Die Anenzephalie ist eine schwere angeborene Fehlbildung des Zentralnervensystems, bei der ein Kind ohne wesentliche Teile des Gehirns und des Schädeldachs geboren wird. Der Begriff leitet sich vom Griechischen ab und bedeutet „Ohne Gehirn“. Diese Fehlbildung wirft komplexe medizinische, ethische und soziale Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die Lebensfähigkeit und die Würde der betroffenen Kinder.
Was ist Anenzephalie?
Anenzephalie ist definiert als eine Entwicklungsstörung, die während der Frühschwangerschaft auftritt. Sie ist durch das Fehlen wichtiger Schädelknochen und Gehirnteile gekennzeichnet. Im Extremfall findet sich bei Babys mit einem Anencephalus anstelle des Gehirns eine funktionslose Gewebsmasse. Die Anenzephalie ist die schwerste angeborene Fehlbildung des Zentralnervensystems (ZNS: Gehirn und Rückenmark).
Häufigkeit
In Mitteleuropa kommt es bei 1 bis 2 von 1.000 Schwangerschaften zu einer Anenzephalie. Gab es bereits in einer Familie ein Kind mit Anenzephalie, besteht ein Wiederholungsrisiko von zwei bis drei Prozent. Nach angeborenen Herzfehlern und Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind Neuralrohrdefekte die häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Dabei treten Anenzephalie und Spina bifida etwa gleich häufig auf.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Anenzephalie ist, wie die Spina bifida (offener Rücken), ein sogenannter Neuralrohrdefekt. Kommt es zu einer Entwicklungsstörung des Nervensystems während der dritten bis vierten Schwangerschaftswoche, kann eine Anenzephalie entstehen. Der genaue Auslöser für die Entwicklungsstörung ist unbekannt. Das Neuralrohr stellt ein Frühstadium des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) und seiner Umgebung dar. Es entsteht durch die Verschmelzung paarig angelegter Nervenwülste. Aus dem unteren Abschnitt des Neuralrohrs entwickeln sich dann das Rückenmark und die Wirbelsäule, aus dem oberen Abschnitt das Gehirn und das Schädeldach.
Ein bekannter Risikofaktor ist der Mangel am B-Vitamin Folsäure. Wer schwanger ist oder eine Schwangerschaft plant, sollte daher zusätzlich ein Folsäure-Präparat einnehmen, um das Risiko einer Anenzephalie für das Kind so gering wie möglich zu halten. Nach Möglichkeit sollte schon beim Kinderwunsch mit der Folsäure-Einnahme begonnen und bis acht Wochen nach der Empfängnis fortgeführt werden.
Lesen Sie auch: Medikamentenfreie Schmerzlinderung bei Nervenschmerzen
Symptome und Diagnose
Eine Anenzephalie ist durch ihre typischen Symptome unverkennbar: Bei einem Kind mit Anencephalus fehlen Schädeldecke und Großhirn weitgehend. Dies verleiht dem Kopf ein typisches Aussehen, das zur Bezeichnung Froschkopf oder Krötenkopf geführt hat. Weitere Symptome sind möglich, wie beispielsweise abstehende Ohren oder eine Gaumenspalte.
Bei der Anenzephalie ist die Diagnose schon möglich, bevor das Kind geboren ist: Wie bei jedem anderen Neuralrohrdefekt kann eine Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft zeigen, ob die beim Anencephalus unverkennbaren Fehlbildungen vorliegen. Vor allem das fehlende Schädeldach ist im vorgeburtlichen Ultraschall deutlich zu erkennen, aber auch die Kopfform und hervortretenden Augen. Neben dem Ultraschall kann bei einer Anenzephalie eventuell auch eine Blutuntersuchung zur Diagnose beitragen: Mit dem sogenannten Triple-Test lassen sich bis zu 80 Prozent der Neuralrohrdefekte aufdecken. Der Triple-Test erfolgt in der 16. Schwangerschaftswoche.
Lebenserwartung und Behandlung
Insgesamt ist die Anenzephalie eine so schwerwiegende Fehlbildung, dass die betroffenen Kinder nicht lebensfähig sind. Sie kommen oftmals schon tot zur Welt oder sterben bei der Geburt beziehungsweise wenige Stunden bis Tage danach. Es steht keine Therapie zur Verfügung.
Wenn dieder ÄrztinArzt beim ungeborenen Kind im Rahmen der vorgeburtlichen Diagnostik (Pränataldiagnostik) eine Anenzephalie feststellt, können sich Eltern daher für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Ethische und soziale Aspekte
Die Diagnose Anenzephalie stellt Eltern vor schwierige Entscheidungen. Viele Ärzte rieten betroffenen Frauen in der Regel zur Abtreibung, auch noch in späten Stadien ihrer Schwangerschaft. Heute stellt sich die Situation anders dar. Und dazu haben auch die beiden Erfurter Professoren einen großen Beitrag geleistet. Zum Beispiel mit Untersuchungen zum Schmerzempfinden der betroffenen Kinder. "Es hieß immer, diese Kinder könnten nichts wahrnehmen, aber wir haben festgestellt, dass das zu einfach gedacht ist", erinnert sich Goll. "Eigentlich mussten wir selbst erst einmal eine ganze Menge lernen. Nicht nur von Neuropädiatern, sondern vor allem auch von den betroffenen Familien.
Lesen Sie auch: "Breakout – Der Mann ohne Nerven": Hintergründe zur Produktion und Entstehung
Einige Eltern entscheiden sich, das Kind auszutragen und ihm die Möglichkeit zu geben, für kurze Zeit zu leben. Diese Entscheidung kann aus religiösen, ethischen oder persönlichen Gründen getroffen werden. Es gibt zahlreiche Familien in aller Welt, die Wege gefunden haben, mit dem Thema umzugehen. Jede auf ihre eigene Weise.
Umgang mit der Diagnose
Betroffene Eltern und Fachleute - Mediziner, Pädagogen, Juristen, Theologen - sollten zusammenkommen. Und das taten sie auch. 2004 im Juni beim ersten Expertengespräch, zu dem Goll und sein Kollege aus der Theologischen Fakultät, Professor Josef Römelt, eingeladen hatten. Seither tasten sie das Thema systematisch ab. Jedes Jahr findet ein solches Expertengespräch statt, informiert, beschreibt die Thematik aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Und setzt dabei gleichzeitig ein Zeichen: Eure Kinder sind nicht vergessen. Sie sind liebenswert, haben ein Recht auf ihr - wenn auch kurzes - Menschsein, haben Würde, sind mit Respekt zu behandeln. Und es gibt zahlreiche Familien in aller Welt, die Wege gefunden haben, mit dem Thema umzugehen. Jede auf ihre eigene Weise.
Die Auseinandersetzung mit der Diagnose Anenzephalie kann für Eltern und Angehörige sehr belastend sein. Es ist wichtig, sich Unterstützung zu suchen, sei es durch Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder religiöse Gemeinschaften.
Organspende bei anenzephalen Kindern
Die Frage, ob Organe von anenzephalen Kindern für Transplantationen gespendet werden dürfen, ist ethisch umstritten. Einige argumentieren, dass dies eine Möglichkeit sei, aus dem tragischen Verlust etwas Gutes zu tun und anderen Kindern das Leben zu retten. Andere sehen darin eine Verletzung der Würde des Kindes und befürchten eine Kommerzialisierung des menschlichen Lebens.
Mitte November distanzierte sich die Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Transplantationszentren in einer einstimmig verabschiedeten Resolution von Bellers Auffassung: Es sei »ethisch unvertretbar«, so erklärten die Transplanteure, »anenzephale Föten nur zum Zweck der Organgewinnung von der Mutter austragen zu lassen«.
Lesen Sie auch: Was tun bei wochenlanger Übelkeit?
Fallbeispiele und Forschung
Trotz der geringen Lebenserwartung gibt es immer wieder Fälle, in denen Kinder mit Anenzephalie länger leben als erwartet. Ein Beispiel ist der Junge Nickolas, der drei Jahre ohne Gehirn überlebte. Solche Fälle zeigen, dass die Medizin noch nicht alle Aspekte dieser Fehlbildung vollständig versteht.
Die Universität Erfurt hat sich des Themas angenommen, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Dafür sorgen, dass das Thema nicht ausschließlich aus medizinischer Perspektive betrachtet wird und dass betroffene Eltern Unterstützung finden bei der Auseinandersetzung mit ihren ganz eigenen Ängsten und Bedürfnissen.
Künstliche Gebärmutter als mögliche Zukunft?
Weltweit wird an künstlichen Systemen geforscht, die Gebärmutter und Plazenta bei drohender Frühgeburt ersetzen könnten - außerhalb des Mutterleibs. Ein europäisches Team arbeitet am Perinatal Life Support-Verfahren (PLS) für Föten zwischen der 24. und 28. Woche, das sie an digitalen Silikonpuppen testen.
Um ein ethisches Urteil über die Zulässigkeit zu fällen, muss man PLS mit der aktuellen intensivmedizinischen Behandlung im Inkubator, nicht aber mit einer natürlichen Schwangerschaft vergleichen. Denn es ist kein Ersatz für den Mutterleib, sondern käme erst dann zum Einsatz, wenn die Schwangerschaft zu früh endet. Für das Gehirn und die noch unterentwickelten Organe des Frühgeborenen bedeutet die Behandlung auf der Intensivstation bislang maximalen Stress. Es ist denkbar, dass PLS diesen Stress deutlich mindert.
tags: #ohne #gehirn #geboren #anenzephalie #überlebensdauer