Die Polyneuropathie (PNP), oft auch als periphere Polyneuropathie oder periphere Neuropathie bezeichnet, ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems (PNS). Das PNS umfasst jenen Teil des Nervensystems, der außerhalb des Schädels und des Wirbelkanals liegt, also nicht zum zentralen Nervensystem (ZNS) gehört. Funktionell sind die Nerven des PNS jedoch mit dem ZNS verbunden. Sie leiten Impulse aus Gehirn und Rückenmark an Organe und Gewebe weiter und sorgen so für physiologische Reaktionen.
Das periphere Nervensystem
Das periphere Nervensystem besteht aus zwei unterschiedlichen Anteilen:
- Somatisches (willkürliches) Nervensystem: Zuständig für willkürliche Bewegungen und Reflexe. Bei den meisten Polyneuropathien sind Nerven dieses Systems betroffen.
- Autonomes Nervensystem: Steuert unwillkürliche Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung und Schweißproduktion.
Eine Polyneuropathie kann verschiedene Teile der Nervenzellen schädigen, was sich auf die Reizweiterleitung auswirkt.
Ursachen und Risikofaktoren
Die erworbene Polyneuropathie ist die häufigste Form und entwickelt sich als Folge einer anderen Erkrankung oder durch äußere Einflüsse. Insgesamt sind mehr als 200 Auslöser für Erkrankungen aus dem neuropathischen Formenkreis bekannt.
Häufige Ursachen sind:
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- Diabetes mellitus: Diabetiker sind besonders gefährdet, da es zu Schädigungen der kleinsten Gefäße kommt, die die peripheren Nerven versorgen. Diese diabetische Polyneuropathie beginnt oft in den Zehen und Füßen und ist durch ein herabgesetztes Schmerz- und Temperaturgefühl gekennzeichnet.
- Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholkonsum kann durch neurotoxische Wirkungen zu funktionellen Beeinträchtigungen der peripheren Nerven führen (alkoholische Polyneuropathie).
- Critical-Illness-Polyneuropathie: Diese Sonderform entsteht durch eine Schädigung der peripheren Nerven durch das eigene Immunsystem, oft im Rahmen langwieriger intensivmedizinischer Behandlungen.
- Autoimmunerkrankungen: Schädigung durch das eigene Immunsystem.
- Weitere Erkrankungen: Nierenerkrankungen, Lebererkrankungen, Lungenerkrankungen, hämatologische und rheumatologische Erkrankungen, Tumorerkrankungen, Entzündungen (Borreliose, Lepra).
- Medikamente: Bestimmte Medikamente wie Chemotherapeutika, Antibiotika und Immun-Checkpoint-Inhibitoren können ebenfalls eine Polyneuropathie verursachen.
- Organtransplantationen
- Exotoxische Polyneuropathie: Eine Vielzahl von Medikamenten und weiteren Substanzen kann eine „exotoxische“ Polyneuropathie verursachen.
Angeborene Polyneuropathien sind relativ selten und basieren auf vererbbaren Krankheiten wie Enzymdefekten, veränderten Proteinen oder einer eingeschränkten Nervenleitgeschwindigkeit.
Symptome
Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen von den betroffenen Nerven ab. Typische Anzeichen sind:
- Sensible Reizerscheinungen: Kribbeln, Ameisenlaufen, Stechen, Elektrisieren in Fingern, Händen, Zehen und Füßen.
- Sensible Ausfallerscheinungen: Pelzigkeitsgefühl, Taubheitsgefühl, Gefühl des Eingeschnürtseins, Schwellungsgefühle, Gefühl, wie auf Watte zu gehen.
- Schmerzen und Krämpfe: Oft begleitet von Schmerzen oder Krämpfen. Die Schmerzen treten insbesondere in Ruhe auf und können sich abends verstärken.
- Gangunsicherheit: Insbesondere im Dunkeln.
- Fehlendes Temperaturempfinden: Mit schmerzlosen Wunden.
- Muskelschwäche und Lähmungen: In schweren Fällen können weitgehende Bewegungsunfähigkeit und Schluckstörungen resultieren.
- Erhöhte Schmerzempfindlichkeit: Z. B. auf Berührung, Wärme oder Kälte.
- Abgeschwächtes Berührungs- und Schmerzempfinden: Je nach Schädigung der Nerven.
- Autonome Störungen: Schädigung der autonomen Nervenfasern des Herzens.
Im Verlauf der Erkrankung kann es ohne Behandlung zur Verschlimmerung der Symptomatik kommen, vor allem des Schmerzempfindens.
Diagnose
Die Diagnostik der Polyneuropathie erfordert Erfahrung. Zunächst wird der Arzt eine ausführliche Anamnese erheben und Sie zu Ihrer medizinischen Vorgeschichte, der Intensität und Dauer der Beschwerden befragen, um Hinweise auf mögliche Ursachen zu finden.
Folgende Untersuchungen können durchgeführt werden:
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- Klinisch-neurologische Untersuchung: Prüfung von Muskelkraft, Sensibilität und Muskeleigenreflexen.
- Elektrophysiologische Untersuchung:
- Elektroneurographie (ENG): Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, um die Art der Nervenschädigung festzustellen.
- Elektromyographie (EMG): Untersuchung der Muskeln mit Nadeln, um das Ausmaß der Schädigung festzustellen.
- Laboruntersuchungen:
- Blutuntersuchungen, um Grunderkrankungen wie Diabetes, Nierenerkrankungen oder Entzündungen zu erkennen.
- Genetische Untersuchung bei Verdacht auf eine erbliche Neuropathie.
- Nervenbiopsie: Entnahme einer Gewebeprobe des Nervengewebes zur mikroskopischen Untersuchung in bestimmten Fällen.
- Hautbiopsie: Entnahme eines kleinen Hautstücks zur Untersuchung.
- Quantitative sensorische Untersuchung: Prüfung, wie ein Nerv auf bestimmte Reize wie Druck oder Temperatur reagiert.
- Elektrokardiografie (EKG): Um festzustellen, ob die autonomen Nervenfasern des Herzens geschädigt sind.
- Ultraschall-Untersuchung der Harnblase: Um festzustellen, ob sich nach dem Wasserlassen noch Restharn in der Blase befindet.
- Orale Glukosetoleranztest (oGTT): Zeigt an, wie gut der Körper Zucker verarbeiten kann.
- Vitamin-B12-Status: Wird gemessen, um zu prüfen, ob eventuell ein Mangel besteht.
- Leber- oder Nierenwerte: Liegen die Leber- oder Nierenwerte außerhalb der Norm, wird die Polyneuropathie möglicherweise durch eine Leber- oder Nierenerkrankung verursacht.
Es ist wichtig, dass der Neurologe auch untersucht, ob eine schwere Nierenerkrankung vorliegt, die ebenfalls als Verursacher einer Polyneuropathie in Frage kommt.
Behandlung
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der festgestellten Ursache und dem Beschwerdebild.
- Behandlung der Grunderkrankung: Entscheidend ist die Behandlung der Grunderkrankung, z. B. eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung bei Diabetes mellitus, das strikte Vermeiden von Alkohol oder die Behandlung einer Tumorerkrankung.
- Medikamentöse Therapie:
- Gegen die Schmerzsymptomatik werden Pregabalin oder Gabapentin sowie alternativ Duloxetin oder Amitriptylin eingesetzt. Diese Medikamente modifizieren die Schmerzwahrnehmung auf unterschiedlichen Wegen.
- Bei autoimmunvermittelten, entzündlichen Polyneuropathien gibt es verschiedene gegen die Entzündung wirkende Medikamente (Immunglobuline, Kortikoide, Immunsuppressiva). Bei schweren Verläufen kann auch eine Blutwäsche durchgeführt werden.
- Reizerscheinungen und Muskelkrämpfe lassen sich mit verschiedenen Medikamenten dämpfen.
- Weitere Maßnahmen:
- Regelmäßige Bewegung oder Physiotherapie.
- Ausgewogene Ernährung und gegebenenfalls die Substitution von Vitaminen.
- Regelmäßige Kontrolle der Füße auf Druckstellen, Tragen von bequemem Schuhwerk, Meidung von Druck, Nutzung professioneller Fußpflege.
- Bei einer durch Alkohol verursachten Polyneuropathie sollte auf Alkohol verzichtet werden, um eine Verschlimmerung zu verhindern.
Verlauf und Prognose
Die Frage, ob eine Heilung der Polyneuropathie möglich ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Sie hängt unter anderem vom Zeitpunkt der Diagnose, der zugrundeliegenden Erkrankung und dem Ausmaß der bereits bestehenden Nervenschädigung ab. Zum Beispiel sind die weniger häufig vorkommenden entzündlichen Neuropathien mit Medikamenten meist sehr gut zu behandeln, akute Formen heilen oft komplett aus. Bei ca. einem Viertel der Polyneuropathien kann die Ursache nicht geklärt werden, meist haben diese Formen jedoch eine gute Prognose.
Polyneuropathien beeinflussen für gewöhnlich die Lebenserwartung nicht direkt, jedoch kann die Lebensqualität durch Symptome wie Schmerzen, verminderte Mobilität und die damit verbundene erhöhte Sturzgefahr eingeschränkt sein.
Rehabilitation
Wenn bisherige Behandlungen nicht zur gewünschten Beschwerdefreiheit geführt haben, ist ein Reha-Aufenthalt eine sinnvolle therapeutische Ergänzung. Physiotherapeutische und physikalische Maßnahmen sind als langfristige Behandlungen am effektivsten.
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Leben mit Polyneuropathie
Um die Symptome einer Polyneuropathie zu lindern, ist regelmäßige Bewegung sehr wichtig. Es sollten Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten gemieden werden, Vorsichtsmaßnahmen beim Laufen auf unebenem Untergrund (Baustellen) oder im Dunkeln müssen beachtet werden. Feinmotorische Tätigkeiten (z. B. Uhrmacher) sind oft nicht mehr möglich. Dennoch sollten Patienten mit einer Polyneuropathie so lange wie möglich am Berufsleben teilhaben. Zur Verbesserung der Alltagsaktivitäten wird in Abhängigkeit vom Schweregrad die Versorgung mit Hilfsmitteln empfohlen.
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