Nicht-epileptische Anfälle bei Kindern: Ursachen, Diagnose und Behandlung

Nicht-epileptische Anfälle (NEA), auch dissoziative oder psychogene Anfälle genannt, sind Anfälle, die epileptischen Anfällen ähneln, aber keine epileptische Ursache haben. Stattdessen liegen ihnen psychische Belastungen zugrunde. Sie können in jedem Alter auftreten, auch bei Kindern, und sind oft schwer von epileptischen Anfällen zu unterscheiden. Es ist wichtig, NEA von anderen Anfallsformen abzugrenzen, um eine effektive Behandlung zu gewährleisten.

Ursachen nicht-epileptischer Anfälle bei Kindern

Die Ursachen für NEA sind vielfältig und oft komplex. Im Gegensatz zu epileptischen Anfällen, die durch Störungen der elektrischen Aktivität im Gehirn verursacht werden, entstehen NEA durch seelische Belastungen. Solche Belastungen können sein:

  • Traumatische Erlebnisse: Insbesondere Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit und Jugend gelten als prädisponierende Faktoren. Diese Erlebnisse können die Anfälligkeit für die Entwicklung von NEA immens erhöhen. Das Trauma kann hierbei schon sehr lange zurückliegen, und die Betroffenen erinnern sich vielleicht gar nicht mehr daran.
  • Psychische Belastungen: Schwere seelische Belastungen, die den Betroffenen teilweise nicht bewusst sind, können Ursache für NEA sein. Hieraus können psychogene Anfälle in Form von automatisierten, reflexartigen Körperreaktionen als Krankheitsbild entstehen, die ursprünglich eine schützende oder abwehrende Funktion hatten.
  • Angststörungen: Angststörungen können ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung von NEA spielen.
  • Dissoziative Störungen: Bei psychogenen Anfällen handelt es sich um eine dissoziative Störung, auch als Konversionsstörung bezeichnet. Das bedeutet, dass die Betroffenen in der Regel körperlich gesund sind. Die Ursachen psychogener Anfälle sind somit keine körperlichen Beschwerden, sondern seelische Belastungen, die zu Krankheitszeichen und einer speziellen Symptomatik führen.

Es ist wichtig zu beachten, dass NEA nicht "eingebildet" sind. Sie sind eine echte Reaktion des Körpers auf psychischen Stress.

Symptome nicht-epileptischer Anfälle bei Kindern

Die Symptome von NEA können sehr unterschiedlich sein und epileptischen Anfällen ähneln. Dies macht die Diagnose oft schwierig. Einige häufige Symptome sind:

  • Plötzlicher Kontrollverlust über den Körper: Dies kann sich in Zuckungen, Verkrampfungen oder einem Ohnmachtsanfall äußern.
  • Bewusstseinsveränderungen: Die Anfälle begleiten außerdem starke Einschränkungen der Bewusstseinsfunktionen.
  • Bewegungsstörungen: Plötzliche Bewegungsstörungen oder Bewusstseinsveränderungen ohne eine organische Ursache im Gehirn.
  • Automatisierte Bewegungen: Psychogene Bewegungsstörung: Kontrollverlust und automatisierte Bewegungen. Beispiele: Schimpfworten und Sätzen.
  • Tonische Verkrampfung: Tonische Verkrampfung, auch ein Urinabgang ist dabei möglich.

Die Anfälle dauern oft mehrere Minuten und können bei psychischer Belastung vermehrt auftreten.

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Diagnose nicht-epileptischer Anfälle bei Kindern

Die Diagnose von NEA ist oft eine Herausforderung, da die Symptome epileptischen Anfällen ähneln. Eine sorgfältige Anamnese und Beobachtung des Anfallsgeschehens sind entscheidend. Wichtig ist die Abgrenzung zur Epilepsie. Die Diagnose stützt sich auf das typische Erscheinungsbild der Anfälle.

Folgende Punkte sind bei der Diagnose zu beachten:

  • Anamnese: Ein ausführliches Gespräch mit dem Kind und den Eltern über die Anfallsgeschichte, mögliche Auslöser und Begleitumstände.
  • Beobachtung des Anfalls: Wenn möglich, sollte der Anfall von einem Arzt oder einer anderen medizinischen Fachkraft beobachtet werden. Dies kann helfen, die Art des Anfalls zu bestimmen und von einem epileptischen Anfall zu unterscheiden.
  • EEG (Elektroenzephalogramm): Ein EEG misst die elektrische Aktivität im Gehirn. Bei NEA zeigt das EEG keine epileptischen Entladungen. Anders als ein epileptischer Anfall entsteht ein psychogener Anfall bzw. psychogener Krampfanfall nicht durch neuronale Störungen mit entsprechenden pathologischen elektrischen Aktivitäten des Gehirns.
  • Video-EEG-Monitoring: Bei dieser Untersuchung wird das Kind über einen längeren Zeitraum (oft mehrere Tage) mit Video und EEG überwacht. Dies kann helfen, Anfälle aufzuzeichnen und die Diagnose zu sichern.
  • Psychologische Untersuchung: Eine psychologische Untersuchung kann helfen, mögliche psychische Ursachen für die Anfälle zu identifizieren. Hierfür werden in einem gemeinsamen Anamnese-Gespräch die physischen und körperlichen Beschwerden und individuellen Lebensumstände besprochen.

Leider ist kein Symptom für die Diagnose einer psychogenen Erkrankung eindeutig, weshalb eine differenzierte Diagnose unabdingbar ist. Dennoch bilden Symptomkonstellationen einen Wahrscheinlichkeitsraum, der den Verdacht nahelegt.

Es konnte gezeigt werden, dass 10-20 % aller Patienten, die wegen einer therapierefraktären Epilepsie in einem spezialisierten Zentrum vorgestellt werden und bereits mehrere Antiepileptika erhielten, an nichtepileptischen Anfällen leiden. Diese Patienten litten meist an Synkopen, psychogenen Störungen, Affektkrämpfen oder Parasomnien.

Differentialdiagnosen

Viele paroxysmal auftretende Phänomene bzw. Krankheiten können epileptischen Anfällen mehr oder minder ähneln und stellen somit relevante Differenzialdiagnosen dar, die dem Pädiater bekannt sein sollten.

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Synkopen

Synkopen sind nichtepileptische, kurze Ohnmachten, die durch eine verminderte Hirndurchblutung verschiedener Ursache ausgelöst werden. Alle Synkopen, egal ob neurogen oder kardiogen ausgelöst, können Myoklonien und zum Teil auch Kloni zeigen.

  • Neurogene Synkopen: Zu fordern ist ein (typischer) Auslöser (schnelles Aufstehen, Hyperventilation, Blutsehen etc.), oft folgen eine Aura (Schwindel, Schwarz-vor-den-Augen-Werden, Tinnitus etc.) und dann der Tonusverlust. Nachdem die Patienten zu Boden gesunken sind, können in ca. 40 % der Fälle irreguläre bilaterale Kloni beobachtet werden. In vielen Fällen ist die Familienanamnese positiv. Selten kommen auch Synkopen bei liegenden Personen vor. Vasovagale Synkopen kommen durch den Kehldeckelreflex, z. B.
  • Kardiale Synkopen: Sie sind im Kindesalter viel seltener, aber auch gefährlicher als neurogene Synkopen. Typisch, wenn auch nicht obligat, ist ein Auftreten aus körperlicher Bewegung bzw. Aktion heraus. Sie können durch viele Herzfehler (z. B. Aortenstenose, Fallot etc.) oder bei strukturell normalem Herzen von Herzrhythmusstörungen (v. a. langes QT-Syndrom) ausgelöst werden. Die relevanten Herzrhythmusstörungen müssen sorgfältig durch Langzeit- und Belastungs-EKG ausgeschlossen werden.

Affektkrämpfe

Affektkrämpfe treten bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr auf.

  • Blasse Affektkrämpfe: Treten meist nach einem unerwarteten Schlag gegen den Kopf oder anderen schmerzhaften - in der Regel überraschenden - Ereignissen auf. Es folgt sofort eine reflektorische Asystolie (bzw. Bradykardie) oder ein deutlicher Blutdruckabfall, der zur Sauerstoffunterversorgung zuerst des Hirnstamms und dann des gesamten Gehirns führt. Die Kinder werden sofort blass und sinken meist regungslos zu Boden. Tonische Versteifung und einzelne Myoklonien folgen.
  • Zyanotische Affektkrämpfe: Die Kinder schreien nach einem schmerzhaften Reiz oder auch nur nach einem Frustrationserlebnis heftig und blockieren ihre Exspiration. Im Anschluss verlieren sie den Tonus und werden bewusstlos. Bei manchen Kindern kommt es in der Exspiration bereits zu einer starken tonischen Versteifung und einzelnen Kloni. Die Zyanose kann dann sehr bedrohlich wirken.

Schlafmyoklonien des Säuglings

Diese sind die wichtigste Differenzialdiagnose zur Epilepsie dieser Altersgruppe und müssen jedem Pädiater geläufig sein. Sie bestehen aus irregulären oder rhythmischen Myoklonien und Kloni der Extremitäten und kommen nur im Schlaf vor. Die oft clusterhaft auftretenden Myoklonien erfassen nicht das Gesicht und auch der Rumpf ist meist nur leicht betroffen. Die Symptomatik kann sehr heftig ausgeprägt sein und einem epileptischen Anfall täuschend ähnlich sehen. Die Kinder sind (zerebral) gesund, die Myoklonien verschwinden durch Wecken immer sofort, das EEG ist unauffällig und die Symptomatik endet spontan innerhalb der ersten 6 Lebensmonate.

Benigner Myoklonus des Säuglings

Der benigne Myoklonus des Säuglings (auch „shuddering“ oder Schauderattacken) kommt meist bei Säuglingen zwischen dem 3. und 8. Lebensmonat vor. Extremitäten, Rumpf und geringer ausgeprägt auch der Nacken zeigen tremorartige ca. 10-Hz-Zuckungen, die sehr diskret ausgeprägt sein können. Das Bewusstsein der Kinder ist unbeeinträchtigt.

Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom

Dieses Syndrom besteht aus heftigen Myoklonien, chaotischen ungerichteten Bulbusbewegungen und später einer Ataxie. Auch während der Myoklonien ist das EEG (abgesehen von den Bewegungsartefakten) unauffällig. Die Krankheit tritt meist in den ersten 3 Lebensjahren auf. Ursache ist entweder ein Neuroblastom oder ein para- bzw. postinfektiöser Auslöser.

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Hyperekplexie

Sie wird durch Defekte in einem spinal exprimierten Glycinrezeptor ausgelöst. Der Erbmodus ist meist autosomal-dominant. Mehrere ursächliche Gene sind identifiziert (GLRA1, GLRA2 u. a.). Die Krankheit kann sich in der Neugeborenenperiode mit tonischer Versteifung des gesamten Körpers und mit schwerer Zyanose manifestieren. Die zunehmende Schreckhaftigkeit wird oft erst in den kommenden Wochen und Monaten deutlich.

Gratifikationsphänomene bzw. kindliche Masturbation

Diese treten vorwiegend innerhalb der ersten 5 Lebensjahre bei Mädchen auf. Typisch sind gekreuzt und aneinander gepresste Beine bzw. Oberschenkel. Die Kinder wirken abwesend, blicken verklärt, oft bemerkt man eine Gesichtsrötung. Rhythmische Beckenbewegungen sind typisch, können aber auch ganz fehlen. Manchmal pressen die Mädchen ihren Schritt auch gegen Gegenstände (Tisch- oder Stuhlbeine). Versucht man die Kinder anzusprechen, reagieren sie nur unwillig. Beendet man die Bewegung aktiv, werden sie ärgerlich und fahren anschließend wieder damit fort. Es liegen keine psychologischen Konfliktsituationen zugrunde!

Benigner paroxysmaler Torticollis

Dieser betrifft Kinder der ersten 5 Lebensjahre; der Beginn ist plötzlich. Die Patienten legen sich zu Boden, halten sich an Gegenständen oder Personen fest. Die Attacken dauern meist ca. 1 min. Das Bewusstsein bleibt erhalten, oft werden die Kinder blass. Manchmal können die Eltern einen Nystagmus beobachten.

Sandifer-Syndrom

Dieses bezeichnet tonische Kopfwendungen, die sich auch auf Extremitäten und Körper ausdehnen können. Die Kinder nehmen dabei zum Teil bizarre Haltungen ein. Ursprünglich wurde angenommen, dass dieses Syndrom nur bei Kindern mit gastroösophagealem Reflux oder axialer Gleithernie auftritt.

Okuläre Kloni

Dieser tritt meist im 1. oder 2. Lebensjahr auf. Es kommt zu tonischen Augenbewegungen nach oben, die meist weniger als 1 min dauern. Die Episoden können sich mehrfach am Tag wiederholen. Beim Versuch, nach unten zu blicken, kommt es zu einem Nystagmus.

Okulomotorische Apraxie

Diese wird nicht selten mit myoklonischen Anfällen verwechselt. Die Kinder können die Bulbi nicht zielgerichtet bewegen. Um eine Blickrichtungsänderung zu erzielen, führen sie ruckartige Bewegungen des gesamten Kopfes aus.

Parasomnien

Seit Einführung der 24-h-EEG bzw. 24-h-Polygrafien steigt die Zahl der unterschiedlichen Formen der Parasomnien Jahr für Jahr weiter an. Die meisten Parasomnien des Kindesalters treten im Non-REM-Schlaf beim allmählichen Erwachen aus den Tiefschlafstadien (Stadium 3 und 4) heraus auf und sind möglicherweise Ausdruck eines partiellen Wiedererlangens des Bewusstseins. Der Parvor nocturnus betrifft Kinder im Vorschulalter. Es kommt zu heftigen nächtlichen Angstzuständen. Die Kinder erwachen, wirken stark agitiert, sitzen schreiend im Bett und laufen manchmal sogar umher.

Narkolepsie

Bei der Narkolepsie handelt es sich um eine wichtige, wenn auch seltene Differenzialdiagnose der Epilepsie. Die Narkolepsie ist durch plötzliches übergangsloses Einschlafen und vermehrte Tagesmüdigkeit gekennzeichnet. Die Patienten kommen zu schnell nach dem Einschlafen in den REM-Schlaf und haben ein übermäßiges Schlafbedürfnis.

Behandlung nicht-epileptischer Anfälle bei Kindern

Die Behandlung von NEA konzentriert sich auf die psychischen Ursachen der Anfälle. Medikamente gegen Epilepsie sind bei NEA nicht wirksam. Eine individuell angepasste Psychotherapie kann jedoch sehr wirksam sein. Die Patienten lernen, psychodynamische Zusammenhänge, Frühwarnzeichen und Auslöser eines psychogenen Anfalls zu identifizieren.

Folgende Therapieansätze können hilfreich sein:

  • Psychotherapie: Verschiedene Formen der Psychotherapie können eingesetzt werden, um die zugrunde liegenden psychischen Probleme zu behandeln. Dazu gehören kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Traumatherapie.
  • Familientherapie: Da NEA oft Auswirkungen auf die ganze Familie haben, kann eine Familientherapie hilfreich sein, um die Kommunikation und das Verständnis innerhalb der Familie zu verbessern.
  • Entspannungstechniken: Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung oder autogenes Training können helfen, Stress abzubauen und die Anfallshäufigkeit zu reduzieren.

In komplizierteren Fällen mit komplexerem Störungsniveau, weiteren psychischen Begleiterkrankungen und zum Beispiel traumatischer Vorgeschichte wird ein differenziertes Behandlungskonzept mit verursachungsspezifischen Therapietechniken entwickelt. Damit werden die zugrundeliegenden Traumata, aber auch Angstzustände, depressive Zustände und psychosomatische Symptomkomplexe behandelt.

Wichtig ist ein offener Umgang mit der Erkrankung. Angehörige, Freunde und Kolleg:innen sollten wissen, wie sie im Ernstfall reagieren.

Prognose nicht-epileptischer Anfälle bei Kindern

Die Prognose für Kinder mit NEA ist unterschiedlich. Ohne gezielte Therapie bleiben dissoziative Anfälle oft über Jahre bestehen. Eine spontane Heilung ist selten - aber mit gezielter Therapie sind die Chancen gut: Bei über der Hälfte der Patienten nehmen die Anfälle stark ab oder verschwinden ganz. Jeder zweite Betroffene wird mit Therapie anfallsfrei - früh beginnen lohnt sich!

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