Das Psychobiographische Pflegemodell nach Professor Erwin Böhm: Ein umfassender Ansatz in der Betreuung von Menschen mit Demenz

Das psychobiographische Pflegemodell nach Professor Erwin Böhm hat sich als ein wichtiger Ansatz in der Betreuung von Menschen mit Demenz etabliert. Es zielt darauf ab, Betroffene in einen Zustand zu versetzen, der es ihnen ermöglicht, wieder möglichst selbstständig zu leben. Dieses Modell betrachtet Demenz primär als ein psychisches Geschehen und nicht nur als eine Summe von Ausfallerscheinungen.

Grundlagen des Psychobiographischen Pflegemodells

Ganzheitliches Menschenbild und individuelle Lebensgeschichte

Erwin Böhm geht von einem ganzheitlichen Menschenbild aus und berücksichtigt, dass jeder Mensch eine individuelle und einzigartige Lebensgeschichte hat. Diese Lebensgeschichte ist entscheidend, um die Verhaltensweisen und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu verstehen.

Demenz als psychisches Geschehen

Böhm plädiert für eine grundlegend andere Sichtweise auf die Betroffenen, wobei der Fokus auf dem Gefühlszustand und dem daraus resultierenden Leidensdruck liegt. Er betont, dass Menschen mit Demenz sich in einer Rückwärtsentwicklung befinden, ähnlich dem Übergang vom Erwachsenen zum Kind. Dies betrifft nicht nur die Erinnerung, sondern auch die Gefühlswelt und die gesamte Persönlichkeitsentwicklung.

Emotionale Erreichbarkeit und Verständigung

Ein zentraler Aspekt des Modells ist die Erkenntnis des inneren Entwicklungszustands des Betroffenen, also seiner emotionalen Erreichbarkeitsstufe. Gelingt dies, wird der Zugang und die Verständigung erleichtert.

Werkzeuge: Milieugestaltung und Biographiearbeit

Zwei wichtige Werkzeuge des Modells sind die Milieugestaltung und die Biographiearbeit. Pflegende und Begleiter benötigen Wissen darüber, was den Menschen geprägt hat, was für ihn in der jeweiligen Entwicklungs- und Erinnerungsphase Alltagsnormalität war, wie er erzogen wurde und was für ihn ein Daheimgefühl erzeugte.

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Reaktivierende Impulse und Selbstbewusstsein

Mit diesem Wissen ist es möglich, eine Tagesstruktur mit reaktivierenden Impulsen anzubieten. Durch diese Begleitung können die Betroffenen verloren gegangene Fähigkeiten wiedererlangen und ihr Selbstbewusstsein sowie ihr Ichwertgefühl zurückgewinnen. Böhm spricht hier vom Reversibilitätsprinzip, also der Verbesserung des demenziellen Zustandes und der Rückkehr in eine spätere Entwicklungsstufe.

Die praktische Anwendung des Böhm-Konzepts

Erfolge in der Demenzarbeit

Das Team des Malteserstift St. Nikola wendet bereits seit einigen Jahren Elemente des Böhm-Konzepts an und sieht große Erfolge. Claudia Hartinger, Hausleitung des Malteserstift St. Nikola, berichtet, dass bei vielen demenziell veränderten Bewohnern typische Symptome wie Hinlauftendenz oder aggressives Verhalten abnehmen, sobald sie sich in einer Umgebung befinden, die ihrer Alltagsrealität entspricht.

Zertifizierung nach dem Psychobiographischen Pflegemodell

Am Malteserstift St. Nikola ist der geschützte Wohnbereich für demenziell veränderte Bewohner nach dem Psychobiographischen Pflegemodell nach Professor Erwin Böhm zertifiziert. Das Zertifizierungsaudit des Europäischen Netzwerks für psychobiographische Pflege Böhm (ENPP Böhm) fand am 21. März statt. Begutachtet wurden Qualitätsmerkmale in den Bereichen Milieugestaltung, Normalitätsprinzip, Hausideologie und Pflegedokumentation der Betreuung von Menschen mit Demenz.

Hohe Qualitätsanforderungen

Die Vorbereitungen für die Zertifizierung begannen etwa ein Jahr zuvor, da das ENPP Böhm hohe Qualitätsanforderungen an das Zertifikat stellt. Von den 20 Mitarbeitern, die auf dem Wohnbereich für die Pflege und Betreuung der 31 Bewohner zuständig sind, haben 15 Mitarbeiter die Weiterbildung nach Böhm bereits abgeschlossen, die übrigen fünf Mitarbeiter absolvieren sie aktuell.

Kritik an der traditionellen Pflege und Böhms Ansatz

"Warm-Satt-Sauber-Pflege"

In seiner beruflichen Erfahrung als Pfleger beobachtete Erwin Böhm immer wieder, wie Pflegepersonen Alltagstätigkeiten der Patienten unreflektiert übernehmen und diese so in Abhängigkeitsverhältnisse treiben. Böhm kritisierte diese - wie er es nannte - „warm-satt-sauber-Pflege“ und forderte die Pflegenden zu einer „Pflege mit der Hand in der Hosentasche“ auf. Auch wenn bereits kognitive Defizite vorhanden sind, sollten verlorene Fähigkeiten mit pflegerischer Unterstützung wiederentdeckt und im täglichen Leben angewendet werden.

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Fragen an die Pflegenden

Die Pflegenden haben sich dabei mehrere Fragen zu stellen, um die individuellen Bedürfnisse und Prägungen der Patienten zu berücksichtigen.

Böhms Definition von Gesundheit und Krankheit

Gesundheit als optimale Leistungsfähigkeit

Böhm bezieht sich in seiner Definition von Gesundheit und Krankheit auf Parsons, indem er „Gesundheit als einen Zustand optimaler Leistungsfähigkeit für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die ein Mensch sozialisiert wurde“ definiert. Er geht von der Annahme aus, dass Gesundheit primär genetisch festgeschrieben ist, sekundär aber von der Person selbst gesteuert und von der Umwelt beeinflusst werden kann.

Seelische Gesundheit und Normalität

Gesundheit (im Sinne seelischer Gesundheit) ist alles, was normal ist, was man in einer Gesellschaft üblicherweise tut oder lässt. Krank zu sein heißt, nicht mehr in der Lage zu sein, die dem Alter entsprechenden Aufgaben durchzuführen. Das Kranksein unterscheidet sich vom eigentlichen Begriff der Krankheit, die eine mögliche Ursache für ein solches Unvermögen sein kann. Die Gründe für eine Krankheit können vielfältig sein; zum Beispiel kann das Wertesystem zerfallen.

Prägung und Verhaltensmuster

Jeder Mensch wird während seines Lebens durch verschiedene Ereignisse geprägt. Reaktionen, die im Alter auftreten, sieht Böhm als Ausdruck dieser „Prägungszeit“. Die Verhaltensmuster, die Menschen in ihrer Verwirrtheit zeigen, hängen besonders eng mit der Prägung in der Kindheit und Jugend zusammen. Das Modell Böhms geht davon aus, dass die früheren Prägungen (die ersten 25 Jahre) tiefer im Bewusstsein verankert sind und nachhaltiger unser Verhalten bestimmen als später erlernte Bewältigungsmuster (Copings). Je älter die erlernten Muster, umso länger halten sie sich im Abbauprozess.

Das "Daheim-Gefühl" und die Bedeutung der Biographiearbeit

Sicher leben und nützlich sein

Sicher mit einem Daheim-Gefühl zu leben, anerkannt und nützlich zu sein - das wünschen wir uns alle. Im Laufe einer Demenzerkrankung ist man immer weniger in der Lage, sich in der Gegenwart zu orientieren. Hinter jedem, für uns befremdlichen Verhalten stecken Bedürfnisse und Gefühle, und genau da setzen wir an.

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Zentraler Gedanke des Pflegemodells

Zentraler Gedanke dieses speziellen Pflegemodells ist es, den Menschen dort abzuholen, wo er sich im Verlauf seiner Erkrankung befindet, ihm durch Milieugestaltung sein „Daheim-Gefühl“ zu geben und seine Selbstständigkeit und Kompetenzen so lange wie möglich zu erhalten bzw. zu fördern.

Die Rolle der Biographiearbeit

Die Biographiearbeit spielt eine entscheidende Rolle. Es geht darum, die individuellen Geschichten und Erfahrungen der Menschen mit Demenz zu erkunden, um reaktivierend eingreifen zu können. Die Pflegenden benötigen Wissen darüber, was diesen Menschen geprägt hat, was für ihn in der Entwicklungs- und Erinnerungsphase, die er gerade zeigt, Alltagsnormalität war, wie er erzogen wurde und was für ihn ein Daheimgefühl erzeugte. Mit diesem Rüstzeug ist es möglich, eine Tagesstruktur mit reaktivierenden Impulsen anzubieten.

Reaktivierung und Normalität

Durch die Biographiearbeit können verloren gegangene Fähigkeiten wiederentdeckt und im täglichen Leben angewendet werden. Dies führt zu einer Reaktivierung, die als psychobiografisch interpretierbares Problem gesehen wird. Der Mensch bleibt in seinem Gefühl, also seiner Thymopsyche, erreichbar.

Professor Klaus-Dieter Böhm und die Herausforderungen des Alterns

Antrittsvorlesung an der Technischen Hochschule Mittelhessen

„Nur nicht die Nerven verlieren - das Gehirn im Alter“ lautete der Titel der Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Klaus-Dieter Böhm an der Technischen Hochschule Mittelhessen. Böhm ist Ärztlicher Direktor der BDH Klinik Braunfels, einer Fachklinik für Neurologie und neurologische Rehabilitation. Seit Kurzem lehrt er als Honorarprofessor am Gießener Fachbereich Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik.

Demenz und Schlaganfall als Hauptängste

Demenz und Schlaganfall sind die Krankheiten, vor denen die Menschen sich heute nach Krebs am meisten fürchten. In Deutschland gibt es aktuell 1,2 Millionen Demenzkranke, weltweit sind es 35 Millionen.

Risikofaktoren und Vorbeugung

Hauptrisiko ist das Alter: 40 Prozent der über 90-Jährigen sind dement. Zwei Drittel aller Erkrankten leiden an Alzheimer-Demenz. Dabei kommt es zu einem übermäßigen Absterben von Nervenzellen im Gehirn durch die Ablagerung von krankhaften Eiweißen. Die Krankheit ist nicht heilbar, erklärt Böhm, es gebe aber Risikofaktoren, die wir beeinflussen können. Dazu zählen das Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder zu hohe Cholesterinwerte.

Vorbeugende Maßnahmen gegen Alzheimer

Als vorbeugende Maßnahmen gegen Alzheimer nannte Böhm Gedächtnistraining, mediterrane Kost, soziale Kontakte, regelmäßige Bewegung und Musizieren. Bildung und geistige Aktivität seien wirkungsvolle Schutzfaktoren. So sei das Alzheimer-Risiko bei Personen, die schon als Kinder intellektuell wenig stimuliert wurden, bis zu fünfmal höher.

Risikofaktoren für Schlaganfall

Hauptrisikofaktoren für einen Schlaganfall sind neben dem Alter das Rauchen, Diabetes und Bluthochdruck.

Tipps zum Altwerden

Am Schluss seines Vortrags gab Böhm seinen Zuhörern noch „Tipps zum Altwerden“. Neben den Empfehlungen zu einem gesunden Leben gehörten dazu auch ein langes Arbeitsleben, ein sicheres Zuhause, Heiraten und sich nicht scheiden lassen, ausreichend Schlaf und „viel Lachen und Spaß haben“.

Erwin Böhm: Pionier der psychobiographischen Pflege

Neuorientierung der Altenpflege

Der Name des Wieners Erwin Böhm steht für eine Neuorientierung der Altenpflege in Europa. Mitte der achtziger Jahre begann sie mit der unorthodoxen Aufforderung: »Mach dein Bett selber, Oma!«. Heute haben sich Böhms einleuchtende Ideen in Europa durchgesetzt.

Berufsethik und Alltagserlebnisse

Erwin Böhm verändert mit diesem Buch die Berufsethik der krankenpflegenden Berufe in der Psychiatrie und bricht mit dem üblichen Stil, in dem bisher über geriatrische Krankenpflege - meist von Medizinern - geschrieben wurde. Mit seinem Buch ist es Böhm gelungen, sowohl für Theoretiker als auch für Praktiker zu schreiben. Erwin Böhm schafft es mit seiner eigenen, lebendigen Sprache und vielen Beispielen aus dem Alltag ungezählte »Aha-Erlebnisse« zu vermitteln.

Hintergrund und Schwerpunkte

Erwin Böhm war Krankenpfleger in der Pflegedienstleitung und in der Fort- und Weiterbildung tätig. Sein Schwerpunkt lag in der Geriatrie. Er ist Begründer der Übergangspflege und Reaktivierenden Pflege.

Auszeichnungen und Ehrungen

Erwin Böhm ist Träger vieler Auszeichnungen für seine Verdienste in der Pflege.

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