Alfred Adler, ein bedeutender Arzt und Psychologe, wurde 1870 in Wien geboren und verbrachte dort viele Jahre seines Lebens. 1902 forderte Sigmund Freud ihn auf, seiner Studiengruppe beizutreten. Im Laufe der Zeit entwickelte Adler jedoch seine eigenen Ansichten, was 1911 zum Bruch zwischen den beiden führte. Anschließend gründete Adler seine eigene Schule und Zeitschrift, um seine individualpsychologische Auffassung zu verbreiten. Ab 1925 reiste er häufig nach Amerika, wo er sich 1935 endgültig niederließ. Seine Psychologie fand hier große Beachtung und Anerkennung bis in die Gegenwart.
Die Individualpsychologie Adlers gehört mit der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds und der Analytischen Psychologie C. G. Jungs zum Fundament der modernen Psychologie. Kenntnisse und Einsichten, die Adler als praktischer Arzt in Wien erwarb, trugen maßgeblich zu seiner Theoriebildung bei.
Die Essenz der Individualpsychologie
Adlers Individualpsychologie geht davon aus, dass sich aus der erlebten „Minderwertigkeit“ des hilflosen Kindes ein Leben bestimmender individueller „Lebensplan“ entwickelt, der im Wesentlichen darauf abzielt, diese Minderwertigkeit zu überwinden. Die Zielgerichtetheit, mit der der Mensch sein Leben gestaltet, steht dabei im Vordergrund.
»Die individualpsychologische Forschung erstrebt eine Vertiefung der Menschenkenntnis, die nur zu holen ist aus dem Verständnis der Stellung des Individuums zu seiner sozial bestimmten Aufgabe. Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale…«
"Neurosen. Fallgeschichten": Einblicke in die Praxis der Individualpsychologie
Die Sammlung von Vorträgen, Aufsätzen und Diskussionen des Begründers der Individualpsychologie, behandelt viele der typischen Themen Alfred Adlers, angefangen von der Kindererziehung über die Schulbildung zum Gemeinschaftsgefühl und zum Sinn des Lebens. Adler hatte kurz vor seinem Tode einige Wochen in Holland zugebracht, um dort Vorträge zu halten, und war mit der gleichen Absicht nach England und Schottland gereist. In Aberdeen war er am 28. Mai 1937 plötzlich auf der Straße tot zusammengebrochen. Die holländische Ausgabe dieses Buches ist aus stenographischen Aufzeichnungen der Adlerschen Vorträge und der anschließenden Diskussionen hervorgegangen. Hinzu kam ein Kapitel über sexuelle Probleme, dessen englischen Text der Übersetzer einen Tag vor dem Tode Adlers erhalten hatte.
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Das Werk "Neurosen. Fallgeschichten" (in der Originalausgabe "Problems of Neurosis", erschienen 1929 in London) bietet einen tiefen Einblick in die praktische Anwendung der Individualpsychologie. Herausgegeben von Philip Mairet, einem englischen Journalisten und Autor eines Buches über Individualpsychologie, präsentiert das Buch eine Sammlung von Fallgeschichten, die von Adler selbst analysiert und kommentiert wurden. Eine zweite Ausgabe erschien 1964 in New York bei Harper& Row als Harper Torchbook. In der Einführung zu dieser Ausgabe weist ihr Herausgeber Heinz L. Ansbacher darauf hin, daß das Buch ursprünglich auf englischen Manuskripten und Vorlesungsmitschriften beruhte, die Adler zur redaktionellen Bearbeitung an Mairet übergeben hatte. Außerdem führt Ansbacher in dieser Ausgabe die Kapitelüberschriften ein und auch die Überschriften zu den 37 Fällen, die in diesem Buch vorgestellt werden; sie sollen dem Leser helfen, sich besser zurechtzufinden. Die vorliegende Übesetzung beruht auf dieser Ausgabe.
Die Struktur des Buches
Das Buch ist in verschiedene Kapitel unterteilt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Neurosenlehre und ihrer Behandlung befassen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Analyse konkreter Fallbeispiele, die dem Leser einen anschaulichen Einblick in die Denkweise und Methodik Adlers ermöglichen. Die Kapitelüberschriften und die Überschriften zu den 37 Fällen, die in diesem Buch vorgestellt werden, sollen dem Leser helfen, sich besser zurechtzufinden.
Adlers Ansatz zur Neurosenbehandlung
Adler geht davon aus, daß das Individuum einem einheitlichen selbstgestellten Ziel zustrebt. Unter dieser Annahme entfallen die Voraussetzungen für die dramatische Inszenierung von Kräften und Gegenkräften, von Kämpfen und Konflikten und von Menschen als tragischen Helden und hilflosen Opfern solcher Auseinandersetzungen. Eher prosaisch ist stattdessen nur von Fehlern und falschen Einstellungen, von Lebensaufgaben und deren mehr oder weniger gelungenen Lösungen die Rede. Wer es gewohnt ist, Triebe und Instanzen, Mechanismen und Strukturen als lebendige Wesenheiten zu betrachten, wird vieles vermissen; wer sich aber vergegenwärtigt, daß es sich dabei um nichts anderes handelt als um Konstruktionen und Abstraktionen, um Fiktionen, die das Denken erleichtern sollen, wird an diesem Buch prüfen können, ob diese Denkwerkzeuge unverzichtbar sind und ob die Werkzeuge der Individualpsychologie nicht zu genauso schnellem und gründlichem Verstehen und zur ebenso wirkungsvollen Behandlung von Neurosen geeignet sind.
Adlers Ansatz zur Neurosenbehandlung unterscheidet sich grundlegend von anderen psychologischen Schulen. Anstatt sich auf unbewusste Konflikte oder traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit zu konzentrieren, betont Adler die Bedeutung des individuellen Lebensstils und der subjektiven Zielsetzung des Patienten. Er geht davon aus, dass Neurosen Ausdruck eines fehlerhaften Lebensstils sind, der durch Minderwertigkeitsgefühle, Geltungsstreben und mangelndes Gemeinschaftsgefühl gekennzeichnet ist.
Die Rolle des Gemeinschaftsgefühls
Ein zentraler Begriff in Adlers Theorie ist das Gemeinschaftsgefühl. Er versteht darunter die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, sich in die Gemeinschaft einzufügen, Verantwortung zu übernehmen und zum Wohl anderer beizutragen. Adler ist davon überzeugt, dass ein starkes Gemeinschaftsgefühl eine wesentliche Voraussetzung für psychische Gesundheit und ein erfülltes Leben ist.
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Die Bedeutung der Kindererziehung
Adler misst der Kindererziehung eine große Bedeutung bei der Entwicklung eines gesunden Lebensstils und eines starken Gemeinschaftsgefühls. Er betont die Notwendigkeit, Kinder zu ermutigen, ihnen Selbstvertrauen zu vermitteln und sie zu einer konstruktiven Teilnahme am sozialen Leben zu erziehen.
Stil und Sprache
Auch dieses Werk ist wie fast alle Scriften von Adler in einer allgemeinverständlichen Sprache verfaßt. Wenngleich die Adlersche Sprache sicherlich durch die doppelte Übersetzung, vom Englischen ins Niederländische und jetzt vom Niederländischen ins Deutsche, an stilistischer und begrifflicher Eigenart verloren hat, so dürften dem Adler-Kenner die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung vertraut vorkommen. Die deutsche Erstausgabe stellt eine Bereicherung der Adler-Edition im Fischer Taschenbuch Verlag dar.
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