Viele Krebspatienten kennen das unangenehme Gefühl von Kribbeln, Taubheit oder brennenden Schmerzen in Händen und Füßen. Dies kann ein Anzeichen für eine Polyneuropathie sein, eine Nervenerkrankung, die als Folge einer Chemotherapie auftreten kann. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN), ihre Symptome, Diagnose, Therapieoptionen und aktuelle Empfehlungen zur Vorbeugung und Behandlung.
Was ist Polyneuropathie?
Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung, die das periphere Nervensystem schädigt. Das periphere Nervensystem umfasst alle Nerven außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks. Diese Nerven sind für die Übertragung von Reizen zwischen dem Gehirn und den verschiedenen Körperteilen verantwortlich. Eine Schädigung dieser Nerven kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen.
Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN)
Wenn die Polyneuropathie als Folge einer Chemotherapie auftritt, spricht man von einer Chemotherapie-induzierten (peripheren) (Poly-)Neuropathie, kurz CIN oder CIPN. Einige Zytostatika, die in der Chemotherapie eingesetzt werden, haben eine neurotoxische Wirkung und können die Nerven schädigen. Insbesondere platinhaltige Chemotherapeutika wie Cisplatin, Carboplatin und Oxaliplatin sind dafür bekannt, Polyneuropathien zu verursachen. Aber auch andere Medikamente wie Taxane (z. B. Paclitaxel, Docetaxel), Vinblastin und Enfortumab Vedotin können Nervenschäden hervorrufen.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen für die Entstehung einer CIPN sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird vermutet, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, darunter:
- Direkte Toxizität der Chemotherapeutika: Einige Chemotherapeutika können die Nervenzellen direkt schädigen.
- Oxidativer Stress: Chemotherapeutika können oxidativen Stress verursachen, der die Nervenzellen schädigen kann.
- Entzündungsreaktionen: Chemotherapeutika können Entzündungsreaktionen auslösen, die die Nervenzellen schädigen können.
- Genetische Faktoren: Einige Menschen haben möglicherweise eine genetische Veranlagung, eine CIPN zu entwickeln.
Symptome der Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen davon ab, welche Nerven geschädigt sind. Häufig treten die Symptome zuerst in den Füßen und Händen auf und breiten sich dann auf andere Körperteile aus. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
Lesen Sie auch: Behandlungsmöglichkeiten bei alkoholischer Polyneuropathie
- Sensibilitätsstörungen:
- Taubheitsgefühle: Viele Betroffene berichten über Taubheitsgefühle in den Fingern und Zehen, die sich wie das Tragen von Handschuhen oder Strümpfen anfühlen können.
- Kribbeln und Ameisenlaufen: Ein unangenehmes Kribbeln oder Ameisenlaufen in den Händen und Füßen ist ein häufiges Symptom.
- Brennen und Schmerzen: Brennende Schmerzen, die sich wie kleine Stromstöße anfühlen, können in den betroffenen Körperregionen auftreten.
- Überempfindlichkeit: Einige Patienten entwickeln eine Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen, so dass selbst leichte Berührungen als schmerzhaft empfunden werden.
- Verlust der Berührungsempfindung: Es kann zu einem Verlust der Berührungsempfindung kommen, so dass Betroffene Schwierigkeiten haben, Gegenstände zu ertasten oder Temperaturen zu unterscheiden.
- Motorische Störungen:
- Muskelschwäche: Die Polyneuropathie kann zu Schwäche und Kraftlosigkeit in den Armen und Beinen führen.
- Muskelschwund: In schweren Fällen kann es zu Muskelschwund (Atrophie) kommen.
- Bewegungseinschränkungen: Die Muskelschwäche kann zu Bewegungseinschränkungen führen, so dass Betroffene Schwierigkeiten haben, zu greifen, zu gehen oder andere alltägliche Aktivitäten auszuführen.
- Gang- und Gleichgewichtsstörungen: Aufgrund der beeinträchtigten Sensorik und Motorik kann es zu Problemen mit dem Gleichgewicht, der Koordination und einem unsicheren Gang kommen. Dies erhöht das Sturzrisiko.
- Weitere Symptome:
- Hör- und Sehprobleme: In seltenen Fällen können auch die Hirnnerven betroffen sein, was zu Hör- und Sehproblemen führen kann. Insbesondere Cisplatin kann sich auf das Innenohr auswirken und zu klingenden Ohrgeräuschen (Tinnitus) oder einem Hörverlust führen.
- Gleichgewichtsstörungen: Schädigungen der Hirnnerven können auch Gleichgewichtsstörungen verursachen.
Auswirkungen im Alltag
Die Symptome einer Polyneuropathie können den Alltag der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Die Taubheit der Hände kann zu Schwierigkeiten bei feinmotorischen Tätigkeiten führen, wie z. B. dem Zuknöpfen eines Hemdes, dem Öffnen einer Flasche oder dem Schreiben. Sind die Füße betroffen, kann dies zu Unsicherheit beim Gehen, häufigerem Gleichgewichtsverlust oder sogar Stürzen führen. Auch oberflächliche Verletzungen an Händen und Füßen bleiben oft unbemerkt, wenn das Gefühl fehlt, was das Risiko für Wundinfektionen erhöht.
Beispiel aus der Praxis:
Christian, ein Darmkrebspatient, berichtet von Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen als Folge seiner Chemotherapie. Er hat Schwierigkeiten, Gegenstände in seiner Tasche zu finden, und kann seine Lieblingsbeschäftigung, das Fotografieren, nur eingeschränkt ausüben.
Diagnose der Polyneuropathie
Um eine Polyneuropathie zu diagnostizieren, werden verschiedene Untersuchungen durchgeführt:
- Anamnese: Der Arzt befragt den Patienten ausführlich nach seinen Beschwerden, seiner Krankengeschichte und den eingenommenen Medikamenten.
- Körperliche Untersuchung: Der Arzt untersucht dieSensibilität, Motorik und Reflexe des Patienten.
- Testung des Vibrationsempfindens: Mit einer Stimmgabel wird geprüft, ob der Patient Vibrationen spürt.
- Prüfung von Reflexen: Der Arzt überprüft verschiedene Muskeleigenreflexe, wie z. B. den Achillessehnenreflex.
- Messen der oberflächlichen Reizwahrnehmung: Der Arzt testet das Schmerz-, Temperatur-, Berührungs- und Druckempfinden des Patienten.
- Motorik und funktionale Beeinträchtigungen testen: Der Arzt beobachtet den Patienten beim Gehen und prüft, ob eine Muskelschwäche erkennbar ist.
- Elektroneurografie (ENG): Bei dieser Untersuchung wird die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen, um das Ausmaß der Nervenschädigung festzustellen.
- Elektromyografie (EMG): Diese Untersuchung misst die elektrische Aktivität der Muskeln und kann helfen, die Ursache der Muskelschwäche zu ermitteln.
- Hörtest: Bei Verdacht auf Hörprobleme wird ein Hörtest durchgeführt, um die Hörschwelle des Patienten zu bestimmen.
- Blutuntersuchung: Eine Blutuntersuchung kann Aufschluss über Mängel geben, die zu einer Schädigung der Nerven führen können, z. B. ein Mangel an Vitamin B1, B6, B12, C, E oder D sowie an Spurenelementen und Mineralstoffen.
Therapieoptionen bei Polyneuropathie
Die Behandlung einer CIPN ist oft schwierig, da die eigentliche Ursache, die nervenschädigende Wirkung der Chemotherapie, nicht immer beseitigt werden kann. Ziel der Behandlung ist es, die Symptome zu lindern, die Lebensqualität zu verbessern und weitere Nervenschäden zu verhindern.
Medikamentöse Therapie
Verschiedene Medikamente können zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden:
Lesen Sie auch: Aktuelle Forschung zu Polyneuropathie und psychosomatischen Ursachen
- Antidepressiva: Einige Antidepressiva, wie Duloxetin, Venlafaxin und Amitriptylin, haben sich als wirksam bei der Linderung neuropathischer Schmerzen erwiesen. Duloxetin gilt laut einer aktuellen Leitlinie als besonders wirksam. Mögliche Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit oder Magen-Darm-Beschwerden.
- Antikonvulsiva: Antikonvulsiva, die ursprünglich zur Behandlung von Krampfanfällen entwickelt wurden, können ebenfalls bei Nervenschäden eingesetzt werden. Dazu gehören Gabapentin und Pregabalin. Ihr Nutzen bei Chemotherapie-bedingten neuropathischen Schmerzen ist jedoch nicht eindeutig belegt.
- Opioide: Schwache und starke Opioide können bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen wirksam sein, sind aber mit starken Nebenwirkungen verbunden.
- Pflaster und Cremes: Ergänzend stehen Substanzen in Pflastern oder Salben zur Verfügung, die örtlich wirken, z. B. Capsaicin- oder Lidocain-Pflaster. Eine kleine Studie deutet auf den Nutzen einer Menthol-Creme hin.
Wichtig: Übliche Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure (ASS) helfen bei neuropathischen Schmerzen nicht.
Nicht-medikamentöse Therapie
Neben der medikamentösen Therapie gibt es eine Reihe von nicht-medikamentösen Maßnahmen, die zur Linderung der Symptome beitragen können:
- Bewegungstherapie: Regelmäßige Bewegung kann die Beschwerden lindern und die Geschicklichkeit der Hände oder das Gleichgewicht beim Gehen fördern bzw. erhalten. Empfohlen werden sensomotorisches Training, Vibrationstraining, Gleichgewichts- und Koordinationsübungen sowie Übungen zur Verbesserung der Feinmotorik.
- Physiotherapie: Physiotherapeutische Maßnahmen können helfen, dieBalance zu verbessern, sicherer beim Gehen zu werden und das Sturzrisiko zu senken.
- Ergotherapie: Ergotherapie kann helfen, alltägliche Fertigkeiten wiederzuerlangen und die manuelle Geschicklichkeit zu fördern. Zum Einsatz kommen Hilfsmittel wie Fußrollen, Bürsten oder Igelbälle. Auch Schreibtraining kann angeboten werden.
- Elektrotherapie: Bei der Elektrotherapie werden die Nerven elektrisch stimuliert, z. B. durch Teilbäder mit Gleichstrom oder durch elektrische Stimulation der Haut.
- Akupunktur: Akupunktur gilt als experimentelles Behandlungsverfahren für neuropathische Schmerzen, die Wirksamkeit ist jedoch nicht sicher belegt.
- SENSI-Bäder: SENSI-Bäder dienen der Stimulierung der Nerven durch das Setzen verschiedener Reize, z. B. durch Baden der Hände oder Füße in Schüsseln mit Linsen, Tannenzapfen, Watte usw.
Weitere Maßnahmen
- Schutzmaßnahmen:
- Kälte vermeiden: Wer vor allem bei Kälte unter Beschwerden leidet, sollte sich vor Kälte schützen.
- Auf Verletzungen achten: Bei Schmerzunempfindlichkeit ist es wichtig, regelmäßig Hände und Füße auf Verletzungen zu kontrollieren, da diese sich leicht entzünden können.
- Bei Hitze aufpassen: Wenn Temperaturen nicht mehr gut gespürt werden können, kann es leicht zu Verbrennungen kommen. Vor dem Baden sollte die Wassertemperatur mit einem Thermometer gemessen werden.
- Hilfsmittel: In vielen Lebensbereichen können Hilfsmittel den Alltag erleichtern, z. B. spezielle Griffe für Schreibgeräte oder Besteck.
- Psychologische Unterstützung: Eine Krebserkrankung und die damit verbundenen Nebenwirkungen können psychisch sehr belastend sein. Eine psychologische Unterstützung kann helfen, mit den Belastungen umzugehen und die Lebensqualität zu verbessern.
- Sozialdienst: Der Sozialdienst kann Betroffene bei Fragen zur stufenweisen Wiedereingliederung ins Berufsleben, zur Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder zur Beantragung von Qualifizierungsmaßnahmen oder Umschulungen beraten.
Prophylaktische Maßnahmen
Um einer CIPN vorzubeugen, können folgende Maßnahmen ergriffen werden:
- Kühlung von Händen und Füßen: Eine prophylaktische Kühlung von Händen und Füßen während der Chemotherapie, insbesondere bei der Gabe von Taxanen, kann die Entstehung einer CIPN verhindern oder abmildern. Die Kühlung erfolgt mit Kühlhandschuhen und -socken oder mit einer speziellen Kühlapparatur (Hilotherapy).
- Kompression: Das Tragen von eng anliegenden chirurgischen Handschuhen und Kompressionsstrümpfen während der Chemotherapie kann ebenfalls dazu beitragen, die Entstehung einer CIPN zu verhindern.
- Sport und Bewegung: Regelmäßige körperliche Aktivität, insbesondere Ausdauersportarten wie Walking, kann die Symptome einer Neuropathie lindern und die Lebensqualität verbessern.
- Anpassung der Chemotherapie: Bei ersten Anzeichen einer CIPN sollte der Arzt informiert werden, um gegebenenfalls die Dosis oder das Schema der Chemotherapie anzupassen.
Aktuelle Empfehlungen
Die aktualisierte Supportiv-Leitlinie empfiehlt bei einer Taxan-Therapie zur Vorbeugung einer CIPN die Kryotherapie und Kompression. Beide Verfahren haben in Studien gezeigt, dass sie die Häufigkeit und den Schweregrad der Neuropathie senken können.
Fallbeispiel Christian
Christian, ein 33-jähriger Darmkrebspatient, litt nach seiner Chemotherapie unter einer Polyneuropathie mit Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen. Durch Ergotherapie lernte er Übungen, um die Muskulatur zu stärken und die Nerven zu stimulieren. Langsam kam das Gefühl in seinen Händen zurück, aber seine Füße blieben überwiegend taub. Er wird weiterhin an der Verbesserung seiner Fußfunktion arbeiten. Christian betont, wie wichtig die Unterstützung seiner Familie, Freunde und Partnerin in dieser schwierigen Zeit ist.
Lesen Sie auch: Polyneuropathie und Demenz: Was Sie wissen sollten
tags: #Polyneuropathie #nach #Chemotherapie #Therapieoptionen