Die Polyneuropathie ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die durch Schädigung mehrerer peripherer Nerven gekennzeichnet ist. Diese Nerven, die außerhalb von Gehirn und Rückenmark verlaufen, sind für die Wahrnehmung von Berührungen, Temperatur oder Schmerzempfindungen sowie für die Steuerung der Muskelbewegungen verantwortlich. Bei einer Polyneuropathie ist die Signalübertragung zwischen Gehirn, Rückenmark und den übrigen Körperregionen beeinträchtigt.
Circa fünf Prozent aller Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Polyneuropathie. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko zu erkranken kontinuierlich an; bei Menschen über 80 Jahren auf bis zu 35 Prozent.
Symptome der Polyneuropathie
Je nachdem, welche Nerven betroffen sind, manifestieren sich unterschiedliche Beschwerden:
Schäden an den sensiblen Nerven
Sensible Nerven übermitteln Informationen von der Haut zum Gehirn. Schäden an diesen Nerven können stechende oder brennende Schmerzen verursachen. Betroffene beschreiben oft ein Gefühl, als ob Ameisen über ihre Haut krabbeln. In manchen Fällen entwickelt sich eine Überempfindlichkeit, bei der selbst leichte Berührungen (Allodynie) schmerzhaft sein können.
Schäden an den kleinen Nervenfasern
Diese Nerven vermitteln Schmerz-, Temperatur- und Berührungsempfindungen. Bei Nervenschäden nehmen Betroffene Hitze, Kälte und Schmerzen nur noch abgeschwächt oder gar nicht mehr wahr. Zusätzlich treten oft Taubheitsgefühle auf, besonders in Händen und Füßen. Die Haut fühlt sich pelzig und fremd an. Dies erhöht die Verletzungsgefahr erheblich, da beispielsweise die Wassertemperatur beim Duschen oder Baden nicht mehr als zu heiß empfunden wird. Auch kleine Verletzungen wie Schnittwunden, Brandblasen oder Druckstellen bleiben oftmals unbemerkt und werden erst spät entdeckt, was das Risiko für Entzündungen oder chronische Wunden erhöht.
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Schäden an motorischen Nerven
Motorische Nerven steuern die Muskeln. Sind sie betroffen, können die Impulse, welche die Muskeln zum Bewegen anregen, nicht mehr richtig weitergeleitet werden. Die Folge sind Muskelschwäche oder Lähmungen, insbesondere in den Beinen und Füßen. Bei einigen Menschen sind auch die Arme und Hände betroffen. Langfristig kann die fehlende Nutzung der Muskeln zu einem Abbau der Muskelmasse führen, was die Bewegungsfähigkeit weiter einschränkt.
Schäden an den autonomen Nerven
Autonome Nerven steuern das vegetative Nervensystem. Sind sie geschädigt, können sie Kreislaufprobleme wie Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen verursachen. Zudem kann die Verdauung beeinträchtigt sein, was zu Symptomen wie Verstopfung, Durchfall oder Inkontinenz führen kann. Auch Probleme mit der Blase, etwa eine Blasenschwäche oder Schwierigkeiten beim Wasserlassen, sind durch die Nervenschäden möglich.
Ursachen der Polyneuropathie
Typischerweise beginnt die Polyneuropathie schleichend. Zu den häufigsten Auslösern zählen:
- Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit): Ein dauerhaft hoher Blutzuckerspiegel schädigt die Nerven.
- Langjähriger Alkoholmissbrauch: Alkohol greift das empfindliche periphere Nervensystem an und schädigt die Schutzschicht (Myelinschicht) der Nervenfasern oder die Nervenfasern selbst.
Weitere Auslöser der Polyneuropathie sind unter anderem:
- Infektionskrankheiten, wie etwa Borrelien oder Herpes zoster-Viren
- Autoimmunreaktionen, wie das Guillain-Barré-Syndrom und rheumatoide Arthritis
- Vitaminmangel, z. B. Vitamin B12
- Schilddrüsen-, Leber- oder Krebserkrankungen
- Genetische Faktoren
- Einnahme bestimmter Medikamente wie zum Beispiel die Antibiotika Nitrofurantoin oder Metronidazol
- Kontakt mit giftigen Substanzen, etwa Schwermetalle
- HIV-Infektionen
- Erkrankungen, die auf Infektionen beruhen: Borreliose oder Syphilis
- Krebserkrankungen, beispielsweise Brustkrebs oder Blutkrebs
- Hormonelles Ungleichgewicht, zum Beispiel ausgelöst durch eine Schilddrüsenunterfunktion
- Erbliche Veranlagung (hereditäre Neuropathien)
In etwa 20 Prozent der Fälle bleibt die Ursache trotz umfassender Abklärung ungeklärt.
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Diagnose der Polyneuropathie
Entscheidend ist die umfangreiche, gründliche Suche nach möglichen Ursachen - nur so lassen sich Polyneuropathien gezielt behandeln. Zu den Untersuchungen zählen:
- Umfangreiche Labordiagnostik: Blutuntersuchungen, eventuelle Untersuchung des Nervenwassers mittels Lumbalpunktion. Erhöhte Entzündungswerte (wie CRP, weiße Blutkörperchen etc.) können auf eine entzündliche Ursache der Nervenschäden hindeuten. Ein oraler Glukosetoleranztest (oGTT) zeigt an, wie gut der Körper Zucker verarbeiten kann. Auffällige Testergebnisse können auf einen noch unentdeckten Diabetes (oder eine Vorstufe davon) hinweisen. Auch der Nüchternblutzucker ist hierbei sehr aussagekräftig. Bei bekannter Zuckerkrankheit ist vor allem der HbA1c-Wert ("Langzeitblutzucker") wichtig: Er zeigt an, wie gut der Diabetes in den letzten Monaten eingestellt war. Der Vitamin-B12-Status wird gemessen, um zu prüfen, ob eventuell ein Mangel besteht. Liegen die Leber- oder Nierenwerte außerhalb der Norm, wird die Polyneuropathie möglicherweise durch eine Leber- oder Nierenerkrankung verursacht. Dabei können Leberschäden auch durch Alkoholmissbrauch verursacht sein. Besteht der Verdacht, dass eine bestimmte Infektionskrankheit die Polyneuropathie verursacht, sind spezielle Blutuntersuchungen sinnvoll. Beispielsweise lässt sich eine vermutete Borreliose abklären, indem man im Blut des Patienten nach Antikörpern gegen die auslösenden Bakterien (Borrelien) fahndet. Eine genetische Untersuchung ist angezeigt, wenn es in einer Familie mehrere Fälle von Polyneuropathie gibt. Dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine erblich bedingte Nervenschädigung handelt. Das Gleiche gilt, wenn der Patient bestimmte Fehlstellungen des Fußes (Krallenzehen, Hohlfuß) oder andere Fehlbildungen des Skeletts (wie Skoliose) aufweist. Sie sind typisch für eine erblich bedingte Polyneuropathie. Der Arzt kann dann das Erbgut des Patienten auf entsprechende Veränderungen (Mutationen) untersuchen lassen.
- Messung der elektrischen Nervenleitung: Elektroneurographie (ENG) oder Elektromyographie (EMG). Bei der Elektroneurografie (ENG) wird die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen. Der Arzt setzt dafür einen kleinen elektronischen Impuls an mindestens zwei verschiedenen Stellen eines Nervs. Dann misst er die Zeit bis zur Reaktion (Kontraktion) des dazugehörigen Muskels. Bei der Polyneuropathie ist diese Nervenleitgeschwindigkeit meist herabgesetzt. Bei der Elektromyografie (EMG) wird die elektrische Muskelaktivität geprüft. Bei motorischen Störungen wie Muskelschwäche oder Muskellähmung lässt sich so herausfinden, ob das Problem beim Muskel selbst oder aber bei den ihn versorgenden Nerven liegt. Ergibt die EMG, dass die Nervenfunktion gestört ist, spricht das für eine Polyneuropathie.
- Körperliche Untersuchung: Reizempfinden, Geh- und Stehvermögen, Muskelstärke und Reflexe werden geprüft. Auch auf mögliche Fehlbildungen des Skeletts (Deformitäten) achtet der Arzt. Beispielsweise können Krallenzehen und Hohlfuß ein Hinweis sein, dass die Polyneuropathie erblich bedingt ist.
- Quantitative sensorische Untersuchung: Hier prüft der Arzt, wie ein Nerv auf bestimmte Reize wie Druck oder Temperatur reagiert. So lässt sich feststellen, ob die Empfindlichkeit des Nervs beeinträchtigt ist - wie bei einer Polyneuropathie. Auf diese Weise lässt sich eine Nervenschädigung also gut nachweisen. Die Untersuchung ist allerdings sehr zeitaufwändig. Zudem muss sich der Patient dabei gut konzentrieren und mitarbeiten. Deshalb wird die Methode nicht routinemäßig zur Abklärung einer Polyneuropathie angewendet.
- Elektrokardiografie (EKG): Diese kann Auskunft darüber geben, ob die autonomen Nervenfasern des Herzens geschädigt sind.
- Ultraschall-Untersuchung der Harnblase: Hier kann der Arzt feststellen, ob sich nach dem Wasserlassen noch Restharn in der Blase befindet. Wenn ja, ist wahrscheinlich die Blasenentleerung gestört. Das passiert bei einer autonomen Polyneuropathie sehr oft.
- Nervenbiopsie: Hier wird über einen kleinen Hautschnitt eine winzige Probe des Nervengewebes entnommen. Die Gewebeprobe wird anschließend unter dem Mikroskop begutachtet. Diese Untersuchung wird aber nur in ganz bestimmten Fällen durchgeführt. Sie kann zum Beispiel bei Diabetikern notwendig sein, bei denen nur Nerven auf einer Körperseite geschädigt sind (asymmetrische diabetische Polyneuropathie). Auch wenn der Arzt Lepra als Ursache der Nervenschädigung vermutet, kann er eine Nervenbiopsie durchführen.
- Hautbiopsie: Auch diese wird nur in ausgewählten Fällen durchgeführt. Dabei wird ein winziges Stück Haut ausgestanzt (etwa am Unterschenkel) und genau untersucht.
Therapiemöglichkeiten bei Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der Ursache.
- Diabetische Polyneuropathie: Eine stabile Blutzuckereinstellung ist der entscheidende Faktor. Gelingen kann dies durch eine angepasste Ernährung, ausreichend Bewegung und gegebenenfalls eine medikamentöse Therapie.
- Alkoholbedingte Polyneuropathie: Hier hilft nur konsequenter Verzicht auf Alkohol.
- Entzündungsbedingte Nervenschädigung: Je nach Erreger kann eine Antibiotika-Therapie oder eine antivirale Medikation helfen.
- Autoimmunentzündung: Entzündungshemmende Medikamente wie Kortison oder Immunglobuline kommen zum Einsatz.
- Vitaminmangel: Gezielte Ernährungsumstellung oder die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln. Wichtig ist das Vermeiden einer Überdosierung, etwa von Vitamin B6.
Schmerzen oder Gangstörungen bei Polyneuropathie können medikamentös oder durch eine physikalische Therapie gebessert werden. Dazu zählen etwa Physiotherapie, Gleichgewichts- und Gehtraining sowie gelenkschonende Sportarten wie Aqua-Fitness. Diese können helfen, Beweglichkeit, Kraft und Gleichgewicht zu verbessern. Spezielle Schienen oder orthopädische Einlagen können zusätzliche Stabilität geben.
Zur Schmerzbekämpfung haben sich Antidepressiva und Medikamente gegen Krampfanfälle (Epilepsie), sogenannte Antikonvulsiva, bewährt. Capsaicin ist für die Schärfe der Chilischoten verantwortlich und hat sich in Form von Capsaicin-Pflastern auf der Haut in Studien als erfolgversprechendes Mittel gegen Polyneuropathie erwiesen. Es betäubt nicht nur den schmerzenden Bereich und steigert die Durchblutung, sondern scheint sogar die Neubildung kleiner Nervenfasern anzuregen. Bei der Elektrotherapie werden die Nerven durch Impulse aus einem speziellen Gerät so stimuliert, dass Erkrankte statt Schmerzen ein leichtes Kribbeln spüren. Von außen lässt sich dieses durch ein TENS-Gerät erreichen. Die Therapien müssen dauerhaft durchgeführt werden. Eine Pause beeinträchtigt schnell den Behandlungserfolg. Gegen die fortschreitende Gangunsicherheit wirkt Gleichgewichtstraining in der Physiotherapie. Wie die gezielten Reize der Akupunktur die Nerven beleben, ist noch ungeklärt.
Alltag mit Polyneuropathie
Der Alltag mit einem eingeschränkten Temperatur- und Schmerzempfinden kann herausfordernd sein und erfordert besondere Vorsicht und Vorsorge, um Verletzungen zu vermeiden und frühzeitig zu erkennen sowie um Stürze zu vermeiden.
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- Verletzungen frühzeitig erkennen: Kontrollieren Sie täglich sorgfältig Ihre Hände und Füße und achten Sie auf Rötungen, kleine Schnitte oder Druckstellen. Nutzen Sie für schwer einsehbare Stellen einen Handspiegel.
- Hautpflege: Regelmäßiges Eincremen beugt trockener, rissiger Haut vor, die anfällig für Erreger ist. Stellen Sie Wunden oder Entzündungen fest, sollten Sie frühzeitig ärztlichen Rat einholen. Auch medizinische Fußpflege kann eine sinnvolle Ergänzung sein.
- Schutz vor Verbrennungen oder Erfrierungen: Nutzen Sie ein Thermometer, um die Wassertemperatur zu überprüfen. Verzichten Sie zudem auf Wärmflaschen oder Heizdecken. Im Winter können warme Handschuhe und gut isolierte Schuhe vor Kälte schützen.
- Sicherheit zuhause und draußen: In den eigenen vier Wänden sind unter anderem rutschfeste Böden, ausreichende Beleuchtung und das Entfernen von Stolperfallen wie losen Teppichen wichtig, um Stürzen vorzubeugen. Im Freien sollten Sie auf festes Schuhwerk, Gehhilfen, gut beleuchtete Wege und die Vermeidung glatter oder unebener Flächen achten.
Polyneuropathie und Sexualität
Die Nervenschädigung kann bei Männern und Frauen zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Durch die Polyneuropathie sind die Nerven geschädigt, die für die Empfindungen und Steuerung von Körperfunktionen zuständig sind - darunter auch die Nerven, die an der sexuellen Reaktion beteiligt sind. Männer haben häufig Schwierigkeiten, eine Erektion zu bekommen oder aufrechtzuerhalten. Frauen hingegen verspüren oft eine geringere Empfindlichkeit im Intimbereich, wodurch Erregung und Orgasmus erschwert sind. Zudem kann auch eine vaginale Trockenheit auftreten, was den Geschlechtsverkehr unangenehm macht. Auch Schmerzen oder Unsicherheiten können die Lust mindern und den Sexualtrieb negativ beeinflussen.
Sprechen Sie offen mit Ihrem behandelnden Arzt, am besten einem Neurologen oder Sexualmediziner.
Unterstützung für Betroffene
Für Erkrankte kann der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich sein, zum Beispiel über Selbsthilfegruppen wie die Deutsche Polyneuropathie Selbsthilfe e. V.
Polyneuropathie durch Schilddrüsenunterfunktion
Ein großer Anteil von Patienten mit einer Schilddrüsenunterfunktion zeigt die typischen Symptome einer Polyneuropathie. Grund sind die Auswirkungen eines zu geringen Hormonspiegels von T3 und T4. Dieser wirkt auf den Körper wie ein Ernährungsmangel. Ferner führt die Schilddrüsenunterfunktion zu einer Schädigung der Nervenfasern und ihrer Hüllen. Vor allem Letztere sind für die regelrechte Reizweiterleitung entscheidend.
Die am weitesten verbreitete, sensomotorische Erkrankung, als Folge einer Hypothyreose, ist das Karpaltunnelsyndrom. Durch die fehlenden Schilddrüsenhormone sammeln sich bestimmte Zuckermoleküle an und sorgen für die bei vielen bekannten Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im Handgelenk.
Für Betroffene und Ärzte gleichermaßen wichtig ist, sowohl die Anzeichen einer Polyneuropathie möglichst frühzeitig zu erkennen als auch eine Schilddrüsenunterfunktion als mögliche Ursache abzuklären. Denn ein verlangsamter Stoffwechsel aufgrund einer Hypothyreose führt nicht nur zu belastenden Symptomen im Reizleitungssystem des Körpers. Er hat auch nachhaltig negative Folgen für Herz und Kreislauf.
Aufschluss über eine Schilddrüsenunterfunktion als Auslöser einer Polyneuropathie gibt eine Blutuntersuchung. Dabei wird, neben der Kontrolle der Schilddrüsen-Hormone, auch der Anteil an Vitaminen (speziell B12 und D) sowie Mineralien und Spurenelementen festgestellt. Die Behandlung wird auf die individuellen Ansprüche abgestimmt.
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