Statine sind weit verbreitete Medikamente zur Senkung des Cholesterinspiegels und zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Obwohl sie im Allgemeinen gut vertragen werden, können sie auch Nebenwirkungen verursachen. Eine mögliche, aber selten auftretende Nebenwirkung ist die periphere Polyneuropathie. Dieser Artikel beleuchtet die möglichen Ursachen, Risiken und aktuellen Erkenntnisse im Zusammenhang mit Statin-induzierter Polyneuropathie.
Was ist Polyneuropathie?
Die Polyneuropathie ist eine Erkrankung, bei der mehrere periphere Nerven gleichzeitig geschädigt sind. Dies kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, darunter Schmerzen, Taubheitsgefühl, Kribbeln, Muskelschwäche und Koordinationsstörungen, insbesondere in den Extremitäten. Die Ursachen für Polyneuropathie sind vielfältig und reichen von Diabetes mellitus über Alkoholkonsum bis hin zu bestimmten Medikamenten.
Statine: Nutzen und Risiken
Statine, auch HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren genannt, sind Medikamente, die die Cholesterinproduktion in der Leber hemmen. Sie werden häufig zur Behandlung von Hypercholesterinämie (hohem Cholesterinspiegel) eingesetzt, um das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Statine wirken entzündungshemmend, stabilisieren gefährliche Ablagerungen (Plaques) in Gefäßwänden und senken den Cholesterinspiegel im Blut. Diese positiven Effekte entstehen dadurch, dass Statine ein Enzym (HMG-CoA-Reduktase) dabei hemmen Cholesterin aufzubauen. So entsteht weniger Cholesterin in den Zellen. Die Wirkung von Statinen wird nach etwa sechs Wochen bei einer Blutwertkontrolle sichtbar. Hochdosierte Statine können die Menge an LDL-Cholesterin im Blut halbieren.
In Deutschland werden Statine laut Arzneiverordnungsreport 2023 für bis zu neun Millionen Menschen verschrieben. Es gibt derzeit auf dem deutschen Markt sieben verschiedene Statine (Stand: Januar 2025). Vor der Statineinnahme sollten Nutzen und Risiko durch Nebenwirkungen sorgfältig abgewogen werden.
Trotz ihrer Wirksamkeit können Statine Nebenwirkungen verursachen, darunter Muskelbeschwerden, ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes und in seltenen Fällen eine Rhabdomyolyse (Zerfall von Muskelzellen). Auch periphere Neuropathien werden als mögliche Nebenwirkung diskutiert.
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Der Zusammenhang zwischen Statinen und Polyneuropathie
Epidemiologische Studien
Vereinzelte Fallberichte und epidemiologische Studien hatten Statine in den Verdacht gebracht, eine periphere Neuropathie auszulösen, die zu Muskelschwäche, Sensibilitätsstörungen und Schmerzen führen kann. Eine dänische Fall-Kontroll-Studie aus dem Jahr 2002 deutete auf ein erhöhtes relatives Risiko für periphere Neuropathie unter Statin-Therapie hin. In dieser Studie war das relative Risiko in der Gesamtgruppe um den Faktor 3,7 erhöht. Bei Patienten mit einer gesicherten Diagnose war es sogar um den Faktor 14,2 höher, und bei Patienten, die länger als zwei Jahre Statine eingenommen hatten, um den Faktor 26,4 höher.
Eine neuere dänische Studie, die auf dem Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Amsterdam vorgestellt wurde, kam jedoch zu dem Schluss, dass mit Statinen behandelte Patienten kein erhöhtes Risiko haben, an einer Polyneuropathie zu erkranken. Diese Studie umfasste den Zeitraum von 1999 bis 2013 und schloss Patienten mit Diabetes, hohem Alkoholkonsum und anderen anerkannten Risikofaktoren für Polyneuropathie aus.
Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 mit 3104 Patienten aus den Jahren 1999 bis 2013 ergab ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Statinen in der Anamnese und einem erhöhten Risiko für eine Polyneuropathie.
Fallberichte und Spontanmeldesysteme
Trotz der widersprüchlichen Ergebnisse aus epidemiologischen Studien gibt es Fallberichte über Statin-induzierte Polyneuropathie. Im deutschen Spontanmeldesystem (gemeinsame Datenbank von BfArM und AkdÄ, Stand: Mai 2006) gab es 6.834 Verdachtsfälle unerwünschter Arzneimittelwirkungen nach Gabe von Statinen. Hierunter fanden sich elf Meldungen (0,2 Prozent der Berichte) über "unwillkürliche Muskelkontraktionen", bei vier von ihnen wird auch über eine Neuropathie und/oder Parästhesien berichtet.
Verschiedene im Handel befindliche Statine werden in etwa gleich häufig als Auslöser genannt. Parästhesien werden in 75, Neuropathien in 62 Berichten gemeldet (1,1 Prozent bzw. 0,9 Prozent der Berichte).
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Mögliche Mechanismen
Die pathophysiologischen Mechanismen, die einer möglichen Statin-induzierten Polyneuropathie zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig geklärt. Es werden jedoch verschiedene Hypothesen diskutiert:
- Cholesterolmangel: Statine hemmen die Cholesterinproduktion, was zu Störungen der Membranfunktion der Nervenzellen führen könnte.
- Beeinträchtigung der Ubiquinon-(Coenzym Q10-)Synthese: Statine können die Synthese von Coenzym Q10 beeinträchtigen, das eine wichtige Rolle in der Energieversorgung der Zellen spielt. Ein Mangel an Coenzym Q10 könnte die Nervenzellen schädigen.
- Synthesehemmung der Farnesylpyrophosphatase: Ein Klasseneffekt von Statinen könnte über eine Synthesehemmung der Farnesylpyrophosphatase im Cholesterolstoffwechsel mit sekundärer Apoptosezunahme zu einer Polyneuropathie führen.
- Genregulation in Muskelzellen: Studien haben gezeigt, dass Statine die Genregulation in Muskelzellen beeinflussen und die Produktion von Myosinen stören können. Dies könnte zu Muskelschwäche und anderen neurologischen Symptomen führen.
Symptome
Eine statininduzierte Polyneuropathie kann sich durch verschiedene Symptome äußern:
- Akrodistale Parästhesien (Taubheitsgefühl, Kribbeln) in den Extremitäten
- Brennende Schmerzen (Brenndysästhesien)
- Muskelschwäche
- Unwillkürliche Muskelkontraktionen (Faszikulationen)
Die Latenz vom Beginn der Einnahme des Statins bis zum Auftreten von Symptomen variiert beträchtlich von Tagen bis zu mehreren Jahren. Nach dem Absetzen der Arzneimittel sind die Symptome meist innerhalb von Tagen bis Wochen reversibel. Es sind jedoch auch irreversible Verläufe beschrieben worden. Wiederansetzen eines Statins führt regelmäßig zum Wiederauftreten der Symptome.
Differenzialdiagnose
Es ist wichtig zu beachten, dass die Symptome einer Polyneuropathie vielfältig sein können und auch andere Ursachen haben können. Bei Diabetikern wird eine Polyneuropathie oft automatisch dem Diabetes zugeschrieben, wodurch das auslösende Statin möglicherweise nicht abgesetzt wird. Daher ist eine sorgfältige Anamnese und neurologische Untersuchung erforderlich, um die Ursache der Polyneuropathie zu ermitteln.
Management und Prävention
Wenn der Verdacht auf eine Statin-induzierte Polyneuropathie besteht, sollte das Statin abgesetzt werden, um zu prüfen, ob sich die Symptome bessern. In den meisten Fällen sind die Symptome nach dem Absetzen reversibel.
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In einigen Fällen kann die Gabe von Omega-3- oder Omega-6-Fettsäuren die negativen Effekte der Statine auf die Muskelzellen teilweise rückgängig machen. Auch das Nahrungsergänzungsmittel Coenzym Q10 konnte in kleineren Studien gegen Muskelschmerzen helfen, ohne dass ein Wechsel des Statins in der Therapie nötig wurde. Hintergrund: Statine stören die Energieversorgung in Muskelzellen, reduzieren so auch Q10 und bewirken Muskelbeschwerden. Eine große wissenschaftliche Studie über die Wirksamkeit von Q10 gibt es aber bisher nicht.
Es ist wichtig, dass Ärzte ihre Patienten über die möglichen Nebenwirkungen von Statinen aufklären und auf neurologische Symptome achten. Bei Auftreten von Symptomen einer Polyneuropathie sollte eine präzisierende neurologische Untersuchung erfolgen.
Weitere Medikamente mit potenziellen neurologischen Nebenwirkungen
Neben Statinen gibt es auch andere Medikamente, die mit peripheren Neuropathien in Verbindung gebracht werden. Ein Beispiel ist das Klasse-III-Antiarrhythmikum Amiodaron, das zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird. Studien aus den 1980er-Jahren beschrieben eine hohe Inzidenz neurologischer Nebenwirkungen, darunter reversible periphere Neuropathien, bei hohen Erhaltungsdosen von Amiodaron. Neuere Untersuchungen haben diese Ergebnisse jedoch relativiert.
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