Schlucken ist ein komplexer, teils bewusster, teils unbewusster Vorgang, der von Geburt an zu den grundlegenden Körperfunktionen gehört. Dabei müssen über 50 Muskelpaare koordiniert werden, um Nahrung und Flüssigkeiten sicher vom Mund in den Magen zu transportieren und gleichzeitig die Atemwege zu schützen. Eine Störung dieses komplexen Ablaufs wird als Dysphagie bezeichnet. Nach einem Schlaganfall kann es häufig zu Problemen beim Schlucken kommen.
Der komplexe Schluckvorgang
Der Schluckvorgang gliedert sich in verschiedene Phasen:
- Vorbereitungsphase: Im Mund wird die Nahrung durch Zähne und Zunge zerkleinert und mit Speichel vermischt, um einen schluckfähigen Brei zu bilden.
- Transportphase: Durch Zungenbewegungen und das Zusammenziehen der Halsmuskulatur wird die Nahrung zur Speiseröhre befördert.
- Ösophageale Phase: Wellenförmige Bewegungen der Speiseröhre transportieren die Nahrung in den Magen.
Dr. Ilia Aroyo, Oberarzt der Klinik für Neurologie und Neurointensivmedizin in Darmstadt, betont die Komplexität des Schluckens: Die Hirnrinde als zentrale Steuerung und mindestens fünf Hirnnervenpaare als direkte Impulsgeber aktivieren mehr als 50 Muskelpaare. Dieser Ablauf geschieht normalerweise unwillkürlich und reibungslos.
Ursachen für Schluckstörungen nach Schlaganfall
Schluckstörungen, auch Dysphagien genannt, sind eine häufige Folge eines Schlaganfalls. Studien zeigen, dass bis zu 75 % der Patienten nach einem Schlaganfall Schwierigkeiten beim Schlucken haben. Es gibt aber auch weitere Ursachen für Dysphagien.
Neurologische Ursachen
- Schlaganfall: Bei etwa 80 % der Patienten mit akutem Schlaganfall tritt eine Schluckstörung auf, die bei etwa einem Viertel dauerhaft bestehen bleibt.
- Andere neurologische Erkrankungen: Parkinson-Krankheit, Multiple Sklerose, Epilepsie, Demenz und Muskelerkrankungen können ebenfalls Dysphagien verursachen.
Weitere Ursachen
- Tumore im Mund- und Rachenraum
- Traumata
- Erkrankungen der Speiseröhre oder des Magen-Darm-Trakts
- Entzündungen
- Anatomische Fehlbildungen
- Erkrankungen der Halswirbelsäule (HWS-Syndrom)
Folgen von Schluckstörungen
Schluckstörungen können erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität haben und zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führen:
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- Lungenentzündungen: Durch das Eindringen von Nahrung oder Flüssigkeit in die Atemwege (Aspiration) kann es zu Aspirationspneumonien kommen.
- Mangelernährung: Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme können zu einer Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen führen.
- Dehydration: Eine unzureichende Flüssigkeitsaufnahme kann zu Austrocknung führen.
- Verlust an Lebensqualität: Die Angst vor dem Verschlucken und die Einschränkungen beim Essen können die soziale Teilhabe beeinträchtigen.
Diagnostik von Schluckstörungen
Eine frühzeitige und umfassende Diagnostik ist entscheidend, um die Ursache der Schluckstörung zu ermitteln und eine geeignete Therapie einzuleiten. Verschiedene Verfahren stehen zur Verfügung, um die Schluckfunktion zu beurteilen:
- Klinische Untersuchung: Beobachtung des Patienten beim Essen und Trinken, Beurteilung der Mundmotorik und der Reflexe.
- Gugging Swallowing Screen (GUSS): Ein standardisiertes Protokoll zur Beurteilung der Schluckfähigkeit mit verschiedenen Konsistenzen.
- Volume-Viscosity Swallow Test (V-VST): Untersuchung mit Getränken und Nahrung in verschiedenen Konsistenzen.
- Fiberendoskopische Untersuchung des Schluckaktes (FEES): Eine flexible Endoskopie ermöglicht die direkte Beobachtung von Rachen und Kehlkopf während des Schluckens. Die FEDSS (Fiberoptic Endoscopic Dysphagia Severity Scale) teilt den Befund in sechs Schweregrade ein.
- Videofluoroskopie (VFSS): Röntgenuntersuchung des Schluckaktes mit Kontrastmittel (Breischluck). Die Penetration-Aspiration Scale (PAS) mit 1-8 Punkten charakterisiert das Ausmaß, in dem der geschluckte Bolus in die Atemwege gelangt.
- Gastroskopie: Untersuchung der Speiseröhre und des Magens mit einem Endoskop.
- High-Definition-Manometrie: Messung des Drucks in der Speiseröhre.
Dr. Aroyo betont, dass im Klinikum Darmstadt modernste Verfahren zur Abklärung der Dysphagie zur Verfügung stehen und die Beschwerden der Patienten interdisziplinär aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden.
Risikofaktoren für Dysphagie
Bei der Untersuchung sollten folgende Risikofaktoren berücksichtigt werden:
- Fazialisparese
- Sprachstörungen bis zur Aphasie
- Schweregrad des Schlaganfalls auf der National Institutes of Health Stroke Scale (NIHSS) ≥ 10 für supratentoriell bzw. ≥ 6 für infratentorielle lokalisierte Infarkte
Vor- und Nachteile instrumenteller Diagnostik
| Verfahren | Vorgehen | Bewertung | Vorteile | Nachteile |
|---|---|---|---|---|
| Flexible Endoskopie | Transnasales Einbringen des Endoskops bis in den Rachen, sodass der Untersucher Pharynx und Larynx beim anschließenden Schluckversuch direkt beobachten kann | Die FEDSS (Fiberoptic Endoscopic Dysphagia Severity Scale) teilt den Befund in sechs Schweregrade ein, wobei 1 für „keine relevante Dysphagie“ steht, 6 für „schwere Dysphagie“ | direkt auf Station möglich, kosteneffizient, alle Phasen des Schluckakts bis in den Ösophagus sichtbar, auch Störung bei der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters erkennbar, zeitliche Beurteilung der einzelnen Schluckphasen | ösophageale Phase lässt sich nur indirekt beurteilen, „Whiteout“ beim pharyngealen Anteil des Schluckens (Pharynxkontraktion schiebt die Optik an die Rachenhinterwand, sodass in diesem Moment der Larynx nicht sichtbar ist) |
| Videofluoroskopie | Radiologische Durchleuchtung des Patienten, während er einen kontrastmittelhaltigen Bolus schluckt | Die Penetration-Aspiration Scale (PAS) mit 1-8 Punkten charakterisiert das Ausmaß, in dem der geschluckte Bolus in die Atemwege gelangt | Patient muss in die Radiologie transportiert werden, funktioniert nicht bei unkooperativen Kranken, Strahlenexposition, höhere Kosten |
Therapie von Schluckstörungen
Die Therapie von Schluckstörungen zielt darauf ab, das Risiko von Lungenentzündungen durch Aspiration zu minimieren, die Schluckfähigkeit wiederherzustellen und die Ernährung des Patienten zu verbessern.
Therapieverfahren
- Funktionstraining: Stärkung der Muskelkraft der am Schluckprozess beteiligten Organstrukturen.
- Bewegungstraining: Gezieltes Training der Bewegungsfähigkeit von Zunge, Kehlkopf und Kiefer.
- Stimulationstechniken: Einsatz von Vibration, Druck oder Geschmack, um die Wahrnehmung der Schluckorgane zu verbessern.
- Kompensationstechniken: Erlernen von Techniken, um den Schluckvorgang zu erleichtern, z.B. durch Anpassung der Körperhaltung.
- Apparative Therapien:
- Pharyngeale elektrische Stimulation (PES): Stimulation der Nervenbahnen im Schlund mit elektrischen Impulsen.
- Neuromuskuläre elektrische Stimulation: Training der am Schluckvorgang beteiligten Muskeln mit elektrischer Stimulation.
- Anpassung der Kost: Veränderung der Konsistenz der Speisen, um das Schlucken zu erleichtern. Mischkonsistenzen sollten vermieden werden.
- Medikamentöse Therapie: Einsatz von Medikamenten zur Reduktion des Speichelflusses oder zur Senkung des Risikos einer Lungenentzündung.
Dr. Melanie Weinert vom Kölner Dysphagiezentrum betont, dass die Therapie individuell angepasst werden muss, da sie von der betroffenen Hirnregion und den weiteren Einschränkungen abhängt.
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Spezielle Kostformen
Bei Schluckstörungen ist es wichtig, die Konsistenz der Nahrung anzupassen. Empfehlenswert sind:
- Weiche, aber nicht zu flüssige Kost
- Pürierte Speisen
- Angedickte Getränke (Saftschorlen oder Tees überdecken den Geschmack des Andickungsmittels besser)
Vermeiden Sie:
- Trockene, körnige, faserige oder klebrige Produkte
- Mischkonsistenzen (z.B. Suppen mit Einlage, frisches Obst)
Unterstützung beim Essen und Trinken
- Aufrechte Körperhaltung beim Essen und Trinken
- Ruhe und Konzentration während der Nahrungsaufnahme
- Sorgfältige Mundpflege
- Einsatz von speziellem Geschirr und Besteck
- Begleitung beim Essen
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