Österreichische Gesellschaft für Neurologie: Aktuelle Herausforderungen und zukunftsweisende Entwicklungen

Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) lud im Vorfeld ihrer Jahrestagung am 6. März Medienvertreter:innen zu einem Pressegespräch in Wien. Im Fokus standen die aktuellen Herausforderungen und Fortschritte im Bereich der Neurologie.

Herausforderungen annehmen: Wandel in der Neurologie

Univ.-Prof. Dr. Stefan Kiechl, Kongresspräsident, betonte per Video aus Innsbruck, dass die diesjährige Tagung unter dem Motto „Herausforderungen annehmen“ steht und rund 1000 Teilnehmer:innen erwartet werden. Dieses Motto spiegelt den Wandel der Neurologie von einem rein diagnostischen zu einem therapeutischen Fach wider. Neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bringen neue Herausforderungen für Neurologen. Aus den dazugewonnenen Möglichkeiten für Diagnostik und Therapie folgt auch Verantwortung. Daher betonen alle Redner:innen den Stellenwert von Prävention und der Modifikation von Risikofaktoren.

Hirngesundheit als Lebensqualität: Prävention und Risikofaktoren

„Hirngesundheit heißt Lebensqualität. Ein Verlust der Hirngesundheit geht mit einem Verlust der Autonomie einher“, betonte Univ.-Prof. Dr. Jörg Weber. Priv.-Doz. Dr. Julia Ferrari ergänzte, dass es um die Krankheitslast in der Bevölkerung sowie die durch Krankheit und Behinderung verlorenen guten Lebensjahre geht. Weltweit sind neurologische Krankheiten eine Hauptursache für in Behinderung verbrachte Lebensjahre.

Die gute Nachricht: „Wenn man Risikofaktoren minimiert, kann man viele neurologische Erkrankungen verhindern“, erklärte Ferrari. Durch gezielte Lebensstilmodifikation wie gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und das Management anderer Risikofaktoren kann das Risiko für Schlaganfall um bis zu 80%, das für Demenz um 45% und das für die Entwicklung einer metabolischen Neuropathie um bis zu 69% gesenkt werden. Deshalb ist es wichtig, dass in der Gesellschaft das Bewusstsein dafür steigt.

Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Stögmann merkte an, dass Patient:innen oft lieber eine Tablette nehmen möchten, als ihren Lebensstil zu ändern. Daher ist es wichtig, den Patient:innen auch für ihre Lebenssituation passende Empfehlungen geben zu können. Ass. Prof. Dr. Atbin Djamshidian erklärte, dass sich bei eingeschränkter Beweglichkeit oder Zeit sogenannte Exercise Snacks - also zum Beispiel 30 Minuten aufgeteilt auf 30 kleine Einheiten - bewährt haben.

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Neue Therapieansätze bei Morbus Alzheimer

Neben der Lebensstilmodifikation werden große Erwartungen in die neuen Antikörperpräparate gegen Amyloid-β-Plaques gesetzt. Die EU-Kommission hat bereits Lecanemab zugelassen. Donanemab, eine ebenfalls gegen Amyloid-β gerichtete Substanz, erhielt bisher noch keine Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA).

Die Marktzulassung von Antikörperpräparaten bei Morbus Alzheimer wird weitreichende Veränderungen für die Behandlung von Alzheimerpatient:innen mit sich bringen. Die Frühdiagnostik bekommt damit einen neuen Stellenwert. Schließlich lassen sich die pathologischen Veränderungen bereits 15 bis 20 Jahre vor der klinischen Manifestation diagnostizieren; auch wenn die Alzheimererkankung nicht bei all diesen Patient:innen ausbricht. Bisher konnten Betroffene aber wenig mit der Information anfangen. Dies ändert sich nun mit den neuen krankheitsmodifizierenden Therapien, die vor der Tür stehen.

Stufenmodell der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft (ÖAG)

Stögmann nutzte die Gelegenheit, um das Stufenmodell der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft (ÖAG) vorzustellen. „Im Idealfall fängt die Diagnostik beim Hausarzt an, der einen ersten Screeningtest macht. Danach werden beim Facharzt ein MRT und neuropsychologische Diagnostik zur weiteren Abklärung durchgeführt“, erklärte Stögmann. Ziel ist es, durch gute Frühdiagnostik zu verhindern, dass eine leichte kognitive Störung zu einer Demenz wird, und in Zukunft frühzeitig Antikörperpräparate anwenden zu können. Für ein Screening von Gesunden sind die Tests noch zu ungenau und die Therapie ist noch nicht ausreichend.

Schlaganfall: Akutversorgung und chronische Erkrankung

Kiechl referierte zum Thema Schlaganfall: „Den akuten Schlaganfall können wir mittlerweile sehr gut behandeln.“ Nach drei Monaten sind 65-70% der Betroffenen in Österreich wieder funktionell unabhängig. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass es sich bei dem Schlaganfall auch um eine chronische Erkrankung handelt, die mit Fatigue, Demenz und Depression einhergeht. Dem kann mittlerweile gut mit einer gezielten Nachbetreuung, der sogenannten Post-Stroke-Care, entgegengewirkt werden. Wichtig ist, ein Augenmerk für Komborbiditäten und Risikofaktoren zu haben. So können Schlafstörungen und Depressionen das Risiko für das Auftreten eines Schlaganfall erheblich steigern. Priv.-Doz. Dr. Bettina Pfausler erinnerte daran, dass auch erheblich langer Schlaf ein Warnsignal sein kann. Hierbei geht es um dauerhaft 10-15 Stunden langen Schlaf, der auf eine Depression hinweisen kann.

Morbus Parkinson: Steigende Inzidenz und Bedarf an Biomarkern

Weniger von Aufbruchstimmung geprägt sind die Aussichten zu Morbus Parkinson. „Bei der Parkinsonkrankheit sehen wir die am stärksten steigende Inzidenz und es gibt keine Diagnostik, die vergleichbar ist mit jener, die wir bei Alzheimer zur Verfügung haben“, erklärte Djamsidian. Zu Biomarkerdiagnostik wird daher noch geforscht. Denn auch hier gilt: „Früherkennung ist wichtig, um rechtzeitig zu behandeln und Komplikationen vorzubeugen“, so Djamshidian. Zudem kann auch bei der Parkinsonkrankheit viel mit Prävention erreicht werden. Hierzu gehört ebenso, dass Betroffene bei sich einschleichendem Hörverlust mit Hörgeräten versorgt werden.

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Forderungen an Gesellschaft und Politik

Großes Interesse gab es daran, welche Forderungen die Referent:innen an Gesellschaft und Politik haben. Neben dem Wunsch, dass der Stufenplan der ÖAG auch von der Politik übernommen wird, ging es hier auch um das Thema Gesundheitsdaten. Schließlich gibt es derzeit auch noch keine erfassten Daten über die Frühstadien von Demenz, sondern nur epidemiologische Hochrechnungen. Wobei bei diesem Punkt die Diagnostik selbst ein Teil des Problems ist. Es stelle sich schließlich auch die Frage: „Wie viele Vorstadien von Demenz haben wir?“, so Stögmann. Dabei spiele der Wandel von rein klinischen Diagnosekriterien zu vorrangig über biologische Marker definierte Kriterien mit eine Rolle.

Mit der „leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung“ gibt es bereits ein gutes Beispiel für den Umgang mit Gesundheitsdaten, das eine pseudonymisierte Auswertung erlaubt. Bei Schlaganfall können somit auch Trajektorien gezogen werden, wenn ein Patient ein Jahr nach Entlassung wieder im Spital landet. Hier endlich auch eine Lösung für Demenz zu schaffen, sehen die Redner:innen als Aufgabe der neuen Regierung an. Zudem wünschte sich das Podium, dass das Bewusstsein für Gesundheit in der Bevölkerung steigt. „Prävention und krankheitsmodifizierende Therapien schließen sich aber nicht aus“, stellte Stögmann klar.

Podiumsdiskussion zur Hirngesundheit

Die Teilnehmer:innen einer Podiumsdiskussion zum Thema Hirngesundheit waren sich einig, dass es in Österreich nicht ganz einfach ist, Präventionsprogramme umzusetzen, obwohl sie in allen vergangenen Regierungsprogrammen erwähnt waren. Geleitet wurde das Podiumsgespräch auf der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) von Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien.

„Laut WHO leidet jeder Dritte an einer neurologischen Erkrankung“, betonte der aktuelle Präsident der ÖGN, Univ.-Prof. Dr. Christian Enzinger. „Schon daraus ergibt sich die klare Notwendigkeit, mehr für Hirngesundheit zu tun. Das erste Ziel der Initiative zur Hirngesundheit besteht darin, die beteiligten Risikofaktoren zu verstehen und in den Griff zu bekommen. Um hier wirksam einzugreifen, ist die Entwicklung von Public-Health-Strategien erforderlich.“

Dr. Alexandra Ferdin, Neurologin und Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium, betonte, dass man sich noch mehr der mittleren Altersgruppe widmen und hier auf mehr Gesundheitskompetenz hinarbeiten müsse.

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Dr. Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom und Sprecher für Gesundheit des IHS, beklagte zunächst die großen Datenlücken in Österreich. „Wir haben zum Beispiel keine Information darüber, wie viele Menschen in den österreichischen Pflegeheimen an Demenz leiden. Es ist bekannt, dass es derzeit vor allem im Pflegebereich in den Spitälern massive Engpässe gibt. Es gäbe gerade in der Demenzprävention, mit der man sich und den Betroffenen viel ersparen könnte, eine Menge zu tun. Hier liegt ein Potenzial, das wir nicht ausnützen“, kritisierte Czypionka. Ähnliches gilt z.B. für die suffiziente Blutdruckeinstellung als wichtigen Aspekt der Schlaganfallprophylaxe.

Priv.-Doz. Dr. Eva Hilger, Chefärztin der SVS, betonte, dass die Sozialversicherung zwar gesetzlich eigentlich nicht für Prävention zuständig ist, aber freiwillige Leistungen anbieten kann. Infolgedessen könne man in der Prävention sehr wohl viel machen. Es gebe sogar den Slogan bei der Sozialversicherung, dass die Prävention nicht weniger wichtig ist als die Reparaturmedizin. Es gibt große Programme, sogar schon für Kinder, da gibt es Feriencamps, da geht es um Bewegung, aber auch zum Beispiel um die Arbeit mit Teilleistungsstörungen. Auch Impfprogramme und Vorsorgeuntersuchungen sind Teil dieser Bemühungen.

Dr. Eva Höltl, Arbeitsmedizinerin, Leiterin des Gesundheitszentrums der Erste Bank und Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin, stellte klar, dass das beste Incentive für Arbeitgeber zweifellos gesunde Arbeitnehmer sind, die bis zum Pensionsalter voll arbeiten können. Der Arbeitsplatz ist ein extrem interessantes Setting, weil man dort die Chance hat, auch Gruppen zu erreichen, mit denen man sich sonst schwertut. Sie nannte als Beispiel Bau- oder Reinigungsfirmen. Die Erste Bank serviciere 9000 Mitarbeiter, aber auch 300 Reinigungskräfte. Und obwohl in jedem Regierungsprogramm Prävention drinsteht, tue man sich in Österreich, aus den schon genannten Gründen, mit der Umsetzung enorm schwer.

Mag. Ingo Raimon, Präsident der Pharmig, hält einen Schulterschluss von mehreren Fachgesellschaften, die für wesentliche Risikofaktoren zuständig sind, für äußerst sinnvoll und wichtig. Er sieht zwischen Primärprävention einerseits und frühzeitiger Diagnose und Therapie von Erkrankungen eigentlich keinen Widerspruch. Hier kann die pharmazeutische Industrie sicher auch helfen, mit Aufklärung, mit Awareness-Kampagnen, das tun wir ja auch schon jeden Tag. Die größte Herausforderung liegt aber wohl im ,treat to target‘, dem Erreichen von Therapiezielen, die zwischen Arzt und Patient vereinbart werden.

Historische Belastung: Neurologie im Nationalsozialismus

Drei österreichische Neurologen, die Bezüge zur Neurologie im Nationalsozialismus aufweisen, sind von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) bzw. ihren Vorläuferorganisationen mit einer Ehrenmitgliedschaft gewürdigt worden.

  • Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) stand von 1928 bis 1934 dem Österreichischen Bund für Volksaufartung und Erbkunde vor und befürwortete in mindestens zwei Publikationen grundsätzlich eugenische Maßnahmen und rassenhygienische Positionen im Sinne der NS-Ideologie. Als früheres Mitglied der Großdeutschen Volkspartei stellte er wenige Monate vor seinem Tod einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP.
  • Walther Birkmayer (1910-1996) war früh Mitglied von NSDAP, SA, SS und anderen NS-Organisationen. Als überzeugter Anhänger der „Bewegung“ wirkte er ab 1938 im Rassenpolitischen Amt der Gauleitung Wien. In Vorträgen und Veröffentlichungen forderte bzw. empfahl er die Zwangssterilisation für eine Reihe neurologischer Krankheiten. Infolge der Einstufung seiner Großmutter als „nichtarisch“ musste er Parteiämter und Hochschulposition aufgeben und diente als Arzt bei der Wehrmacht. Nach schwierigen Nachkriegsjahren konnte er seine Karriere fortsetzen. Als Mitentdecker der Wirkung des L‑Dopa bei Parkinsonismus wurden ihm zahlreiche Ehrendoktorate und Ehrenmitgliedschaften verliehen.
  • Franz Seitelberger (1916-2007), während der NS-Zeit Mitglied einer SS-Einheit, profitierte bei seinen Forschungen ab den 1950er-Jahren von Präparaten, die im Zuge der neuropathologischen „Begleitforschung“ zur NS-„Euthanasie“ entstanden.

Weitere Themen und Ausblick auf die Jahrestagung 2025

Auf der DGHO-Jahrestagung wurde die komplexe medikamentöse Versorgung älterer Krebskranker diskutiert, insbesondere im Hinblick auf Polypharmazie und Delirrisiko.

Die Migräne-Inzidenz steigt auch bei Kindern und Jugendlichen, wobei es nur wenige medikamentöse Optionen, insbesondere für die Prophylaxe, gibt. Multimodale Ansätze sind gefragt.

Die 22. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) findet vom 12. bis 14. März 2025 in Innsbruck statt. Unter dem Motto „Herausforderungen annehmen“ stehen Themen wie Schlaganfall, Autoimmunerkrankungen, Demenzen, Bewegungsstörungen und Epilepsie im Mittelpunkt. Besonders junge Wissenschaftler:innen haben die Gelegenheit, ihre Forschungsergebnisse in „freien Vorträgen“ und Posterpräsentationen vorzustellen.

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