Die Frage nach der Beziehung zwischen Glaube und Gehirn beschäftigt Theologen, Philosophen und Neurowissenschaftler gleichermaßen. Sind religiöse Erfahrungen lediglich neuronale Fehlfunktionen oder gibt es eine biologische Basis für die Glaubensfähigkeit des Menschen? Der Artikel beleuchtet die spannende Forschungsrichtung der Neurotheologie und die Arbeit von Michael Ferguson von der Harvard Medical School, der versucht, die neurologischen Grundlagen von Religiosität und Spiritualität zu entschlüsseln.
Die Suche nach Gott im Gehirn: Neurotheologie
Die Neurotheologie ist ein interdisziplinäres Feld, das sich mit den neuronalen Korrelaten religiöser Erfahrungen befasst. Forscher aus den Bereichen Philosophie, Neurologie, Psychologie und Radiologie untersuchen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen beten, meditieren oder spirituelle Erfahrungen machen.
Einer der Pioniere dieser Forschungsrichtung ist Andrew Newberg. Er argumentiert, dass, wenn Gott existiert, sich seine Existenz im Gehirn manifestieren muss. Durch bildgebende Verfahren wie die Computertomografie versuchen Neurotheologen, die Spuren religiöser Praxis im Gehirn zu messen.
In Experimenten mit buddhistischen Mönchen und katholischen Nonnen fand Newberg eine verringerte Aktivität in einem Hirnbereich, der für die räumliche Orientierung zuständig ist, während die Probanden beteten oder meditierten. Dies deutete darauf hin, dass sie das Gefühl hatten, ihr Selbst zu verlieren und in der Ewigkeit zu versinken.
Andere Forscher haben ähnliche Ergebnisse erzielt. Michael Persinger erzeugte mit einem umgebauten Motorradhelm magnetische Felder und berichtete, dass 80 Prozent seiner Versuchspersonen spirituelle Erlebnisse hatten. Vilayanur Ramachandran spekulierte über ein "Gottes-Modul" im Gehirn, in dem religiöse Gefühle lokalisiert sein könnten.
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Michael Ferguson und die Lokalisation von Spiritualität im Gehirn
Michael Ferguson vom Brigham and Women's Hospital in Boston verfolgt einen anderen Ansatz. Er verwendet die "Läsionsnetzwerkkartierung", eine Methode, die es ermöglicht, komplexe menschliche Verhaltensweisen bestimmten Hirnschaltkreisen zuzuordnen.
In einer Studie analysierte Ferguson die Gehirnstruktur von Patienten mit Hirnschäden (Läsionen) infolge von Kriegstraumata, Schlaganfällen oder Tumoren. Er fand heraus, dass Läsionen in einem bestimmten neuronalen Netzwerk, das überwiegend in der rechten Hirnhälfte liegt, mit stärkerem religiösem Fundamentalismus verbunden sind. Zu diesem Netzwerk gehören unter anderem der rechte orbitofrontale Cortex, der dorsolaterale präfrontale Cortex und der untere Parietallappen.
Erstaunlicherweise treten ähnliche Gehirnschäden auch bei Menschen auf, die sich kriminell verhalten und Falschbehauptungen verbreiten. Dies deutet darauf hin, dass religiöser Fundamentalismus und Hirngespinste möglicherweise dieselbe neurologische Grundlage haben.
In einer anderen Studie lokalisierte Ferguson Spiritualität und Religiosität in einem bestimmten Gehirnschaltkreis, der sich auf das periaquäduktale Grau (PAG) konzentriert, einer Hirnstammregion, die an zahlreichen Funktionen beteiligt ist, darunter Angstkonditionierung, Schmerzmodulation, altruistisches Verhalten und bedingungslose Liebe.
Die Bedeutung der Forschungsergebnisse
Die Forschungsergebnisse von Ferguson und anderen Neurotheologen tragen dazu bei, die biologischen Grundlagen von Religiosität und Spiritualität besser zu verstehen. Sie zeigen, dass religiöse Erfahrungen nicht nur ein Produkt von Einbildung oder kultureller Prägung sind, sondern auch mit spezifischen neuronalen Prozessen im Gehirn zusammenhängen.
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Es ist wichtig zu betonen, dass diese Forschung die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen kann. Sie kann jedoch dazu beitragen, die Mechanismen zu verstehen, die es Menschen ermöglichen, religiöse und spirituelle Erfahrungen zu machen.
Die Erkenntnisse der Neurotheologie könnten auch Auswirkungen auf die Behandlung von psychischen Erkrankungen haben. So könnte beispielsweise das Verständnis der neuronalen Grundlagen von religiösem Fundamentalismus dazu beitragen, wirksamere Strategien zur Prävention und Behandlung von Radikalisierung zu entwickeln.
Religiöser Fundamentalismus: Wenn Glaube zur Gefahr wird
Religiöser Fundamentalismus ist ein globales Problem, das sich in allen Religionen findet. Fundamentalisten radikalisieren sich in ihrem Glauben, halten starr an ihren religiösen Überzeugungen fest und verteidigen ihre vermeintlich "einzig wahre" Weltsicht gegenüber "Ungläubigen" - teils sogar mit Gewalt.
Die Forschung von Michael Ferguson deutet darauf hin, dass Hirnschäden in bestimmten Hirnregionen Mitauslöser von fundamentalistischen Einstellungen sein könnten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Menschen mit solchen Hirnschäden automatisch Fundamentalisten werden oder dass alle religiösen Fundamentalisten zwingend solche Gehirnschäden aufweisen. Viele Faktoren tragen zum Fundamentalismus bei, darunter affektive, kognitive, erfahrungsbezogene, genetische, familiäre, institutionelle, entwicklungsbezogene und kulturelle Variablen.
Die Rolle der Spiritualität in der Heilung
Neben der Erforschung der neurologischen Grundlagen von Religiosität und Fundamentalismus interessiert sich Michael Ferguson auch für die Rolle der Spiritualität in der Heilung. Er argumentiert, dass Heilung und Spiritualität in der Geschichte der Menschheit immer Hand in Hand gegangen sind und dass die moderne Medizin von dieser Verbindung lernen kann.
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Ein gutes Beispiel für die Verbindung von Heilung und Spiritualität ist Achtsamkeit. Achtsamkeitsübungen können bestimmte Hirnareale stimulieren und dazu beitragen, Stress abzubauen und das Wohlbefinden zu steigern.
Fazit
Die Forschung von Michael Ferguson und anderen Neurotheologen wirft ein neues Licht auf die Beziehung zwischen Glaube und Gehirn. Sie zeigt, dass religiöse Erfahrungen tief im menschlichen Gehirn verwurzelt sind und dass Spiritualität eine wichtige Rolle in der Heilung spielen kann.
Es ist wichtig, diese Forschung kritisch zu betrachten und ihre Grenzen zu erkennen. Dennoch bietet sie wertvolle Einblicke in die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Geist und Glauben.
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