Musik ist mehr als nur eine Anordnung von Tönen; sie ist ein tiefgreifendes menschliches Erlebnis, das unsere Emotionen, Gedanken und unser Wohlbefinden beeinflusst. Die Dokumentarreihe "Noten und Neuronen" von Arte beleuchtet auf wissenschaftliche Weise die komplexe Verbindung zwischen Musik und dem menschlichen Gehirn. Dieser Artikel fasst die Erkenntnisse aus der Sendung und anderer Forschung zusammen und bietet einen umfassenden Überblick über die Auswirkungen von Musik auf unser Gehirn.
Die neurologischen Grundlagen der Musikwahrnehmung
Wenn wir Musik hören, werden verschiedene Bereiche unseres Gehirns gleichzeitig aktiviert. Die Schallwellen treffen zunächst auf das Trommelfell, dessen Schwingungen die Härchen auf der Basilarmembran in der Cochlea bewegen. Diese Bewegung wandelt die Schallwellen in ein Muster neurochemischer Aktivierung um, das sich vom auditorischen Kortex zum anterioren insularen Kortex bewegt. Hier findet die musikalische Bedeutungsgebung statt, und wir hören die Musik tatsächlich mit unserem Körper.
Der Ton, definiert durch seine Frequenz, wird an frequenzabhängigen Stellen der Basilarmembran in der Cochlea wahrgenommen. Mit Hilfe von Neurotransmittern wird dieser dann über Akkustikusnerven an die zahlreichen auditorischen Nuklei im Hirnstamm weitergeleitet. Wie aber genau die Tontrennung in den Nuklei erfolgt, ist bis heute unklar. Sie setzt sich jedoch bis in den primären Audiokortex fort, der somit, wie die Cochlea, eine Tonotopie aufweist. Unbewusste Eindrücke wie die Melodie werden im sekundären Audiocortex verarbeitet. Dieser entspringt im Brodmann-Areal 42 und ist im oberen Teil des Temporallappens zu finden. Dieser Teil liegt ebenfalls im Sulcus lateralis und ist auch für Rhythmus zuständig.
Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Musikwahrnehmung nicht auf diese drei Hirnareale reduziert werden kann. Schon beim Klopfen eines Rhythmus werden zahlreiche weitere Hirnareale aktiviert. Der linke Frontal- und Parietallappen muss die sensorischen und motorischen Informationen organisieren und ausführen. Dies bezieht auch das Kleinhirn mit ein. Je komplexer der Rhythmus ist, desto größer sind auch die zusätzlich aktivierten Areale in den Stammganglien. Wenn es sich dabei auch noch um einen Lieblingssong handelt, kommen Gefühle und Emotionen ins Spiel.
Die emotionale Wirkung der Musik
Die emotionale Wirkung der Musik auf das Gehirn ist außergewöhnlich. Musik kann unsere Stimmungslage beeinflussen und Glücksgefühle auslösen. Dies liegt daran, dass Musik die Aktivierung von Lustzentren im Gehirn stimuliert, die Dopamin freisetzen, einen Neurotransmitter, der für Glücksgefühle verantwortlich ist. Erhöhte Serotoninspiegel findet man beispielsweise bei Probanden nach dem Hören von Musik, die sie als schön einstufen. Auch andere Studien zeigen, dass es zu einer Erhöhung der Aktivität im mesolimbischen System, dem Hypothalamus sowie der Inselrinde kommt, wenn der Serotoninspiegel erhöht ist.
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Warum aber genau empfinden wir bestimmte Tonabfolgen als harmonisch und was ist so anziehend an ihnen? Neben einer visuellen Vorstellung gibt es auch eine musikalische Vorstellung. Diese kann von Mensch zu Mensch variieren. Manche beschränken sich dabei nur auf den Rhythmus, andere sind in der Lage Melodien oder sogar ganze Orchester in ihrem Kopf spielen zu lassen. Dabei kommt es bei Musikern zu einer Visualisierung der Musik.
Musik und kognitive Fähigkeiten
Die Forschung hat gezeigt, dass Musizieren und Musikhören das Gehirn stimulieren und das Gedächtnis verbessern können. Das Erlernen eines Instruments erfordert die Koordination verschiedener Fähigkeiten, darunter motorische Fähigkeiten, Hören, Speichern von Audioinformationen und Gedächtnis. Um ein Musikstück richtig spielen zu können, muss man tief einatmen und lernen, wie man die Luft richtig ausstößt, um den gewünschten Klang zu erzeugen. Beim Lesen von Noten muss das Gehirn unbewusst eine Note in ein bestimmtes motorisches Muster umsetzen.
Eine Studie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) untersuchte die Verbindungen zwischen musikalischen und kognitiven Fähigkeiten. Die Ergebnisse zeigten, dass Instrumentaltraining zu einer erhöhten kognitiven Flexibilität führt, was bei musikspezifischen Aufgaben (z.B. Wechsel zwischen verschiedenen Notenschlüsseln) der Fall war.
Musiktherapie: Die heilende Kraft der Musik
Die positiven Auswirkungen der Musik auf das Gehirn haben zu therapeutischen Anwendungen geführt. Musiktherapie wird eingesetzt, um Sprach- und Kommunikationsstörungen zu behandeln, die motorischen Fähigkeiten von Parkinson-Patienten zu verbessern und die Rehabilitation nach einem Schlaganfall zu unterstützen.
Eine Studie finnischer Forscher der Universität Helsinki zeigte, dass Schlaganfallpatienten, die täglich mehrere Stunden Musik hörten, eine signifikante Verbesserung ihres Sprachgedächtnisses und ihrer Konzentrationsfähigkeit aufwiesen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Musiktherapie eine kostengünstige und einfach anzuwendende Methode sein kann, um die Genesung nach einem Schlaganfall zu fördern.
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Der angesehene Neurologe Prof. Oliver Sacks beschreibt in seinem Buch "Der einarmige Pianist" beeindruckende Patientengeschichten, die die heilende Kraft der Musik verdeutlichen. Er beschreibt einen Patienten mit einer schwerwiegenden Broca-Aphasie, der nach einem Schlaganfall nicht in der Lage war, sich verbal zu äußern. Durch die Musiktherapie konnte der Patient jedoch wieder mit seinen Angehörigen und Freunden verbal kommunizieren.
Musikalische Inselbegabungen und Synästhesie
Einige Menschen verfügen über außergewöhnliche musikalische Fähigkeiten, die als musikalische Inselbegabungen bezeichnet werden. Diese Menschen haben oft eine einseitige Entwicklung der rechten Hirnhälfte, die für die Verarbeitung von Musik zuständig ist.
Synästhesie ist ein weiteres faszinierendes Phänomen, bei dem die Wahrnehmung von Tönen mit anderen Sinneseindrücken wie Farben oder Geschmäckern verbunden ist. Oliver Sacks stellt in seinem Buch den Komponisten Michael Torke vor, der neben seinem perfekten Gehör auch eine Synästhesie aufweist. In seiner Wahrnehmung hat jeder Ton und jedes Stück mit dem jeweiligen Grundton für ihn eine gewisse Farbe, eine Tönung.
Die Krise der modernen Musik
Der amerikanische Wissenschaftsautor Robert Jourdain argumentiert in seinem Buch "Music, The Brain and Ecstasy", dass die moderne Orchester- und Konzertmusik ihre soziale und emotionale Bedeutung verloren hat. Er ist der Überzeugung, dass die musikalischen Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, wie Arnold Schönberg, die unmittelbare emotionale Zugänglichkeit ihrer Werke geopfert haben, indem sie den radikalen Bruch mit aller Harmonie forderten.
Jourdain glaubt, dass die Hirnforschung dereinst den Ausweg aus dieser Sackgasse weisen könnte. Er argumentiert, dass die moderne Kunstmusik nicht einen neuen Beethoven brauche, sondern einen neuen Newton des Geistes.
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Musik und das Gehirn: Ein fortlaufendes Forschungsfeld
Die Forschung über die Auswirkungen von Musik auf das Gehirn ist ein fortlaufendes Feld mit vielen ungelösten Fragen. Die Wissenschaftler arbeiten daran, die komplexen neuronalen Prozesse zu verstehen, die der Musikwahrnehmung, den emotionalen Reaktionen auf Musik und den therapeutischen Anwendungen von Musik zugrunde liegen.
Die Erkenntnisse aus dieser Forschung haben das Potenzial, unser Verständnis des menschlichen Gehirns zu erweitern und neue Wege zur Verbesserung unseres Wohlbefindens zu eröffnen.