Neurologische Manifestationen bei COVID-19: Ein umfassender Überblick

Im Dezember 2019 wurden in der Region Hubei in China erstmals Erkrankungen mit dem neuartigen Coronavirus „Severe acute respiratory syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2)“ beschrieben. Das klinische Bild und die Erkrankung werden als COVID-19 (COrona VIrus Disease-2019) bezeichnet. Die Infektion breitete sich in der Folge weltweit aus und wurde durch die WHO am 11.03.2020 zur Pandemie erklärt. Der Erreger zählt zur Gruppe der Coronaviren, die obere und untere Atemwegsinfektionen von einer normalen Erkältung bis zu schweren Krankheitsverläufen verursachen können. Verwandt mit dem SARS-CoV-2-Virus sind die Viren, die das Krankheitsbild des SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) und des MERS (Middle East Respiratory Syndrome) verursachen und für die eine Neurotropie nachgewiesen wurde.

Die COVID-19-Pandemie hat die Welt vor eine beispiellose gesundheitliche Herausforderung gestellt. Während die Krankheit primär als Atemwegserkrankung wahrgenommen wird, mehren sich die Erkenntnisse über neurologische Manifestationen und Komplikationen, die im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten können. Diese reichen von milden Symptomen wie Geruchs- und Geschmacksstörungen bis hin zu schweren Komplikationen wie Schlaganfällen und Enzephalitis. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat eine Leitlinie herausgegeben, die Ärztinnen, die Patientinnen mit COVID-19 betreuen, eine Hilfestellung geben soll.

Häufigkeit neurologischer Manifestationen

Die Häufigkeit neurologischer Manifestationen bei COVID-19 ist beträchtlich. Eine Studienübersicht ergab, dass bei 23 % der 18.258 untersuchten COVID-19-Patienten neurologische Symptome auftraten. Diese Symptome können unspezifisch sein, wie Kopfschmerzen, Verwirrung und Fatigue, aber auch spezifischere neurologische Störungen umfassen. Auffällig ist, dass neurologische Symptome bei Patienten mit schweren respiratorischen Verläufen vermehrt auftreten, wobei es in dieser Gruppe nicht nur zu gehäuften, sondern auch zu schwereren neurologischen Manifestationen (Schlaganfälle, Bewusstseinsstörungen, Krampfanfälle) kommen kann.

Spezifische neurologische Manifestationen

Anosmie und Ageusie

Die häufigsten neurologischen Symptome bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 sind Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns. Eine europäische Studie zeigte, dass über 85 % von 419 COVID-19-Patienten mit milden bis moderaten Symptomen von Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns berichteten. In über 10 % der Fälle traten die Riechstörungen vor allen weiteren Symptomen auf. Es gibt Berichte, dass Riech- und Schmeckstörungen auch Leitsymptome oder ausschließliche Symptome der Infektion sein könnten.

SARS-CoV-2 ähnelt zum Beispiel SARS-CoV genetisch, hinsichtlich der Pathogenese und des Eintritts in die Zelle über den ACE2-Rezeptor (Angiotensin-converting enzym 2). Daher vermutet man ein ähnliches neuroinvasives Potenzial bei SARS-CoV-2. Tierexperimentell wurde der neurale Infektionsweg bei Coronaviren wie MERS bereits gezeigt: von der Nasenschleimhaut über freie Nervenenden bis zum Gehirn. Die Viren werden vermutlich via Endo-/Exozytose über Synapsen weitergegeben.

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Ob die Riechstörungen bei COVID-19 bestehen bleiben oder sich immer komplett zurückbilden, ist unklar. Bekannt ist allerdings, dass die häufigste Ursache für einen erworbenen Geruchsverlust beim Menschen Virusinfektionen sind. Auch Influenzaviren können zu Anosmie oder Geruchshalluzinationen führen.

Um mehr über Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 zu erfahren, hat das Global Consortium for Chemosensory Research (GCCR) Anfang April eine weltweite Online-Umfrage gestartet. Die Umfrage erfasst 3 Sinnesstörungen: neben dem Geruchs- und dem Geschmackssinn auch die „Chemesthesis“ - „eine Art chemischer Sinn, der Irritationen erfasst, wie das Brennen in Nase und Augen durch Zwiebeln oder die Schärfe von Chili auf der Zunge“.

Enzephalopathie

Die ernsten neurologischen Symptome bei COVID-19 betreffen das Gehirn - im weitesten Sinne einer Enzephalopathie. Neben Schwindel und Kopfschmerzen können auch Verwirrtheits- und Agitationszustände, Ataxie und Bewusstseinstrübungen auftreten. Eine chinesische Studie entdeckte eine hypoxische Enzephalopathie bei 23 (20 %) von 113 schwer erkrankten COVID-19-Patienten, die daran gestorben sind.

Eine aktuelle französische Fallserie zeigt, dass bei schwerer COVID-19-Erkrankung neurologische Symptome häufig sind: Von 58 Patienten aus 2 Straßburger Intensivstationen, die unter ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrom) infolge von COVID-19 litten, zeigten 49 auch neurologische Symptome. Häufig waren Agitationen (40 Patienten), Pyramidenbahnzeichen mit gesteigerten Reflexen, Fußklonus, Babinski-Zeichen (39) und Verwirrtheitszustände (26).

Bei zweien wurden Hirnischämien nachgewiesen, obwohl Symptome fehlten. Bei 11 Patienten zeigte sich eine bilaterale frontotemporale Hypoperfusion und bei 8 ein Kontrastmittelenhancement des Subarachnoidalraums. Eine akute nekrotisierende hämorrhagische Enzephalopathie ist ebenfalls mit einer SARS-CoV-2-Infektion assoziiert aufgetreten.

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Hirninfarkt und Hirnblutung

Inzwischen werden bei COVID-19-Patienten wie in China auch andernorts zunehmend Schlaganfälle beobachtet. Laut Berlit könnten zum einen vor allem schwer erkrankte und vorerkrankte Patienten davon betroffen sein - sie weisen in der Regel mehrere Risikofaktoren für einen Schlaganfall auf. Zum anderen könnte das Auftreten von Schlaganfällen auch mit COVID-19 selbst zu tun haben.

Man beobachtete bei Patienten mit schweren respiratorischen Verläufen in Wuhan erhöhte D-Dimer-Spiegel. D-Dimere steigen bei einer Sepsis an, können aber auch auf ein aktiviertes Gerinnungssystem und damit eine erhöhte Thromboseneigung hinweisen. Diese Aktivierung sei auch bei SARS-CoV-1 beschrieben. SARS-CoV-2 könnte so ebenfalls Infarkte begünstigen. Eine Analyse in Thrombosis and Haemostasis weist jedenfalls auf erhöhte D-Dimer-Spiegel auch bei COVID-19-Patienten hin. Patienten mit einem schweren Krankheitsverlauf hatten dabei im Vergleich höhere Werte als solche mit einem milderen.

Eine weitere denkbare Schlaganfallursache ist eine Vaskulitis, also eine Entzündung der Hirngefäße. Bei früheren SARS-Infektionen seien Vaskulitiden in vielen Organen nachgewiesen worden, bisher gebe es bei Infektion mit SARS-CoV-2 noch keine solchen Befunde.

Enzephalitis und Epilepsie

SARS-CoV-2 kann laut einer Kasuistik aus Japan auch mit einer Meningoenzephalitis assoziiert sein. Dies deutet laut Berlit auf eine Ausbreitung über den neuralen Infektionsweg hin. Im MRT zeigte sich, dass auch das limbische System betroffen war, was zu Gedächtnisstörungen und in diesem Fall auch zu seriell auftretenden epileptischen Anfällen geführt hat. Epilepsien seien daher weitere mögliche Manifestationen von COVID-19.

Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Nicht überraschend kommen für Berlit die aktuellen Berichte über das Auftreten eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) in Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Infektionen. Denn dieses schwere Krankheitsbild, bei dem durch eine Autoimmunreaktion die Myelinschicht peripherer Nerven Schaden nimmt, tritt in etwa Dreiviertel der Fälle infolge von Infekten auf.

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Aus Italien wird von weiteren Patienten mit GBS berichtet. Von 1 000 bis 1 200 COVID-19-Patienten, die zwischen Ende Februar und Ende März in 3 norditalienischen Kliniken aufgenommen worden waren, entwickelten 5 Patienten ein GBS. 5-10 Tage nach den COVID-19-Symptomen traten aufsteigende Paresen, Parästhesien, Ataxie und eine Tetraplegie auf. 3 der Patienten mussten beatmet werden - ob wegen des GBS oder der pulmonalen Manifestation konnte allerdings nicht abgegrenzt werden.

In Madrid sind 2 Fälle der Miller Fisher-Variante eines GBS bei SARS-CoV-2-Infizierten aufgetreten: ein 50-Jähriger zeigte eine Ophthalmoplegie und Ataxie, ein 39-Jähriger das Bild einer Polyneuritis cranialis mit Abduzensparesen und eine Areflexie. Die bisherigen GBS-Fälle oder Varianten in Zusammenhang mit SARS-CoV-2 traten bereits nach kurzer Latenzzeit von nur wenigen Tagen auf - und nicht erst nach rund 4 Wochen wie nach anderen Infektionen.

Neurologische Symptome: Nicht immer Folge einer direkten SARS-CoV-2-Infektion des Gehirns

Eine Studie der Charité - Universitätsmedizin Berlin liefert Belege dafür, dass neurologische Beschwerden nicht immer eine Folge der SARS-CoV-2-Infektion des Gehirns sind. Die Forschenden prüften zunächst, ob das Gewebe sichtbare Veränderungen aufwies, und fahndeten nach Hinweisen auf das Coronavirus. Wie andere Forschungsteams auch konnten die Charité-Wissenschaftler:innen in einigen Fällen das Erbgut des Coronavirus im Gehirn nachweisen. „SARS-CoV-2-infizierte Nervenzellen haben wir jedoch nicht gefunden“, betont Helena Radbruch. „Wir gehen davon aus, dass Immunzellen das Virus im Körper aufgenommen haben und dann ins Gehirn gewandert sind. Sie tragen noch immer Virus in sich, es infiziert aber keine Gehirnzellen.

Die Forschenden beobachteten, dass bei den COVID-19-Betroffenen die molekularen Vorgänge in manchen Zellen des Gehirns auffällig verändert waren: Die Zellen fuhren beispielsweise den sogenannten Interferon-Signalweg hoch, der typischerweise im Zuge einer viralen Infektion aktiviert wird. „Einige Nervenzellen reagieren offenbar auf die Entzündung im Rest des Körpers“, sagt Prof. Christian Conrad, Leiter der Arbeitsgruppe Intelligent Imaging am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). „Diese molekulare Reaktion könnte die neurologischen Beschwerden von COVID-19-Betroffenen gut erklären. Zum Beispiel können Botenstoffe, die diese Zellen im Hirnstamm ausschütten, Fatigue verursachen. Die reaktiven Nervenzellen fanden sich hauptsächlich in den sogenannten Kernen des Vagusnervs, also Nervenzellen, die im Hirnstamm sitzen und deren Fortsätze bis in Organe wie Lunge, Darm und Herz reichen.

Long-COVID-Syndrom und Post-COVID-Syndrom

Bleiben Beschwerden nach überstandener COVID-19-Erkrankung länger als 4 Wochen bestehen, spricht man von Long-COVID-Syndrom, bei SARS-CoV-2-assoziierten Manifestationen mehr als 3 Monate nach dem akuten Infekt vom Post-COVID-Syndrom. Nicht neurologische Langzeitsymptome sind oft belastungsabhängig wie Husten, Dyspnoe sowie Störungen von Herzfrequenz und -rhythmus.

Neurologische Langzeitbeschwerden umfassen Dysosmie und Dysgeusie, Kopf- und Muskelschmerzen, Gedächtnisprobleme, Angst oder Schlafstörungen. Das Neuauftreten von Schlaganfällen, Neuromyopathien oder einer Enzephalomyelitis nach SARS-CoV-2-Infektion ist möglich. Die häufige beklagte Fatigue-Symptomatik ist vermutlich pulmonal und psychosomatisch mitbedingt; es gibt jedoch auch Hinweise auf eine neuroimmunologische Komponente.

Neurokognitive Einschränkungen stellen eine Indikation zur neuropsychologischen Testung, MRT-Diagnostik und ggf. Bestimmung antineuronaler Antikörper im Liquor dar.

Diagnostik und Therapie

Neurologische Manifestationen und Komplikationen von COVID-19 erfordern eine rasche Diagnostik und Therapie als Notfallindikation. Die aktualisierte Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Berlin, „Neurologische Manifestationen bei COVID-19“ gibt dabei klare Anleitungen zum Vorgehen in der ambulanten und stationären Behandlung. Auch Empfehlungen für Patientinnen und Patienten mit chronischen neurologischen Erkrankungen mit und ohne COVID-19 sind enthalten.

Die Leitlinie empfiehlt alle Patienten mit neurologischen Symptomen, die über den Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns hinausgehen, in eine neurologische Klinik - vorzugsweise mit neurologischer Intensivstation - zu überweisen. Hierdurch soll eine rasche stationäre Diagnostik und Therapie gewährleistet werden. Das Leitlinien-Gremium erläutert hierzu: „COVID-19-Patienten mit neurologischen Beschwerden sind Notfallpatienten; werden sie nicht rechtzeitig versorgt, drohen schlechte Behandlungsergebnisse und Spätfolgen“. Nach der Akuterkrankung können rehabilitative und sozialmedizinische Maßnahmen sowie ambulante neurologische Verlaufskontrollen erforderlich werden.

Bei stationärer Aufnahme wird heute für COVID-19-Patienten standardmäßig eine prophylaktische Antikoagulation empfohlen. Die Therapie mit Dexamethason führt zu einer Senkung der Mortalität um 30 %, wobei der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns entscheidend ist.

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