Polyneuropathie: Vitamin-B-Komplex-Behandlung

Polyneuropathie ist eine Erkrankung, die viele Nerven gleichzeitig schädigt. Es gibt Hunderte verschiedener Arten von Polyneuropathie, und die Ursachen können vielfältig sein. Oft lässt sich der auslösende Faktor im Nachhinein nicht mehr feststellen. Eine der möglichen Ursachen ist ein Mangel an Vitaminen, insbesondere des Vitamin-B-Komplexes.

Aufnahme und Funktion von Vitamin B12

Vitamin B12 spielt eine entscheidende Rolle im Körper, insbesondere für die Funktion des Nervensystems und die Blutbildung. Die Aufnahme von Vitamin B12 ist ein komplexer Prozess:

  1. Abspaltung: Im Magen wird proteingebundenes Vitamin B12 durch Pepsin und Magensäure abgespalten.
  2. Bindung an R-Proteine: Das freie Vitamin B12 bindet im Magen an R-Proteine (Haptocorrine).
  3. Abspaltung der R-Proteine: Im Duodenum werden die R-Proteine durch Pankreasenzyme abgespalten.
  4. Bindung an Intrinsic Factor (IF): Das Vitamin B12 bindet nun an den Intrinsic Factor, der von den Parietalzellen des Magens gebildet wird.
  5. Resorption: Der an IF gebundene Vitamin B12 wird im terminalen Ileum resorbiert. Eine geringe passive Resorption (ca. 1%) findet im gesamten Duodenum statt.
  6. Transport im Körper: Im Körper wird Vitamin B12 in verschiedenen Formen gebunden transportiert: Holotranscobalamin (biologisch aktive Form), Haptocorrin und Transcobalamin.

Vitamin B12 ist ein Katalysator für die Umwandlung von Methylmalonyl-Coenzym A zu Succinyl-Coenzym A. Bei einem Mangel kommt es zu einer Erhöhung der Methylmalonsäure. Zudem ist es an der Synthese von Methionin aus Homocystein beteiligt, wofür auch Folsäure benötigt wird. Methionin ist wichtig für die Blutbildung (Hämatopoese). Ein Mangel an Methionin führt zu einer Erhöhung von Homocystein.

Der tägliche Bedarf an Vitamin B12 beträgt ca. 3-4 µg. Der Körper speichert Vitamin B12 hauptsächlich in der Leber, in geringeren Mengen auch in Nieren, Muskulatur, Gehirn und Milz. Diese Körperspeicher reichen für mehrere Jahre.

Neuropathien und Vitamin-B12-Mangel

Ein Mangel an Vitamin B12 kann zu verschiedenen neurologischen Symptomen führen, darunter Polyneuropathie und funikuläre Myelose.

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Symptome der Polyneuropathie

  • Sensible oder sensomotorische Störungen
  • Handschuh- und/oder strumpfförmige Hypästhesien (verminderte Empfindlichkeit)
  • Gemindertes Lage- und Vibrationsempfinden
  • Gangunsicherheit
  • Parästhesien (Kribbeln, Taubheitsgefühl)

Funikuläre Myelose

Die funikuläre Myelose ist eine Degeneration der Seiten- und Hinterstränge im Rückenmark, beginnend im zervikothorakalen Übergang. Sie führt zu einer Schädigung der Myelinscheiden und im Verlauf auch der Axone. Die Manifestation ist meist subakut.

  • Parästhesien der Hände und später Füße
  • Störung der Tiefensensibilität
  • Im Verlauf spastische Ataxie

In einigen Fällen kann auch eine Optikusatrophie (Schädigung des Sehnervs) auftreten.

Diagnostik des Vitamin-B12-Mangels

Die Diagnose eines Vitamin-B12-Mangels erfolgt anhand verschiedener Laborwerte und bildgebender Verfahren.

Laborwerte

  • Vitamin B12-Spiegel:
    • Normwerte Erwachsene: 191 - 738 pmol/l bzw. 200-1000 pg/ml
    • Manifester Mangel: <200 pg/ml
    • Niedrig-normaler Spiegel: 200-400 pg/ml
    • Behandlungsempfehlung bei Werten <450 pg/ml, insbesondere bei neurologischen Symptomen, die bereits bei "normalen Blutwerten" auftreten können.
  • Methylmalonsäure (MMS): Erhöhte Werte im Serum (>280 nmol/l) oder Urin (in Bezug auf Kreatinin >4mg/g Kreatinin) weisen auf einen Vitamin-B12-Mangel hin.
  • Holotranscobalamin (Holo-TC): Ein erniedrigter Spiegel (<40 pmol/l) ist ein sensitiver Indikator für einen Vitamin-B12-Mangel. Werte zwischen 35-70 pmol/l sind grenzwertig. Bei Niereninsuffizienz können die Spiegel erniedrigt sein, daher sollte immer die Nierenfunktion überprüft werden.
  • Ergänzende Untersuchungen: Bei grenzwertigen Vitamin-B12-Spiegeln sind ergänzende Untersuchungen sinnvoll:
    • Parietalzell-Antikörper
    • IF-Autoantikörper
    • Blutbild: Anämie, erhöhtes MCV (mittleres korpuskuläres Volumen), erhöhtes MCH (mittlere korpuskuläre Hämoglobin-Konzentration), hypersegmentierte Granulozyten, Retikulopenie (verminderte Anzahl an Retikulozyten). Es ist wichtig zu beachten, dass die Laborwerte trotz neurologischer Manifestation normal sein können.

Bildgebung

  • MRT des zervikalen Myelons: Zum Nachweis hyperintenser Darstellung der Hinter- und/oder Seitenstränge bei funikulärer Myelose.
  • MRT des Kopfes: Bei psychiatrischer oder demenzieller Symptomatik.

Neurophysiologische Untersuchungen

  • Neurographie: Motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeitsmessung zur Feststellung einer demyelinisierenden sensiblen oder sensomotorischen Polyneuropathie (Nervus peronaeus und tibialis mit F-Wellen, Nervus suralis).
  • Elektromyographie: Zur Frage einer axonalen Schädigung.
  • Evozierte Potentiale:
    • Sensibel evozierte Potentiale (SEP): Medianus und Tibialis-SEP - fraktionierte Messung. Bei begleitender funikulärer Myelose zusätzlich zentrale Reizleitungsstörung.
    • Visuell evozierte Potentiale (VEP): Bei Verdacht auf Optikusatrophie.
    • Magnetisch evozierte Potentiale (MEP): Bei Verdacht auf eine Pyramidenbahnschädigung.

Weitere Untersuchungen

  • Augenärztliche Untersuchung: Bei Verdacht auf Optikusatrophie.
  • HNO-ärztliche Untersuchung: Bei Verdacht auf Indikation zur Vitamin B12 Substitution.

Behandlung des Vitamin-B12-Mangels

Die Behandlung des Vitamin-B12-Mangels zielt darauf ab, die Speicher wieder aufzufüllen und die neurologischen Symptome zu lindern.

Therapieempfehlungen

Eine dringende Therapieempfehlung besteht bei Spiegeln < 450 pg/ml, insbesondere bei Auftreten neurologischer Symptome, auch bei "normalen Blutwerten". Da kein Risiko einer Behandlung besteht, ist eine großzügige Indikationsstellung gerechtfertigt.

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Orale Therapie

Die orale Therapie ist der parenteralen Therapie gleichwertig.

  • Therapiebeginn: 1000-2000 µg/Tag über eine Woche, Dosis abhängig vom Spiegel. Bei Spiegel < 200 pg/mg Therapiebeginn mit 2000 µg/Tag.
  • Woche 2-4: 1000µg/Woche.
  • Ab dem 2. Monat: 1000µg/Monat.

Parenterale Therapie

Bei neurologischer Manifestation mit funikulärer Myelose oder Optikusatrophie ist die parenterale Therapie empfehlenswert.

  • Therapiebeginn: 1-2x /Woche 1000µg intramuskulär oder (abhängig von Schwere der Symptome) 5-7 Tage 1000µg Hydroxycobalamin intramuskulär oder intravenös/subkutan.
  • Danach: 2x1000µg in den Wochen 2-4.
  • Erhaltungsdosis: 1000µg/Monat.

Wichtige Hinweise

  • Es besteht keine Toxizität bei Überdosierung.
  • Bei Therapiebeginn ist eine Kombination mit Folsäure (1,5-5 mg/die) sinnvoll.
  • Kontrolle des B12-Spiegels nach ca. 4 Wochen.
  • Hämatologische Symptomatik mit Besserung des Blutbildes innerhalb einer Woche (Anstieg Retikulozyten), danach monatliche Kontrollen.
  • Besserung der neurologischen Symptomatik abhängig von Dauer und Schwere der Symptomatik, meist innerhalb der ersten drei Monate.

Zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten

  • Uridinmonophosphat (UMP): Kann in Kombination mit Folsäure und Vitamin B12 die Nervenschmerzen signifikant reduzieren.
  • Alpha-Liponsäure: Ein starkes Antioxidans, das bevorzugt zur Behandlung der diabetischen Polyneuropathie verwendet wird.
  • Magnesium: Beruhigt das Nervensystem.
  • Vitamin D: Gilt als eine wirksame Substanz für die Behandlung neuropathischer Symptome.
  • Heilpflanzen: Diverse Heilpflanzen wie Kalmus, Estragon, Salbei oder Kurkuma können bei Polyneuropathie hilfreich sein. Auch Capsaicin, der in Chilis enthalten ist, kann bei der Schmerzbekämpfung gute Dienste erweisen.
  • Helmkraut: Beruhigt das gesamte Nervensystem.
  • Nachtkerzenöl: Kann wirkungsvoll bei der Vorbeugung von Nervenschäden und möglicherweise bei milden Formen der diabetischen Polyneuropathie hilfreich sein.
  • Rizinusöl-Packungen: Die äußerliche Anwendung kann bei manchen Menschen die Symptome der Polyneuropathie lindern.
  • Rotlicht-Therapie: Kann bei vielen Beschwerden hilfreich sein.

Vitamin B1 und Polyneuropathie

Vitamin B1 spielt eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung und Behandlung der diabetischen Nervenerkrankung. Bei erhöhtem Blutzuckerspiegel steigt der Bedarf an Vitamin B1, so dass es schnell zu einem Mangel kommen kann. Zum Ausgleich eines Vitamin B1-Mangels hat sich Benfotiamin bewährt. Die bessere Bioverfügbarkeit ermöglicht eine höhere Aufnahme von Vitamin B1 als bei herkömmlichen Präparaten. Eine adäquate Versorgung mit Vitamin B1 ist daher für Patienten mit Diabetes entscheidend, um Nervenschäden vorzubeugen oder zu behandeln. Neben Benfotiamin gibt es noch weitere Möglichkeiten, um die Versorgung mit Vitamin B1 zu verbessern.Eine ausgewogene Ernährung mit vielen Lebensmitteln, die reich an Vitamin B1 sind, deckt in der Regel den Grundbedarf. Hervorragende Nahrungsmittel sind z. B. Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse sowie Kartoffeln.

Vitamin B12 und Metformin

Viele Patienten mit Typ-2-Diabetes sind auf Metformin als Basistherapie angewiesen, um den Blutzucker zu senken. Eine Langzeiteinnahme von Metformin geht allerdings mit einem erhöhten Risiko für einen Mangel an Vitamin-B12 einher. Bleibt der Mangel unbehandelt, kommt es zu Nervenschädigungen und neurologischen Ausfällen. Die Hinterstränge des Rückenmarks sind besonders empfindlich. Daher kann es bei Schädigungen des zentralen Nervensystems bis hin zur Polyneuropathie mit sensiblen Störungen und Koordinationsproblemen kommen.

Metformin ist zwar ein wichtiges Medikament zur die Behandlung von Typ-2-Diabetes, sein möglicher Einfluss auf den Vitamin-B12-Stoffwechsel sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden.Eine ausreichende Versorgung mit dem essenziellen Vitamin ist wichtig für die Gesundheit der Nerven und zur Vorbeugung neurologischer Schäden. Mangelerscheinungen muss dringlichst entgegengewirkt werden. Die Bestimmung des Serumspiegels an Vitamin-B12 ist nicht immer zuverlässig. Aufgrund dessen sollte zusätzlich Holo-Transcobalamin (Holo-TC) bestimmt werden. Dieser Parameter gibt Aufschluss über die Menge an aktivem Vitamin B12. Bei einem grenzwertigen Holo-TC und erhöhten Spiegeln der Vitamin-B12-abhängigen Metaboliten Methylmalonsäure (MMA) sowie Homocystein lässt sich ein funktioneller Vitamin-B12-Mangel genauestens nachweisen.

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Diese erweiterte Diagnostik ist vor allem bei Patienten mit spezifischen Symptomen wie Müdigkeit, Konzentrationsstörungen oder sensiblen Neuropathien angeraten. Auch bei Normalwerten innerhalb der Referenzbereiche kann ein individueller Bedarf bestehen, der etwa durch Genetik oder Medikamente beeinflusst wird. In dieser Konstellation wäre eine Supplementierung ebenfalls äußerst sinnvoll.Ist eine Substitution mit Vitamin-B12 indiziert, sollten neben der klinischen Kontrolle auch regelmäßige Laboruntersuchungen erfolgen, um die Wirksamkeit der Therapie zu überprüfen. Durch eine konsequente Diagnostik und Behandlung lassen sich Folgeschäden wie irreversible neurologische Ausfälle vermeiden. Liegt nach diagnostischer Abklärung ein Vitamin-B12-Mangel vor, kann dieser ebenfalls durch hochdosiertes Vitamin B12 ausgleichen werden. Aufgrund der passiven Diffusion über die Darmschleimhaut ist die Bioverfügbarkeit von oral verabreichteiten Präparate mit Vitamin-B12 gegeben. Die einzelnen Vitamin-B12-Verbindungen übernehmen spezifische Aufgaben im Organismus: Methylcobalamin wirkt vor allem auf Zell- und Nervenebene. Adenosylcobalamin ist im Energiestoffwechsel, den Mitochondrien, den Zellkraftwerken, aktiv.

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