Polyneuropathie nach Chemotherapie: Anerkennung des GdB

Die Polyneuropathie (PNP) ist eine häufige Langzeitnebenwirkung onkologischer Therapien. Sie beeinträchtigt die Lebensqualität und Teilhabe am Arbeitsleben erheblich. Dieser Artikel beleuchtet die Anerkennung des Grades der Behinderung (GdB) bei Polyneuropathie nach Chemotherapie (CIPN).

Was ist der Grad der Behinderung (GdB)?

Der Grad der Behinderung (GdB) gibt an, wie stark der Körper- und Gesundheitszustand eines Menschen von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht. Er wird vom Versorgungsamt auf Antrag festgestellt und reicht von 20 (geringfügige Beeinträchtigungen) bis 100 (schwerste Beeinträchtigungen). Ein GdB wird nur anerkannt, wenn der Zustand voraussichtlich länger als sechs Monate andauert. Ab einem GdB von 50 gilt man als schwerbehindert. Auch bei einem GdB zwischen 30 und 50 ist eine Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen möglich.

Menschen mit Behinderung im sozialrechtlichen Sinne

Menschen mit Behinderungen sind Personen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Antragstellung und Ermittlung des GdB

Zuständig für die Feststellung des GdB ist das Versorgungsamt. Der Antrag kann formlos gestellt werden. Es ist ratsam, dem Antrag bereits Gutachten und ärztliche Befundberichte beizufügen. Das Versorgungsamt kann weitere medizinische Untersuchungen veranlassen. Der GdB wird gemäß der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) aufgrund von Krankheiten bzw. körperlichen Einschränkungen ermittelt. Die VersMedV enthält Anhaltswerte für die Höhe des GdB. Die Feststellung des GdB erfolgt stets individuell unter Berücksichtigung der konkreten Beeinträchtigungen.

Schwerbehinderung und ihre Auswirkungen

Ab einem GdB von 50 gilt man als schwerbehindert und hat Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis. Schwerbehinderte Menschen genießen arbeitsrechtliche Vorteile wie einen besonderen Kündigungsschutz und zusätzlichen Urlaub (bei einer 5-Tage-Woche fünf zusätzliche Urlaubstage im Jahr). Es gibt auch weitere Nachteilsausgleiche, wie z.B. Vergünstigungen bei Eintritten in Museen oder Theatern.

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Chronische Schmerzen und GdB

Bei chronischen Schmerzen kann ein GdB festgestellt werden. Dieser richtet sich in der Regel nach der Grunderkrankung. Bei chronischen Schmerzen, die nicht oder nur in geringem Maße durch körperliche Schädigungen erklärt werden können und durch ein Zusammenspiel von körperlichen, seelischen und sozialen Ursachen entstehen, wird der GdB interdisziplinär, also in Zusammenarbeit von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen, festgestellt. Chronische Schmerzen werden in der ICD-11 nicht mehr nur als Symptom gesehen, sondern als eigenständige Erkrankung anerkannt.

Polyneuropathie nach Chemotherapie (CIPN)

Definition und Ursachen

Unter Polyneuropathie (PNP) werden bei Krebserkrankungen die klinischen Folgen von Schädigungen peripherer Nerven zusammengefasst. Symmetrische, distal betonte, sensible Ausfälle bestimmen das typische Bild. Motorische Ausfälle oder Veränderungen des vegetativen Nervensystems sind seltener oder treten sekundär hinzu. Ursächlich sind generalisierte Nervenstoffwechselstörungen. Am häufigsten werden Polyneuropathien durch Chemotherapie (Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie, CIPN), aber auch durch moderne Biologicals und Immuntherapien (Therapie-induzierte Polyneuropathie, TIPN) verursacht.

Inzidenz und Risikofaktoren

Die Inzidenz einer CIPN nach Polychemotherapie beträgt ca. 40%. Chemotherapie-induzierte Polyneuropathien sind sowohl von der Kumulativdosis als auch von der Einzeldosis abhängig.

Beispiele für Kumulativdosen:

  • Paclitaxel: Ø 100-200 mg/m²
  • Oxaliplatin: Ø 700-800 mg/m²
  • Cisplatin: Ø 300 mg/m²
  • Vincristin: Ø 5-6 mg/m²
  • Bortezomib: 16 mg/m²

Symptome

Leitsymptome sind Missempfindungen (Parästhesien) wie Kribbeln und Nadelstiche, teilweise schmerzhaft (Dysästhesien), oder Taubheit. Das Verteilungsmuster der Beschwerden ist typischerweise symmetrisch, handschuh- oder sockenförmig. Die Ausfälle beginnen körperfern in den Finger- bzw. Zehenspitzen und können zur Körpermitte hin fortschreiten. Typisch für den Verlauf ist das sogenannte Coasting-Phänomen. Symptome können nach der Beendigung der Tumortherapie zunächst über etwa 3-4 Monate weiter fortschreiten, bevor sie meist wieder abklingen. Bei der klinischen Untersuchung findet man Ausfälle des Berühr- und Vibrationsempfindens sowie des Lagesinns, verbunden mit einem Verlust der Muskeleigenreflexe. Motorische und vegetative Defizite sind seltener, können aber abhängig von der Substanz hinzukommen. Symptome wie eine sensible Ataxie, Schmerzen und ausgeprägte Taubheit können funktionelle Fähigkeiten und Lebensqualität einschränken und behindern.

Diagnostik

Es gibt keinen verbindlichen Standard zur Untersuchung und Schweregradeinteilung. Ein Goldstandard würde neben der klinischen Untersuchung objektive neurophysiologische Parameter umfassen und subjektive Patienteneinschätzungen (patient reported outcomes, PROs), da Ärzte in der Regel Häufigkeit und Schwere der Neurotoxizität unterschätzen. An klinischen Scores stehen die Common Terminology Criteria for Adverse Events des National Cancer Institute (CTCAE-NCI) und der Total Neuropathy Score (TNS) zur Verfügung. Bei der neurophysiologischen Untersuchung wird in der Regel die Nervenleitgeschwindigkeit untersucht. Dadurch kann eine PNP bestätigt werden und differentialdiagnostisch z.B. eine inflammatorische PNP ausgeschlossen werden. Veränderungen der Nervenleitgeschwindigkeit treten aber erst relativ spät im klinischen Verlauf auf, so dass die NLG zur Früherkennung oder Verlaufsbeurteilung wenig geeignet ist. Die Quantitative Sensorische Testung (QST) umfasst thermische und mechanische Untersuchungsparameter und erlaubt neben dem Nachweis sensorischer Ausfallerscheinungen (Negativsymptome) auch die Detektion von sensiblen Pluszeichen (z.B. thermische oder mechanische Hyperalgesie). Zur Erhebung der subjektiven Beschwerden der Betroffenen stehen verschiedene Fragebögen zur Verfügung.

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Therapie

Die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten der CIPN bleiben unbefriedigend. Zur Therapie erhielt lediglich Duloxetin, ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI, Selective Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitor), eine mäßige Empfehlung, zugelassen für die diabetische PNP. Ein Behandlungsversuch mit trizyklischen Antidepressiva, Gabapentin oder einem topischen Gel mit Baclofen, Amitriptyline und Ketamin kann gerechtfertigt sein. Ein therapeutischer Effekt ist allerdings nur bei Plussymptomen, Parästhesien oder Schmerzen zu erwarten. Insbesondere bei den Schweregraden II und III stehen aktive funktionelle Trainingstherapien im Vordergrund. Erfolgreich werden v.a. Gleichgewichtstrainings eingesetzt, im Unterschied zu reinen Kraft- und Ausdauertrainings. Daten liegen zum Sensorimotortraining vor. Subjektiv besonders effektiv ist Walking in Granulat. Außerdem etabliert sind Whole Body Vibration und Tai Chi. Hinzu kommt bei Grad III und IV das gezielte Training von Hilfsmitteln für Beruf und Alltag.

Sozialmedizinische Beurteilung

Aufgrund des zunehmenden Einsatzes von onkologischen Behandlungsprotokollen mit Medikamenten, die in einem hohem Maße mit dem Risiko einer Polyneuropathie assoziiert sind, ist die CIPN ein wesentlicher Faktor bei der sozialmedizinischen Beurteilung. Die leitliniengerechte Therapie mit CIPN-induzierenden Chemotherapeutika betrifft häufig Tumorstadien, die in der sozialmedizinischen Gesamtbeurteilung ohnehin häufiger mit einer gefährdeten Leistungsfähigkeit einhergehen, z.B. beim Mammakarzinom oder bei kolorektalen Karzinomen. Die vorliegenden Fähigkeitseinschränkungen in Hinblick auf die Teilhabe am Erwerbsleben und am gesellschaftlichen Leben müssen deshalb in einer ausführlichen Anamnese, insbesondere unter beruflichen Aspekten erarbeitet werden. Patienten, bei denen aufgrund der erhobenen Fähigkeits- und Funktionseinschränkungen Probleme bei der beruflichen Reintegration zu erwarten sind, sollten darüber hinaus während einer Rehabilitation eine Arbeitsplatzberatung und ggf. auch eine Arbeitserprobung (medizinisch-berufliche Orientierung) angeboten werden. Die sozialmedizinische Relevanz einer CIPN ergibt sich für einen bestehenden Beruf aus der konkreten Arbeitsplatzbeschreibung. Bei hohen Anforderungen an das Tastvermögen ergeben sich unter Umständen schon bei umschriebener Taubheit der Fingerspitzen (CIPN I) relevante Einschränkungen für die letzte Tätigkeit, z.B. bei medizinischem Assistenzpersonal (Venen tasten oder punktieren, instrumentieren) oder bei Berufsmusikern, speziell von Streichinstrumenten. Ebenso können hohe Anforderungen an die Feinmotorik, beispielsweise bei Laborarbeiten oder der Herstellung von Computerchips die Ausübung der bisherigen Tätigkeit einschränken (CIPN II). Bei Bauarbeitern ist das Besteigen von Leitern und Gerüsten von einer überprüften ausreichenden Gang- und Standsicherheit abhängig zu machen (bereits ab CIPN I). Bürotätigkeiten sind in der Regel mit einer CIPN II möglich, bei einer drittgradigen CIPN wird zuvor ein funktionelles Training erforderlich sein.

GdB bei CIPN

Die Beurteilung des GdB bei CIPN erfolgt individuell und richtet sich nach dem Ausmaß der Funktionseinschränkungen, den Schmerzen und den Auswirkungen auf die Teilhabe am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze geben Anhaltswerte für die Bewertung. Bei der Beurteilung sind die Art und das Ausmaß der sensiblen und motorischen Ausfälle, die Beeinträchtigung des Tastvermögens, der Feinmotorik, der Gang- und Standsicherheit sowie die psychischen Auswirkungen der Erkrankung zu berücksichtigen. Außergewöhnliche Schmerzen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.

Orientierungswerte aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Auszug):

  • Wirbelsäulenschäden: Je nach Bewegungseinschränkung, Verformung, Instabilität und Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte (GdB 0-80)
  • Gesichtsneuralgien: Je nach Häufigkeit und Stärke der Schmerzen (GdB 0-50)
  • Muskelkrankheiten: Je nach Muskelschwäche und Funktionseinschränkung (GdB 20-100)
  • Psychische Störungen: Je nach Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (GdB 0-100)

Es ist wichtig zu beachten, dass es sich bei diesen Werten nur um Anhaltspunkte handelt. Die tatsächliche Höhe des GdB wird im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren festgelegt.

Verschlimmerungsantrag (Änderungsantrag)

Wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert hat, kann ein Änderungsantrag (oft auch als Verschlimmerungsantrag bezeichnet) beim Versorgungsamt gestellt werden. Das Landesamt für soziale Dienste prüft dann, ob eine Änderung des GdB und ggf. der Merkzeichen erforderlich ist. Es ist wichtig zu beachten, dass ein Änderungsantrag auch das Risiko einer Herabstufung birgt. Vor der Antragstellung sollten folgende Fragen geklärt werden:

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  1. Was genau würde eine Heraufsetzung konkret bringen?
  2. Gibt es aktuelle Befundberichte von den behandelnden Ärzten?
  3. Wurde die Situation vor dem Änderungsantrag durch eine Beratung abgesichert?

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