Reizweiterleitung im Auge zum Gehirn: Anatomie und Physiologie

Die Reizweiterleitung vom Auge zum Gehirn ist ein komplexer Prozess, der es uns ermöglicht, die Welt um uns herum visuell wahrzunehmen. Dieser Artikel beleuchtet die anatomischen Strukturen und physiologischen Mechanismen, die an diesem Prozess beteiligt sind, und zwar von der Netzhaut (Retina) bis zu den verschiedenen Arealen im Gehirn, die visuelle Informationen verarbeiten. Reize bilden die Grundlage jeglicher Sinneswahrnehmung und stellen physikalische oder chemische Einwirkungen dar, die von spezialisierten Sinneszellen registriert und in elektrische Signale umgewandelt werden. Die Signale werden in Form von Aktionspotenzialen über das Nervensystem weitergeleitet und im zentralen Nervensystem verarbeitet und lösen eine physiologische Reaktion aus.

Die Netzhaut: Der Ausgangspunkt der visuellen Wahrnehmung

Die Netzhaut, oder Retina, ist die fotosensible Struktur im hinteren Teil des Auges, in der die eigentliche Fototransduktion stattfindet. Sie besteht aus mehreren Zellreihen und schichtenübergreifenden Zelltypen, die zur Zwischenverschaltung dienen. Das Licht, das durch die Pupille und die Linse einfällt, durchquert den Glaskörper und alle Zellschichten der Retina, bevor es auf die Fotorezeptoren trifft, die sich auf der Rückseite befinden. Dort beginnt die Verarbeitung des Lichts.

Licht als Welle und Teilchen

Um die Verarbeitung des Lichts genauer zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen (Photonen) beschrieben werden kann. Licht ist elektromagnetische Strahlung und besitzt eine Energie, die durch Geschwindigkeit, Frequenz und Wellenlänge definiert ist (Energie = Frequenz x Wellenlänge). Je kleiner die Wellenlänge, desto energiereicher ist ein Photon bzw. eine Welle. Der sichtbare Lichtbereich liegt zwischen 380 nm und 780 nm aufgrund der molekularen Strukturen im Auge. Photonen sind kleine energiereiche Pakete.

Aufbau der Retina

Die menschliche Retina besteht aus vier Zellschichten und fünf verschiedenen Neuronentypen, die die visuellen Informationen empfangen und verarbeiten, bevor sie an das Gehirn weitergeleitet werden. Im Folgenden werden die einzelnen Schichten vom Gehirn nach außen in Richtung Cornea vorgestellt:

  1. Pigmentepithel: Diese Zellreihe schließt die Retina zum Rest des Bulbus ab und sorgt für eine bessere Verarbeitung des Lichts, indem sie Lichtstreuung reduziert.
  2. Fotorezeptorschicht: Hier befinden sich die Stäbchen und Zapfen, zwei Typen von Fotorezeptoren, die in das Pigmentepithel eingebettet sind. Beide sind modifizierte Nervenzellen mit einem Soma (Innenglied) und einer Zellverlängerung (Außenglied) in Form eines Stabes (Stäbchen) oder eines Zapfens (Zapfen). Die Außenglieder sind die eigentlichen Rezeptoren. Es gibt fast 100 Millionen Stäbchen, aber nur 5 Millionen Zapfen.
    • Stäbchen: Diese Sinneszellen sind für die Hell-Dunkel-Wahrnehmung wichtig und sind überall auf der Netzhaut zu finden. Diese Form der Wahrnehmung wird auch als skotopisch-monochromatisches Sehen (Nachtsehen, Dämmerungssehen) bezeichnet. Das Außenglied der Stäbchen enthält spezielle Zellorganellen, die Disks, die durch Einfaltungen und Abschnürungen der äußeren Zellmembran entstanden sind. Diese Disks beinhalten wesentliche molekulare Strukturen zur Fototransduktion. Die Stäbchen besitzen Membraneinfaltungen, in denen ebenfalls Fototransduktion stattfindet. Als Abschluss folgt die synaptische Endregion zu den nachgeschalteten Nervenzellen.
    • Zapfen: Diese Sinneszellen sind für die Farbwahrnehmung zuständig und finden sich hauptsächlich in der Sehgrube, der Fovea centralis. Es gibt drei Zapfentypen, die Licht unterschiedlicher Wellenlänge aufnehmen: Grün, Rot und Blau. Diese Form der Wahrnehmung bezeichnet man als trichromatisches Sehen. Alle anderen Farbeindrücke kommen durch additive/subtraktive Farbmischung, gegeben durch ein Erregungsmuster der Zapfen, zustande.Beide Fotorezeptorarten gehören zu den sekundären Sinneszellen und geben ihre Lichtinformation als chemische Botschaft an die nachgeschalteten Nervenzellen, den Bipolarzellen, weiter.
  3. Bipolarzellschicht: In dieser Schicht befinden sich Bipolarzellen und Müller-Gliazellen.
    • Bipolarzellen: Sie dienen der ersten Verarbeitung der Lichtinformationen. Mit ihren Dendriten, die zum synaptischen Ende der Sinneszellen gerichtet sind, nehmen sie die chemisch codierte Lichtinformation auf. Nach einer ersten Verschaltung und Verrechnung werden die Informationen durch Veränderung des Membranpotentials an die nächste Schicht weitergegeben.
    • Müller-Zellen: Diese Gliazellen sorgen für die richtige Nährstoffversorgung sowie Elektrolythomöostase der Retina und können die Bipolarzellen durch Botenstoffe beeinflussen.
  4. Ganglienzellschicht: Die Ganglienzellen liegen auf der „Vorderseite“ der Retina und bilden den Abschluss der Retina. Diese Zellen erzeugen Aktionspotentiale, und ihre Axone bilden gemeinsam den Sehnerv zum Tectum opticum des Gehirns. Die vorausgegangenen Zellschichten haben die Informationen des Sehfeldes verarbeitet.

Nervenverschaltung in der Retina

Zusätzlich zu den genannten Zellschichten gibt es Zellen der Querverarbeitung:

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  • Amakrinzellen: Diese Zellen stellen lokale Verknüpfungen zwischen Ganglienzellen und Bipolarzellen her und passen die Empfindlichkeit des Auges an die Helligkeit bzw. Dunkelheit an.
  • Horizontalzellen: Sie bilden Synapsen zu benachbarten Fotorezeptoren.

Vom Auge zum Gehirn: Der Sehnerv und seine Verbindungen

Die Axone der Ganglienzellen bilden den Sehnerv (Nervus opticus), der die visuellen Informationen zum Gehirn leitet. Der Sehnerv verlässt das Auge an einer Stelle, die als blinder Fleck bekannt ist, da dort keine Fotorezeptoren vorhanden sind. Die Fasern des Sehnervs kreuzen sich teilweise im Chiasma opticum, bevor sie in verschiedene Hirnareale ziehen.

Subkortikale Strukturen: Der Nucleus Geniculatus Lateralis (NGL)

Der Nucleus Geniculatus Lateralis (seitlicher Kniehöcker) im Thalamus ist eine der wichtigsten subkortikalen Schaltstationen zwischen Retina und Kortex. Er erhält Eingangssignale von beiden Augen, wobei jede Schicht des NGL Informationen von einem Auge empfängt. Die Neurone im NGL sind nach ihrer Größe in parvozelluläre (kleine) und magnozelluläre (große) Neurone unterteilt, die unterschiedliche Aspekte der visuellen Information verarbeiten. Parvozelluläre Neurone sind empfindlich für Farben und feine Details, während magnozelluläre Neurone auf Bewegung und Kontrast reagieren.

Der Visuelle Kortex: Verarbeitung visueller Informationen im Gehirn

Der visuelle Kortex, der sich im Okzipitallappen des Gehirns befindet, ist für die Verarbeitung visueller Informationen zuständig. Er besteht aus verschiedenen Arealen, die jeweils spezialisierte Funktionen haben.

V1: Die primäre Sehrinde

Die primäre Sehrinde (V1) ist das erste kortikale Areal, das visuelle Informationen vom NGL erhält. Die eingehenden Informationen von der Retina bis zur primären Sehrinde, V1, sind relativ groß. V1 ist retinotopisch organisiert, was bedeutet, dass benachbarte Punkte auf der Retina in benachbarten Bereichen von V1 repräsentiert werden. Allerdings ist die Repräsentation nicht maßstabsgetreu: Der zentrale Bereich des Gesichtsfelds, der auf der Fovea centralis abgebildet wird, nimmt circa 2 Grad des Gesichtsfelds ein, wird aber überproportional groß im visuellen Kortex repräsentiert, da hier die Dichte der Photorezeptoren am größten ist. Dies ermöglicht eine detaillierte Verarbeitung der Informationen aus dem zentralen Gesichtsfeld, die zum Beispiel zum Lesen nötig ist.

Neurone in V1 sind selektiv für bestimmte Reizeigenschaften, wie z. B. die Orientierung von Linien, die Bewegungsrichtung und die Farbe. Hubel und Wiesel zeigten, dass viele Neurone in V1 maximal auf Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung antworten. Diese Neurone sind in Säulen organisiert, wobei alle Neurone innerhalb einer Säule dieselbe Reizorientierung bevorzugen. Es gibt 3 Neuronentypen:

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  1. Einfache Zellen: Sie antworten am stärksten, wenn ein Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung in einer bestimmten Zone der Zelle dargeboten wird.
  2. Komplexe Zellen: Sie antworten auf einen Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung, unabhängig davon, wo sich der Reiz innerhalb des rezeptiven Feldes befindet.
  3. Hyperkomplexe Zellen: Sie antworten nur dann, wenn ein Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung und Länge in einer bestimmten Zone des rezeptiven Feldes bewegt wird.

Zusätzlich zur Orientierungsempfindlichkeit wurden in V1 auch sogenannte Augendominanzsäulen festgestellt. Diese Säulen sind nach dem Auge organisiert, von dem sie hauptsächlich ihre Eingangssignale erhalten.

Innerhalb der Orientierungs- und Augendominanzsäulen gibt es spezielle Zellen, die als "Blobs" bezeichnet werden. Diese Zellen sind selektiv für Farben und spielen eine wichtige Rolle bei der Farbverarbeitung. Außerhalb der "Blobs" in den sogenannten "Interblobs" bzw. "blassen Streifen" sind Forminformationen konzentriert.

Höhere visuelle Areale: V2, V3, V4 und V5/MT

Von V1 aus werden die visuellen Informationen an höhere visuelle Areale weitergeleitet, die komplexere Aspekte der visuellen Wahrnehmung verarbeiten.

  • V2: Dieses Areal erhält Informationen von V1 und ist an der Verarbeitung von komplexen Formen und Mustern beteiligt.
  • V3: V3 ist an der Verarbeitung von dynamischer Form beteiligt.
  • V4: V4 ist selektiv auf Reize verschiedener Wellenlänge und Farbe und spielt eine wichtige Rolle bei der Farbanalyse, wie z. B. Farbkonstanzbewertungen.
  • V5/MT: Dieses Areal ist spezialisiert auf die Verarbeitung von Bewegung und räumlicher Wahrnehmung.

Es gibt zwei Hauptverarbeitungsströme, die sich von den visuellen Arealen im Okzipitallappen aus erstrecken:

  • Der ventrale Pfad ("Was-Pfad"): Dieser Pfad zieht in den Temporallappen und ist an der Erkennung von Objekten beteiligt. Neurone in diesem Pfad antworten selektiv auf bestimmte Objektkategorien, wie z. B. Hände oder Gesichter.
  • Der dorsale Pfad ("Wo-Pfad" oder "Wie-Pfad"): Dieser Pfad zieht in den Parietallappen und ist an der Verarbeitung von räumlicher Information und der Steuerung von Handlungen beteiligt.

Aufmerksamkeit und visuelle Wahrnehmung

Aufmerksamkeit spielt eine entscheidende Rolle bei der visuellen Wahrnehmung. Sie ermöglicht es uns, relevante Informationen aus der Fülle visueller Reize auszuwählen und zu verarbeiten. Studien haben gezeigt, dass Aufmerksamkeit die Aktivität von Neuronen in den extrastriaten visuellen Arealen verstärken kann. Andererseits können wir Objekteigenschaften überhaupt nicht bemerken ("attentional blindness"), wenn unsere Aufmerksamkeit nicht auf sie gerichtet ist.

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Visuelle Vorstellungskraft

Visuelle Vorstellungskraft ermöglicht es uns, uns Objekte, Szenen oder Ereignisse vorzustellen und mit Hilfe eines "geistigen Auges" zu betrachten. Studien haben gezeigt, dass die gleichen visuellen Hirnareale, die für die normale visuelle Wahrnehmung genutzt werden, auch bei bildhafter Vorstellung aktiv sind.

Plastizität des Gehirns und visuelle Wahrnehmung

Das Gehirn ist ein dynamisches Organ, das sich ständig an neue Erfahrungen anpasst. Diese Plastizität ermöglicht es dem Gehirn, Schäden zu kompensieren und neue Fähigkeiten zu erlernen. So können beispielsweise benachbarte Hirnregionen nach einem Schlaganfall die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen.

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