Die Therapie der Polyneuropathie (PNP) umfasst sowohl kausale als auch symptomatische Ansätze. Kausale Therapien zielen auf die Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung ab, während symptomatische Therapien darauf abzielen, die Beschwerden zu lindern, die im Rahmen der Polyneuropathie auftreten. Zu Beginn der Behandlung sollten stets alle kausalen Therapieoptionen ausgeschöpft werden, um einen weiteren Progress zu verhindern. Im klinischen Alltag kommen vor allem symptomatische Ansätze zur Behandlung der verschiedenen sensiblen, motorischen und autonomen Symptome zum Einsatz.
Definition und Häufigkeit der Polyneuropathie
Periphere Neuropathien sind Erkrankungen der motorischen, sensiblen oder autonomen Nerven des peripheren Nervensystems. Bei einer generalisierten Schädigung des peripheren Nervensystems spricht man von Polyneuropathie (PNP). Die Prävalenz von Polyneuropathien liegt bei 1-7 % in der Allgemeinbevölkerung und bei 8 % bei Menschen über 55 Jahre.
Ursachen von Polyneuropathien
Es gibt eine Vielzahl verschiedener Auslöser für eine Polyneuropathie, darunter:
- Bestimmte Krebstherapiemittel (v.a. Vincristin, Thalidomid, Bortezomib, Platine, wie z.B. Oxaliplatin, Taxane)
- Tumorerkrankung selbst
- Diabeteserkrankung
- Übermäßiger Alkoholkonsum
Symptome der Polyneuropathie
Die Symptome der Polyneuropathie sind abhängig von der Manifestation und dem Verteilungsmuster. Sie können sein:
- Sensibilitätsstörungen und sensible Reizerscheinungen (Kribbeln, Ameisenlaufen, vermindertes Berührungsempfinden, schmerzlose Wunden)
- Motorische Störungen (Lähmungen, Muskelkrämpfe)
- Autonome Störungen (orthostatische Dysregulation, vermindertes Schwitzen)
- Gangunsicherheit
Diagnose der Polyneuropathie
Die Diagnose beruht auf der Anamnese und der klinischen Untersuchung und wird gestützt durch neurophysiologische Untersuchungen. Zur Abklärung der Ursache kommen abhängig von der Verdachtsdiagnose Labor- inkl. Liquoruntersuchungen, genetische, bildgebende und histopathologische Diagnostik zum Einsatz.
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Anamneseerfassung
Hier ist vor allem die Erfassung von Grunderkrankungen und von differenzialdiagnostisch relevanten Erkrankungen wesentlich, insbesondere Störungen im Bereich der Wirbelsäule.
Familienanamnese
Hier sind gezielte Fragen nach Gehbehinderungen, Fußdeformitäten, auffallend dünnen Waden, aber auch nach sportlichen Aktivitäten in Kindheit und Jugendzeit (ohne in dieser Phase typische sonstige PNP-Symptome) erforderlich. Bei positiver Familienanamnese ist ein entsprechender Stammbaum für die weitere Differenzierung der hereditären Neuropathien aufzuzeichnen.
Klinisch-neurologischer Status
Neben der üblichen Statuserhebung ist besonderes Augenmerk auf Hirnnervenbeteiligung zu legen, wie dies bei Formen des GBS, der CIDP, bei Borreliose, aber auch Diphtherie oder GBS-Varianten oder diabetischen Ophthalmoneuropathien möglich ist. Die Sensibilitätsuntersuchung ist so durchzuführen, dass eine Unterscheidung in „small fibre“ versus „large fibre“ bzw. kombinierte Beteiligung möglich ist. „Small fibre“-Neuropathie-Zeichen sind insbesondere Thermhyp- bzw. -anästhesie als auch die Hypo-/Analgesie. „Large fibre“-Neuropathie-Zeichen sind vor allem socken-, strumpf- und handschuhförmige Störungen der Oberflächenberührung. Wichtig ist auch die Rumpfuntersuchung, da in weiter fortgeschrittenen Fällen auch die Bauchwand betroffen und insbesondere die mittelliniennahe Gefühlsverminderung charakteristisch ist (interkostale Nerven sind besonders lange Nerven und daher bei allen Formen der längenabhängigen Nervenschädigungen pathologisch). Zur Interpretation des Schweregrads und der Auswirkungen der sensiblen Störungen im Alltag sind die Störung des Lageempfindens, der Romberg-Test und der Strichgang sowie das Gehen bei Augenschluss eine entscheidende Hilfe. Bezüglich der Reflexveränderungen ist festzuhalten, dass in seltenen Fällen bei akutem GBS der Ausfall der Reflexe in der Frühphase (noch) nicht vorhanden sein muss und dies die Diagnose nicht ausschließt. Neben der Testung der Pupillenreaktion und der Überprüfung des Hautzustandes ist die Blutdruckmessung im Liegen und Stehen eine wichtige Hilfe zur Erfassung einer Beteiligung des autonomen Nervensystems.
Neurophysiologische Diagnostik
Die neurophysiologische Diagnostik gehört zum obligaten Diagnoseverfahren zur Erfassung der PNP. Bei einer eigenen Untersuchungsserie an 100 Patienten, die wegen einer Zweitmeinung kamen, war festzustellen, dass 12 % der Patienten keinerlei neurophysiologische Diagnostik hatten. Bei einem Teil dieser Patienten ergab die dann durchgeführte NLG-Untersuchung klinisch relevante Änderungen in den bis dahin gestellten Diagnosen. Des Weiteren ist zu beobachten, dass in vielen neurophysiologischen Befunden der Begriff einer „demyelinisierenden Polyneuropathie“ nicht den neurophysiologischen Richtlinien entspricht und gelegentlich dadurch zu diagnostischen Fehlern führt. Bezüglich der Kriterien axonaler, gemischter und demyelinisierender PNP wird auf entsprechende Fachliteratur verwiesen. Unter der Annahme einer korrekten neurophysiologischen Einteilung kann dann die weitere Klassifizierung erfolgen. Weiters kann die neurophysiologische Untersuchung durch Aufzeichnung eines Leitungsblocks spezielle Formen, wie ein akutes GBS, eine multifokale Neuropathie mit Leitungsblock und auch isolierte periphere Nervenschädigungen, gut erfassen. Die ergänzende nadelelektromyografische Untersuchung ist bei akuten Fällen zur Erfassung des Verteilungsmusters mit Sicherheit sinnvoll.
Neurophysiologische Untersuchungen sind in bestimmten Fällen durch Testungen des autonomen Nervensystems zu ergänzen. Hier ist die technisch einfach durchzuführende Methode der „sympathetic skin response“ als auch der Herzfrequenzvariabilitätsuntersuchung anzuführen. Komplexere Untersuchungen sind Labors mit entsprechender Erfahrung vorbehalten. Diesbezüglich wird auch auf die Arbeitsgruppe zum autonomen Nervensystem der ÖGN hingewiesen. Auch die Durchführung von somatosensiblen evozierten Potenzialen kann in der Diagnostik und Differenzialdiagnostik, gerade bei funikulärer Myelose, notwendig sein.
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Laboruntersuchungen
Die Standarddiagnostik soll auf häufige und behandelbare Ursachen der PNP abzielen. Gelegentlich sind weitere und umfangreiche Labortests, je nach Klinik und Neurophysiologie, erforderlich. Eine gießkannenartige Labordiagnostik ohne entsprechende anamnestische, klinisch-neurologische und neurophysiologische Kenntnis wird vom Autor als nicht sinnvoll erachtet. Die Standarduntersuchungen umfassen Differenzialblutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, Immunfixation, Bence-Jones-Protein, Schilddrüsenparameter, CRP, Nüchternblutzucker sowie bei Verdacht auf diabetische PNP HbA1c und oralen Glukosetoleranztest, Vitamin-B12-Spiegel wie auch die Bestimmung des CDT („carbohydrate-deficient transferrin“) bei Verdacht auf Alkoholmissbrauch.
Spezielle Labortests umfassen die Bestimmung von Borrelienantikörpern in Serum und Liquor, Vaskulitisparametern wie ANA, ANCA, C3, C4, zirkulierenden Immunkomplexen, Kryoglobulinen, Anti-MAK-AK, Paraproteinen, Angiotensin-Converting-Enzym bei Verdacht auf Sarkoidose, Anti-GM1-AK bei Verdacht auf multifokale Neuropathien, Campylobacter-jejuni-AK, Zytomegalie-AK, Gangliosid-AK bei GBS, die Bestimmung der Delta-Aminolävulinsäure bei Verdacht auf Porphyrie sowie Untersuchungen hinsichtlich Blei, Thallium und Quecksilber bei Verdacht auf Intoxikationen. Genetische Untersuchungen sind bei positiver Familienanamnese hilfreich und sollten nach der neurophysiologischen Untersuchung spezifisch erfolgen. Hier sind eine Zusammenarbeit mit dem Institut für Humangenetik und eine Zuweisung des Patienten mit einem erstellten Stammbaum wesentlich.
Biopsie
Die Durchführung einer Nervenbiopsie ist dann indiziert, wenn bei progredienter und schwerwiegender PNP die Diagnose mit weniger invasiven Methoden nicht gestellt werden konnte und sich aus der Diagnose eine Behandlungskonsequenz für den Patienten ergibt. Andernfalls ist eine Nervenbiopsie nicht gerechtfertigt. Gerade bei hereditären Neuropathien ist die Biopsie wegen der zunehmenden Möglichkeit der genetischen Untersuchung deutlich in den Hintergrund getreten. Gleiches gilt für die Labormöglichkeiten bei Verdacht auf vaskulitische PNP. Bei dieser kann auch eine weniger belastende Hautbiopsie in Einzelfällen gute und therapeutisch hilfreiche Ergebnisse erbringen.
Therapie der Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie umfasst kausale Ansätze zur Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung und symptomatische Ansätze zur Therapie von im Rahmen der Polyneuropathie auftretenden Beschwerden.
Kausale Therapie
Die kausale Behandlung sollte bei allen PNP, welche durch eine Grunderkrankung, Medikamente bzw. exogene Ursachen bedingt sind, angestrebt werden. Vorsicht ist geboten bei Patienten mit schlecht eingestelltem Diabetes mellitus, da eine rasche Blutzuckersenkung bzw. eine sehr rasche und scharfe Insulineinstellung wie auch ein rascher Gewichtsverlust eine deutliche Verschlechterung des PNP-Verlaufes bewirken können.
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Diabetes mellitus und Alpha-Liponsäure
Die Studienlage zeigt unterschiedliche Ergebnisse mit sowohl positiven als auch negativen Daten. Wenn die Alpha-Liponsäure in der Therapie der diabetischen PNP eingesetzt wird, so ist sie in Form einer höher dosierten intravenösen Therapie für zumindest 7 bis 14 Tage anzuwenden. Danach erst ist die orale Therapie fortzusetzen; eine kontinuierliche Einnahme ist nur bei Therapieerfolg indiziert. Bei anderen Neuropathieformen ist der Einsatz von Thioctacid ein „Off-label“-Einsatz.
Symptomatische Therapie
Im klinischen Alltag kommen vor allem symptomatische Ansätze zur Behandlung der verschiedenen sensiblen, motorischen und autonomen Symptome zum Einsatz. Etwa 50 % aller Polyneuropathien gehen mit Schmerzen einher. Diese neuropathischen Schmerzen entstehen als direkte Folge einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems.
Medikamentöse Therapie neuropathischer Schmerzen
Zur Linderung neuropathischer Schmerzen stehen verschiedene medikamentöse Ansätze zur Verfügung, die auf die zugrunde liegenden Pathomechanismen abzielen. Eine komplette Schmerzfreiheit kann mit den derzeit verfügbaren Medikamenten in der Regel nicht erzielt werden. Die oralen Medikamente sollten langsam aufdosiert und je nach Nebenwirkungen individuell titriert werden. Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass die analgetische Wirkung zeitverzögert eintritt.
Die aktuelle S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfiehlt die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin sowie trizyklische Antidepressiva (TCA) und Duloxetin als Mittel der ersten Wahl zur Therapie neuropathischer Schmerzen.
Laut aktueller S2-Leitlinie der DGN sollen Gabapentin und Pregabalin als Mittel der ersten Wahl zur Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden, unabhängig von der Ätiologie. Auch in einer Metaanalyse der Neuropathic Pain Special Interest Group (NeuPSIG) wird eine starke Empfehlung für den Einsatz von Gabapentin und Pregabalin ausgesprochen - bei einer „number needed to treat“ (NNT) von 6,3-8,3 für Gabapentin und 7,7 für Pregabalin. Nebenwirkungen unter der Therapie sind häufig und umfassen vor allem zentralnervöse Effekte wie Schwindel, Schläfrigkeit, Konzentrations- und Gleichgewichtsstörungen, die nicht selten zum Therapieabbruch führen. Gabapentin und Pregabalin sind individuell zu dosieren, wobei bei Patienten mit bekannter schlechter Verträglichkeit, älteren Patienten, bei eingeschränkter Nierenfunktion und bei geringem Körpergewicht mit der niedrigstmöglichen Dosierung 1x tgl. abends (Gabapentin 100mg, Pregabalin 25mg) zu beginnen ist. Erst nach einigen Tagen ist bei Verträglichkeit eine Verdoppelung der Dosis (Einnahme morgens und abends) möglich und danach in Abständen von 5 bis 10 Tagen eine vorsichtige und meist kontinuierliche Dosissteigerung. Die engmaschige Begleitung der Patienten bei der Einstellung auf diese Präparate ist ebenso entscheidend für den Therapieerfolg wie die ausführliche Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen und insbesondere die Information, dass sich die meisten Nebenwirkungen, wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, dumpfes Kopfgefühl, eventuell Unsicherheit und Schwindelgefühl, nach einer Adaptionsphase wieder zurückbilden. Erfolgt diese Aufklärung nicht, ist die Rate der Therapieabbrüche deutlich höher. So entscheidend das Einschleichen der Therapie mit niedrigen Dosen ist, so bedeutend ist die Notwendigkeit einer ausreichenden Dosierung im oberen therapeutischen Bereich. Diese liegt bei Gabapentin bei 2.400mg („off-label“ wurde bis 3.600mg dosiert) und bei Pregabalin bei 600mg Tagesdosis. Eine Verminderung der neuropathischen Schmerzen ist in den allermeisten Fällen gegeben.
Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Topiramat blockieren Natriumkanäle peripherer Nozizeptorafferenzen. Aufgrund der geringen Evidenz und häufiger Nebenwirkungen werden Carbamazepin und Oxcarbazepin laut Leitlinie nicht zur Behandlung von schmerzhaften Polyneuropathien empfohlen. Bei Versagen von Gabapentin und Pregabalin kann im Einzelfall ein Off-label-Versuch erfolgen, vor allem bei einschießenden Schmerzattacken. Das Nebenwirkungsprofil von Carbamazepin und Oxcarbazepin ist ungünstig und umfasst kognitive Störungen, Benommenheit, Müdigkeit, Schwindel, Ataxie und gastrointestinale Störungen, aber auch Hyponatriämie, Blutbildveränderungen, Leberschädigung oder allergische Hautreaktionen. Topiramat und Lamotrigin sollten im Allgemeinen nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden. Lamotrigin kann im Einzelfall (bei Human-immunodeficiency-virus[HIV]-Neuropathie) erwogen werden, sollte jedoch wegen Nebenwirkungen (allergische Hautreaktionen) vorsichtig aufdosiert werden. Lacosamid wirkt ebenfalls über Blockade von Natriumkanälen. In der aktuellen Leitlinie wird der generelle Einsatz bei unzureichender Datenlage nicht empfohlen.
Die selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und Venlafaxin führen über eine Inhibition der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin zu einer Verstärkung der endogenen deszendierenden Schmerzhemmung. Laut Leitlinie sollten TCA als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Insbesondere bei begleitenden Schlafstörungen kann sich Amitriptylin aufgrund seines sedierenden Effekts günstig auswirken. Bei der DPN ist Amitriptylin einem Placebo deutlich überlegen (NNT 5,1). Aufgrund der nichtselektiven Bindung sind Nebenwirkungen häufig. Bei möglichen kardialen Komplikationen wird vor Therapiebeginn die Ableitung eines Elektrokardiogramms ab dem 65. Lebensjahr empfohlen. Duloxetin ist in Deutschland als Mittel der ersten Wahl für die Behandlung der schmerzhaften DPN zugelassen. Die NNT für eine mindestens 50 %ige Schmerzreduktion liegt bei 5,8 für 60 mg/Tag bzw. 5,7 für 120 mg. Für eine Dosis unter 60 mg/Tag konnte kein wirksamer Effekt gezeigt werden. Venlafaxin hat in Deutschland keine Zulassung für die Behandlung neuropathischer Schmerzen, es kann jedoch in Einzelfällen „off label“ eingesetzt werden. In einem Review mit 13 Studien, darunter 8 zur Polyneuropathie, konnte eine signifikante Schmerzreduktion ab einer Dosis von 150 mg gezeigt werden. Zu Therapiebeginn treten häufig Übelkeit und Erbrechen auf, diese sind jedoch im Verlauf oft reversibel. Aufgrund potenzieller Blutdrucksteigerung werden regelmäßige Kontrollen empfohlen.
Ein Vorteil der Topika ist die geringe systemische Nebenwirkungsrate und somit gute Verträglichkeit, sodass der Einsatz vor allem für ältere Patienten empfohlen wird. Nach Nervenschädigung kommt es unter anderem zu einer Transient-receptor-potential-vanilloid-1(TRPV1)-Überexpression auf intakten Nervenfasern. Vom Capsaicinpflaster wird Capsaicin in die Haut freigesetzt und bindet selektiv TRPV1-Rezeptoren auf nozizeptiven Endigungen. Dies resultiert initial in einer Übererregbarkeit der Nervenfasern mit Brennen, Hyperalgesie, Allodynie und Rötung durch Freisetzung vasoaktiver Substanzen. Allgemein werden Capsaicinpflaster hinsichtlich ihres schmerzlindernden Effekts in verschiedenen Übersichtsarbeiten als vergleichbar zu anderen Therapieansätzen bewertet. Die S2-Leitlinie empfiehlt das Hochdosispflaster als zweite Wahl zur Therapie neuropathischer Schmerzen, bei lokalisierten Schmerzen auch als Primärtherapie. Generell sollte die Therapie so früh wie möglich im Krankheitsverlauf begonnen werden. Unter der Therapie können lokale Hautreaktionen wie Rötung, Brennen und Juckreiz, auftreten.
Lidocainpflaster wirken als Lokalanästhetika über Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle auf Nozizeptorafferenzen. Zudem bildet das Pflaster eine mechanische Barriere gegenüber äußeren Reizen mit Schutz vor Allodynie und Hyperalgesie. Laut Leitlinie können Lidocainpflaster in der Therapie lokalisierter neuropathischer Schmerzen als zweite Wahl eingesetzt werden (bei postherpetischer Neuralgie gegebenenfalls als erste Wahl), bei allen anderen Neuropathien „off label“. In mehreren offenen klinischen Studien konnte eine positive Wirkung von Lidocainpflastern bei DPN gezeigt werden, sodass der Einsatz grundsätzlich empfohlen wird. Da nur etwa 3 % des Lidocains systemisch absorbiert werden, sind systemische Nebenwirkungen selten.
Der schmerzlindernde Effekt intrakutaner Botulinumtoxin(BTX)-Injektionen entsteht durch verminderte Freisetzung proinflammatorischer Substanzen, Deaktivierung von Natriumkanälen und verminderten axonalen Transport mit Verhinderung einer peripheren und zentralen Sensibilisierung. In einer Metaanalyse zweier Studien zur Behandlung der DPN wurde eine signifikante Schmerzreduktion gezeigt. In einer placebokontrollierten Studie wurden 66 Patienten mit peripherem neuropathischem Schmerz untersucht (14 mit schmerzhafter Polyneuropathie). Es fand sich eine signifikante Schmerzlinderung über 24 Wochen (NNT 2,5). Insgesamt wurde aufgrund der unzureichenden Datenlage eine Level-B-Empfehlung für BTX bei DPN ausgesprochen.
Opioide wirken als Agonisten an µ‑Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem. Einige Opioide wirken zusätzlich auf die endogene Schmerzmodulation. Je nach Wirksamkeit werden niederpotente und hochpotente Opioide unterschieden, wobei jeweils die Morphinäquivalenzdosis angegeben wird. Neben zentralnervösen Nebenwirkungen (Schwindel, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen) und Obstipation, kann es im Verlauf auch zu einer Toleranzentwicklung kommen. Der Einsatz von Opioiden mit dualem Wirkmechanismus liefert einen zusätzlichen analgetischen Nutzen. Das niederpotente Tramadol hemmt neben seiner Wirkung am µ‑Rezeptor die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Tapentadol wirkt zusätzlich über eine Noradrenalinwiederaufnahmehemmung. In einer Analyse zweier placebokontrollierter Studien zur Behandlung der DPN konnte durch den Einsatz von Tapentadol eine signifikante Schmerzlinderung erzielt werden. In der NeuPSIG-Leitlinie werden niederpotente Opioide als zweite Wahl und hochpotente Opioide als dritte Wahl empfohlen.
Patienten mit DPN sind meist Cluster 1 zugeordnet. Zurzeit wird untersucht, ob das therapeutische Ansprechen auf bestimmte Medikamente je nach Clusterzugehörigkeit unterschiedlich ist. Die Notwendigkeit der Patientenstratifizierung wird durch eine Studie von Demant et al. untermauert, in der der Effekt von Oxcarbazepin auf die Schmerzintensität bei peripherem neuropathischem Schmerz untersucht wurde. Die Subgruppe von Patienten mit einer thermischen Hyperalgesie („irritable nociceptor phenotype“) profitierte hier deutlicher von der Therapie als die Gesamtkohorte (NNT 3,9 vs.
Aufgrund der unzureichenden Schmerzlinderung und häufiger Nebenwirkungen unter den derzeit verfügbaren Medikamenten werden in aktuellen Studien neue Therapeutika zur Behandlung neuropathischer Schmerzen untersucht. Cannabinoide wirken als Agonisten am Cannabinoidrezeptor Typ 1 (CB1). Die Hauptkomponenten sind Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol. In einem aktuellen Cochrane-Review zeigte sich eine deutlichere Schmerzreduktion unter Cannabinoiden im Vergleich zu Placebo, allerdings auch häufiger zentrale Nebenwirkungen. Insgesamt waren die einzelnen Studien klein, von kurzer Dauer und aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen und des unterschiedlichen Studiendesigns nicht vergleichbar. Ein neuer vielversprechender Ansatz zur Therapie ist das „gene silencing“ mutierter Gene. Kürzlich wurden mit Inotersen und Patisiran zwei Medikamente zur Behandlung der hereditären Transthyretin-Amyloidose mit Polyneuropathie zugelassen, die über ein genetisches Knock-down des betroffenen Proteins Transthyretin wirken.
Medikamentöse Therapie der Begleitsymptome
Neben der Behandlung der primären PNP-Symptome ist auch die bereits oben beschriebene Behandlung der häufigen reaktiven Depression unbedingt erforderlich. Autonome Symptome, wie Blutdruckdysregulation, erektile Dysfunktion etc., sind der medikamentösen Behandlung üblicherweise gut zugänglich.
Nicht-medikamentöse Therapie
Da Polyneuropathien häufig mit einer sensiblen Ataxie und motorischen Ausfällen einhergehen, sollte die medikamentöse Therapie um physiotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden. Ziele sind unter anderem die Verbesserung von Stand, Gang und Gleichgewicht sowie ein gezieltes Training der Muskelkraft. Zur Verbesserung der Feinmotorik können ergotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden. Neben sensiblen und motorischen Symptomen können auch autonome Funktionsstörungen, wie eine orthostatische Hypotonie oder gastrointestinale Störungen, auftreten, die eine gezielte Therapie erfordern.
Kryotherapie und Kompression
Eine Nervenschädigung gilt als gefürchtete Nebenwirkung der Chemotherapie. Die aktualisierte Supportiv-Leitlinie rät bei einer Taxan-Therapie zur Vorbeugung. Bei einer peripheren Neuropathie kann es zu Kribbeln, Brennen oder Taubheitsgefühlen in den Händen kommen. Auch wenn die Datenlage hierzu nicht eindeutig ist, konnte dies in einigen Studien die Häufigkeit und den Schweregrad der Neuropathie senken. Beide Verfahren, Kryotherapie und Kompression, wurden in den letzten Jahren allein oder in Kombination vor allem bei Brustkrebspatientinnen untersucht, die ein Taxan erhielten.
Kryotherapie mit Kühlhandschuhen und Kühlsocken: Kälteanwendungen an Händen und Füßen verengen die Gefäße. Man geht davon aus, dass eine Kryotherapie, die zeitgleich zur Gabe der Chemotherapie durchgeführt wird, die Aufnahme des Chemotherapeutikums in Fingern und Zehen verringert. Dies beugt Schädigungen feinster Strukturen in den Händen und Füßen vor. Eingesetzt werden für die Kryotherapie zum Beispiel aufwendig vorbereitete Kühlhandschuhe und Kühlsocken. Patientinnen und Patienten tragen diese nicht nur während der Chemotherapie-Gabe, sondern auch 15 bis 30 Minuten davor und danach. Um die notwendige niedrige Temperatur zu halten, ist im Verlauf der Behandlung ein Wechsel auf ein weiteres Paar vorgekühlter Handschuhe und Socken notwendig. In einigen Studien wurde die Kühlung nur mit Eisbeuteln oder Eimern mit Eiswasser durchgeführt, in anderen mit einer aufwendigen Apparatur, die für kontinuierliche Kühlung sorgte.
Kompression mit Handschuhen und Strümpfen: Ein weiterer Ansatz ist die mechanische Kompression, die praktisch leichter umsetzbar ist. Dabei tragen Betroffene eng anliegende chirurgische Handschuhe (kleiner als die eigentliche Handgröße) und Kompressionsstrümpfe. Durch die Verengung der Gefäße soll auch mit dieser Methode die neurotoxische Schädigung minimiert werden. Die Verfahren sind derzeit nicht standardisiert; in den Studien waren die Durchführung und die herangezogenen Kontrollen sehr unterschiedlich. Studien, in denen Kryotherapie direkt mit Kompression verglichen wurde, zeigen eine ähnlich gute Verringerung der neurologischen Beschwerden. Aktuell laufen weitere Studien zur Kälte- und Kompressionstherapie.
Nicht alle Krebsbetroffenen tolerierten die Kälteanwendung in den Studien. Chan et al. 2022 geben an, dass als häufigste Nebenwirkung von Kälte und Kompression Hautrötungen und -irritationen sowie Taubheitsgefühle und Kribbeln bei etwa einem Viertel der Patientinnen und Patienten beobachtet wurden. Erfrierungen und Blasen durch Kälte traten deutlich seltener auf.
Differenzialdiagnosen
Zahlreiche Erkrankungsbilder gehören einerseits zur Differenzialdiagnose, können andererseits gleichzeitig mit einer PNP vorhanden sein. Diese Krankheitsbilder umfassen Plexuskompressionen, radikuläre Erkrankungen, Myopathien (z.B. Einschlusskörperchenmyositis mit PNP), Vorderhornzellerkrankungen, Syringomyelie, Myelopathien und andere.
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