Wocheneinkauf im Supermarkt oder einfach nur ein Tag zu Hause mit Gesprächen mit Mama und Papa - so schön diese neuen Impulse für viele Kinder sind, so herausfordernd können sie für andere sein. Sich auf Neues einzustellen oder viele Erlebnisse zu verarbeiten, kann für manche Kinder eine enorme Anpassungsleistung darstellen. Diese erfordert die Fähigkeit zur Selbstregulation. Je nach Temperament und Alter des Kindes kann es dabei die Hilfe von Bezugspersonen benötigen, also Co-Regulation.
Co-Regulation geht über das bloße Beruhigen hinaus. Es geht darum, mit dem Kind zu kommunizieren, seine Signale zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Es ist ein Prozess, bei dem Eltern und Kinder ihre Emotionen, Stimmungen und Reaktionen aufeinander abstimmen - sich miteinander einschwingen.
Was passiert im Nervensystem bei Stress?
Wenn Kinder weinen, ängstlich oder wütend sind, befindet sich das autonome Nervensystem des Kindes in erhöhter Aktivität. Es werden Stresshormone wie Adrenalin freigesetzt, was sich in einer beschleunigten Herzfrequenz, erhöhtem Blutdruck und einer gesteigerten Atmung äußern kann. In solchen Momenten benötigen Kinder die Co-Regulation einer Bezugsperson. Dies kann durch Körperkontakt geschehen, wie z.B. das In-den-Arm-Nehmen, Schuckeln oder Herumlaufen mit dem Kind (besonders bei jüngeren Kindern). Auch Begrenzung kann hilfreich sein, z.B. das Kind eng an sich zu drücken oder es in ein Tragetuch zu nehmen bzw. zu pucken.
Die Rolle der Eltern: Selbstregulation als Basis für Co-Regulation
Co-Regulation kann für Eltern sehr anstrengend sein, da sie Geduld, Durchhaltevermögen und vor allem eine gute eigene Regulation erfordert. Wenn Kinder sich nicht gut regulieren können, müssen Bezugspersonen sich selbst besonders gut regulieren. Doch wie gelingt das im Alltag mit all der Belastung?
Es ist wichtig zu betonen, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation nicht angeboren ist, sondern erlernt werden muss. Babys sind auf die Co-Regulation ihrer Bezugspersonen angewiesen, um ihre Temperatur und ihren Gemütszustand zu regulieren. Durch positive Co-Regulation lernt das Baby-Nervensystem, wie Regulation funktioniert und wie es diese Fähigkeit später auch alleine anwenden kann.
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Strategien zur Selbstregulation für Eltern
Hier sind einige Ideen, wie Eltern ihre eigene Selbstregulation im Alltag verbessern können:
- Atemübungen: Gezielte Atemtechniken wie tiefe Bauchatmung, Atemzählen oder das Verlängern der Ausatmung können helfen, das eigene autonome Nervensystem auszugleichen und sich zu beruhigen. Gerade wenn das Kind wütend ist und schreit, hilft es, einzuatmen, auszuatmen und dabei zu zählen.
- Visualisieren: Sich positive Bilder oder Szenarien vorzustellen, die beruhigend und entspannend wirken (z.B. ein ruhiger Strand, ein Waldspaziergang oder ein Ort der Geborgenheit), kann ebenfalls hilfreich sein.
- Körperliche Aktivität: Regelmäßige körperliche Bewegung wie Gehen, Laufen, Yoga oder Tanzen kann dazu beitragen, Stress abzubauen und das Wohlbefinden zu steigern. Dies kann auch gemeinsam mit dem Kind geschehen, z.B. durch Tanzen im Raum, schnelles Spazierengehen oder ein paar Übungen neben dem Kind auf dem Boden. Körperliche Aktivität setzt Endorphine frei, die positive Auswirkungen auf das Stresssystem und die Stimmung haben.
- Soziale Unterstützung: Wenn alles zu viel ist und man es nicht schafft, Strategien anzuwenden, kann die Unterstützung von anderen hilfreich sein. Der Austausch mit Freund:innen, Familie oder Bekannten durch Gespräche, Umarmungen oder Unterstützung im Alltag kann eine starke Selbstregulationsfunktion haben. Das Gefühl von Verbundenheit und Unterstützung senkt das Stresslevel und steigert das Wohlbefinden.
Es gibt viele verschiedene Arten, sich selbst zu regulieren. Wichtig ist, herauszufinden, was einem selbst guttut und Ruhe gibt. Es gibt nicht die eine beste Strategie. Manchen hilft es, zur Lieblingsmusik zu tanzen oder bei angestautem Frust in ein Kissen zu hauen. Andere Menschen können durch ein Gespräch am Telefon oder indem sie das Baby für ein paar Minuten übernehmen, unterstützen.
Was tun, wenn Kinder "nicht mitmachen"?
Reaktionen wie "Sie will einfach nicht mitmachen", "Er stellt sich an" oder "Sie muss doch keine Angst haben" helfen in der Regel nicht weiter. Die Traumatherapeutin Kati Bohnet erklärt, dass Kinder unter Stress sich möglicherweise gar nicht anders verhalten können, selbst wenn sie es gerne möchten. Stress kann verschiedene Ursachen haben, z.B. ein wichtiger Test in der Schule, Probleme mit Freunden oder überforderte Eltern.
Wenn wir dauerhaft unter Stress stehen, kann es passieren, dass der Körper die Stresshormone nicht mehr abbauen kann. Auch Schlafprobleme lassen sich besser verstehen, wenn man die Funktionsweise des menschlichen Nervensystems kennt. Je nachdem, welcher Teil unseres Gehirns aktiv ist, befinden wir uns in einem bestimmten körperlichen Zustand, einer bestimmten Physiologie. Und jede Physiologie unterstützt ein bestimmtes Verhalten.
Trauma und Nervensystem
Wenn ein Mensch es gar nicht mehr schafft, aus einem Zustand der Anspannung herauszukommen, sprechen Experten von einem Trauma. Laien können jedoch nicht erkennen, ob ein Kind oder ein Jugendlicher ein Trauma hat. Dafür ist die Unterstützung durch einen Profi erforderlich. Kati Bohnet erklärt, dass sich z.B. ADHS ganz ähnlich äußern kann und es auch Menschen gibt, die sowohl ein Trauma als auch ADHS haben.
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Um Kinder und Jugendliche in stressigen Situationen zu unterstützen, können Erwachsene sie behutsam ins Hier und Jetzt zurückholen, z.B. durch bewusstes Umherschauen oder Anfassen bestimmter Gegenstände.
Entspannungsübungen für Kinder
Es gibt verschiedene Entspannungsübungen, die Kindern helfen können, zur Ruhe zu kommen und Stress abzubauen:
- Qi Gong-Ohrenmassage: Fördert die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit.
- Progressive Muskelentspannung (PMR): Baut Anspannung ab und schult die Körperwahrnehmung.
- Autogenes Training: Beruhigt und führt zu einer ruhigen Atmosphäre.
- Fantasiereise: Hilft Kindern, zu träumen und die Unruhe und den Stress ganz unbewusst fallen zu lassen.
Es ist wichtig, die Übungen freiwillig und ohne Druck auf das Kind auszuüben und sie spielerisch in den Alltag zu integrieren.
Tipps für mehr Entspannung im Alltag
Auch im Alltag gibt es viele Möglichkeiten, Ruhe- und Entspannungsphasen für Kinder zu schaffen:
- Gönnen Sie Ihrem Kind mehrmals am Tag Ruhepausen.
- Wählen Sie beim Sport-, Musik- und Freizeitangebot sorgsam aus.
- Lassen Sie Ihrem Kind seinen eigenen Weg finden, wie es am besten entspannen kann.
- Hören Sie Ihrem Kind zu, wenn es etwas Erlebtes erzählt.
- Führen Sie Familienrituale ein, z.B. feste Ruhezeiten oder eine Vorlesestunde am Abend.
Die Bedeutung von Bewegung
Bewegung ist für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unerlässlich. Sie sortiert Lerninhalte, macht aufmerksam und ermöglicht es dem Gehirn, aktiv zu sein. Bewegung erhöht die Sauerstoffzufuhr im Gehirn und fördert die Konzentration. Eine einfache und effektive Möglichkeit, Bewegung in den Alltag zu integrieren, ist die Schüttelübung.
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Selbstregulation durch Musizieren
Regulation können wir lernen - durch Musizieren und für das Musizieren. Musik kann eine Kraft- und Balancequelle im Alltag sein und musikalische Ausgeglichenheit an Kinder weitergeben.
Sensorische Strategien zur Nervensystemregulation
Sensorische Strategien können Kindern helfen, ihre Regulation und Selbstregulation zu verbessern. Die Sinne sind der direkte Draht ins Gehirn und damit auch zur Regulation des Wachheits- und Aktivitätszustandes und unserer Gefühlswelt.
- Schwere Decken, Matten oder Kissen: Tiefer Druck wirkt im Allgemeinen beruhigend auf das Nervensystem.
- Bewegungsspiele: Gleichgewichtsanregung hat einen direkten Einfluss auf unseren Wachheitszustand.
- Atemübungen: Tiefe, langsame Atemzüge können in stressigen Situationen Wunder wirken.
Wichtig ist, geduldig zu sein, da Selbstregulation ein Lernprozess ist, der Zeit braucht.
Die "Nervensystemsbrille"
Kati Bohnet spricht von der "Nervensystemsbrille", die unsere Sichtweise auf die Welt beeinflusst. Diese Färbung lässt sich aber anpassen. Oft werden Kinder aufgrund ihres Verhaltens als "anstrengend" abgestempelt, obwohl dieses Verhalten ein gesunder Ausdruck einer anstrengenden Situation ist. Wenn wir das Verhalten durch die Nervensystemsbrille betrachten, wird deutlich, dass das Kind sich in einem inneren Alarmzustand befindet und sich in Überlebenszustände begibt, die nur bestimmtes Verhalten zulassen.
Co-Regulation als Voraussetzung für Selbstregulation
Babys können sich noch nicht selbst regulieren und benötigen dazu Bezugspersonen. Je mehr gute Co-Regulation ein Baby erfährt, desto besser lernt sein Nervensystem, wie es diese Regulation dann auch alleine schaffen kann. Wenn wir das als Kind nicht gelernt haben, brauchen wir oft alternative Regulationsstrategien.
Überlebensstrategien und der Unterwerfungsimpuls
Kinder, die in einem dysfunktionalen Umfeld aufwachsen, entwickeln oft Überlebensstrategien, um mit der Gefahr umzugehen. Ein Beispiel ist der Unterwerfungsimpuls, bei dem das Kind versucht, Stresssituationen zu vermeiden, indem es sich den Bedürfnissen anderer anpasst. Diese Kinder sind oft sehr empathisch und hilfsbereit, vernachlässigen aber ihre eigenen Bedürfnisse.
Die Bedeutung der Selbstregulation für Eltern
Wenn Eltern selbstreguliert sind, können sie anders in Interaktionen mit ihren Kindern gehen. Sie können die Situation besser einschätzen und angemessen reagieren. Kleine Kinder müssen erst noch lernen, sich selbst zu regulieren und sind dabei auf die Unterstützung ihrer Bezugspersonen angewiesen.
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