Multiple Sklerose (MS), auch Encephalomyelitis disseminata (ED) genannt, ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Dabei greift das körpereigene Immunsystem Nervenstrukturen an, was zu vielfältigen Symptomen führt. Die Erkrankung beginnt meist im frühen Erwachsenenalter, wobei Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Männer. MS verläuft sehr unterschiedlich, oft in Schüben, was ihr den Namen "Krankheit der 1000 Gesichter" eingebracht hat.
Was passiert bei Multipler Sklerose im Körper?
Bei MS kommt es zu einer Beschädigung der Myelinscheiden, die die Nervenfasern umhüllen und für eine schnelle Weiterleitung elektrischer Signale sorgen. Sind diese Nervenscheiden beschädigt, liegen die Nervenfasern teilweise frei, was die Signalübertragung stört oder verlangsamt. Das Immunsystem, das normalerweise Krankheitserreger abwehrt, greift fälschlicherweise die Myelinscheiden an, was zu Entzündungen in verschiedenen Bereichen des ZNS führt. An diesem Immunangriff sind verschiedene weiße Blutkörperchen beteiligt, darunter Fresszellen (Makrophagen), T-Lymphozyten und B-Lymphozyten. Letztere produzieren Antikörper, die sich an die Nervenzellhüllen setzen und diese für weitere Immunzellen "zum Abschuss freigeben".
Ursachen und Risikofaktoren der Multiplen Sklerose
Die genauen Ursachen für die Entstehung von MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren eine Rolle spielt.
Genetische Veranlagung
Die genetische Veranlagung spielt eine wichtige, aber nicht alleinige Rolle. Es gibt nicht "das eine" MS-Gen, sondern eine Vielzahl von Genen, die in Kombination das Risiko erhöhen können, an MS zu erkranken. Eine familiäre Häufung der Erkrankung erhöht das Risiko, selbst daran zu erkranken. Bestimmte genetische Marker, wie HLA-DRB1, sind mit einer erhöhten Anfälligkeit für MS verbunden. Es handelt sich aber nicht um eine klassische Erbkrankheit, da äußere Faktoren für das Erkrankungsrisiko bedeutender sind.
Umweltfaktoren und Infektionen
Umweltfaktoren, wie der Wohnort und bestimmte Infektionen, insbesondere mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), stehen in engem Zusammenhang mit MS. Studien haben gezeigt, dass Menschen, die in höheren Breitengraden leben, ein erhöhtes Risiko haben, an MS zu erkranken, möglicherweise aufgrund geringerer Sonnenlichtexposition und damit verbundenem Vitamin-D-Mangel. Virale Infektionen gelten als mögliche Trigger für MS. Insbesondere das Epstein-Barr-Virus (EBV) wird als potenzieller Auslöser der Krankheit diskutiert. Menschen mit Multipler Sklerose sind nahezu zu 100% EBV-positiv. Die genauen Zusammenhänge zwischen EBV und MS sind aber noch ungeklärt. Ein neuer Nachweistest, der zwischen den zwei verschiedenen Typen des humanen Herpesvirus 6 (HHV-6) unterscheidet, gibt Hinweise darauf, dass die Virus-Ätiologie von MS korrekt sein könnte. Auch Masern und das humane Herpesvirus 6, das beispielsweise das Drei-Tage-Fieber auslöst, werden diskutiert.
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Vitamin-D-Mangel und Ernährung
Vitamin D spielt eine entscheidende Rolle im Immunsystem und wird als Schutzfaktor gegen Multiple Sklerose angesehen. Ein Mangel an diesem "Sonnenvitamin" kann das Risiko für MS erhöhen. Auch die Ernährung kann zur Krankheitsentstehung beitragen: Ein unausgewogener Speiseplan mit hohem Anteil an verarbeiteten Lebensmitteln und Zucker kann Entzündungen fördern und das Risiko für MS steigern.
Geschlecht
Frauen erkranken etwa doppelt so häufig an MS wie Männer. Das Geschlecht scheint also auch eine Rolle zu spielen. Grund scheint ein Eiweißmolekül im Gehirn zu sein, das beim weiblichen Geschlecht deutlich häufiger vorkommt.
Rauchen
Rauchen ist ein nachgewiesener MS-Risikofaktor. Studien belegen, dass Raucher ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Ausschlaggebend sind hier maßgeblich die Dauer und das Ausmaß des Nikotinkonsums. Wer raucht, riskiert einen schnelleren und stärkeren Verlauf einer Multiplen Sklerose. Mit dem Rauchen aufzuhören, lohnt sich in jedem Fall und verlangsamt das Fortschreiten der Krankheit.
Übergewicht
Studien zeigen, dass Übergewicht im Kindes- und Jugendalter wie auch im jungen Erwachsenenalter das MS-Risiko erhöht.
Weitere Risikofaktoren
- Belastende Lebensereignisse: Wissenschaftler*innen haben im Rahmen der NAKO Gesundheitsstudie potenzielle Risikofaktoren für Multiple Sklerose (MS) im Kindes- und Jugendalter untersucht. Ihre Analyse zeigt, dass bestimmte Faktoren mit einem erhöhten MS-Risiko im Zusammenhang stehen können. Dazu gehören schwere belastende Lebensereignisse.
- Hormonelle Schwankungen: MS kann durch hormonelle Schwankungen verstärkt werden. Der Erkrankungsverlauf wird etwa durch ein Ungleichgewicht der Geschlechtshormone Östrogen und Testosteron negativ beeinflusst.
- Stress: Untersuchungen haben ergeben, dass körperlicher und psychischer Stress zwar nicht als Auslöser für Multiple Sklerose infrage kommt. Allerdings scheint Stress den Krankheitsverlauf zu verschlimmern und die Beschwerden während akuter Schübe zu verstärken.
- Luftverschmutzung: Schadstoffe wie Stickoxide, Schwefeloxide und Mikrofeinstaub stehen im Verdacht, Multiple Sklerose zu begünstigen beziehungsweise zu verschlimmern.
- Individuelle Darmflora: Die individuelle Darmflora kann ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung von MS spielen.
Multiple Sklerose im Jugendalter: Besondere Risikofaktoren
Im Jugendalter gibt es spezifische Risikofaktoren, die berücksichtigt werden sollten. Stress, hormonelle Veränderungen und ein geschwächtes Immunsystem während der Pubertät können das Auftreten von MS begünstigen.
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Wie äußert sich Multiple Sklerose? Symptome, Verlauf und Diagnose
Multiple Sklerose tritt häufig unvermittelt und unerwartet auf, vorwiegend im jungen Erwachsenenalter. Oftmals ist zunächst nur ein einzelnes Symptom vorhanden, bei manchen Patienten sind es jedoch sofort mehrere. Beschwerdebild und Verlauf der Krankheit können dabei ganz unterschiedlich ausfallen.
Häufige Symptome der Multiplen Sklerose
- Sehstörungen (z.B. mit Verschwommen- oder Nebelsehen, Sehausfall, Doppelbilder, eingeschränktes Farbensehen, Schmerzen bei Augenbewegung)
- Krämpfe, Muskelzuckungen, Schwerfälligkeit, spastische Lähmungserscheinungen, die vor allem die Beine betreffen, teils auch die Hände
- Müdigkeit, allgemeine Mattigkeit oder Konzentrationsstörungen ("Fatigue")
- Gefühlsstörungen der Haut (z.B. Kribbeln, Taubheitsgefühl)
- Unsicherheiten beim Gehen, Störungen der Bewegungskoordination
- Lähmungen oder Störungen beim Entleeren von Darm oder Blase
Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
Man unterscheidet drei Hauptformen der MS:
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Meist verläuft die Erkrankung in Schüben, also Phasen mit Symptomen, die sich dann wieder zurückbilden. Das ist die sogenannte schubförmig remittierende MS. Bei 85 Prozent der Menschen mit MS beginnt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter mit einem schubförmig remittierenden Verlauf.
- Primär-progrediente MS (PPMS): Bei rund 10 % der Patienten schreitet MS von Beginn an unaufhaltsam fort - auch primär progrediente MS genannt. Dies ist die schwerste Verlaufsform der Krankheit. Die Patient*innen sind im Durchschnitt etwas älter als die mit RRMS. Die PPMS kommt bei Männern häufiger vor als die RRMS.
- Sekundär-progrediente MS (SPMS): Diese entwickelt sich aus der schubförmigen MS, wenn sich die Symptome nach einem Schub kaum noch oder gar nicht mehr zurückbilden. Etwa jeder dritte MS-Patientin in Deutschland befindet sich im Stadium der sekundär progredienten Multiplen Sklerose oder im Übergang zur SPMS.
Es gibt noch weitere Formen wie das Klinisch isolierte Syndrom (KIS) und Radiologisch isoliertes Syndrom (RIS).
Diagnose der Multiplen Sklerose
Da die Symptome der MS vielfältig sind und auch bei anderen Erkrankungen auftreten können, ist die Diagnose oft schwierig. Es gibt keinen einzelnen Test, der MS eindeutig beweist. Die Diagnose wird in der Regel durch eine Kombination verschiedener Untersuchungen gestellt:
- Magnetresonanztomographie (MRT) von Gehirn und Rückenmark: Hierbei werden typische Entzündungsherde (Läsionen) sichtbar gemacht. Entscheidend für die Abgrenzung zu anderen möglichen Krankheiten sind unter anderem deren Form, Lokalisation und räumliche Ausbreitung (räumliche Dissemination). Ein weiteres diagnostisches Kriterium ist die zeitliche Ausdehnung (zeitliche Dissemination) der Läsionen, d. h. deren unterschiedliches Alter.
- Untersuchung des Nervenwassers (Liquor): Hier können Hinweise für eine Entzündung gefunden werden, wie z.B. Entzündungszellen oder oligoklonale Banden (OKB).
- Blutuntersuchungen: Dienen in erster Linie dazu, andere Krankheiten auszuschließen, die ähnliche Symptome wie MS verursachen können.
- Neurophysiologische Messungen (Evozierte Potentiale): Hierbei wird die Funktion von Nervenbahnen gemessen. Bei MS ist die Funktion oft gestört, wodurch Nervenimpulse langsamer weitergeleitet werden.
Behandlung von Multipler Sklerose: Therapiemöglichkeiten und Medikamente
Multiple Sklerose ist nicht heilbar, aber der Verlauf der Erkrankung kann durch moderne Behandlungsmöglichkeiten oft lange herausgezögert und verbessert werden. Die Therapie stützt sich dabei auf mehrere Säulen:
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- Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, damit Beschwerden sich schnell zurückbilden (u.a. mit Cortison-Präparaten).
- Verlaufsmodifizierende Therapie (= Basistherapie): Reduktion der Schwere und Häufigkeit der Schübe, um die beschwerdefreie oder -arme Zeit zu verlängern. Hier stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung, die in Tablettenform oder als Injektion verabreicht werden. Zu den schon am längsten verfügbaren Basistherapeutika zählen die Betainterferon-Präparate und das synthetische Peptidgemisch Glatirameracetat. Schon seit 2011 kamen aber auch Basistherapeutika in Tablettenform heraus, mit den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin. Leiden Patienten trotzdem an einer hohen Schubrate, kann auch ein Antikörperpräparat oder ein Chemotherapeutikum (zur Schub- oder Dauerbehandlung) eingesetzt werden, was jedoch mit höheren Risiken für die Patienten durch belastende, in Einzelfällen auch schweren Nebenwirkungen verbunden sein kann. Drei Antikörperpräparate (Natalizumab, Ocrelizumab und Ofatumumab) werden in Dauertherapie eingesetzt, für ein weiteres (Alemtuzumab) genügen zwei kurze Behandlungsphasen für eine langanhaltende Wirkung.
- Symptomatische Therapie: Linderung von MS-Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen (z.B. Physiotherapie, Neuropsychologisches Training, Psychotherapie).
Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) gibt es seit 2018 ein zugelassenes Basis-Medikament (Ocrelizumab), das die Krankheitsaktivität dämpfen kann.
Medikamente in Erprobung oder Zulassungsverfahren
Ein wichtiger Schwerpunkt der klinischen Forschung liegt 2024 wie auch in den vergangenen Jahren auf der Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen. Durch Immunmodulatoren kann die Immunantwort im Körper beeinflusst und neu ausgerichtet werden.
Beispiele für Wirkstoffe in der Entwicklung:
- Siponimod (BAF-312): Verhindert Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten. Mayzent ist in der EU seit 01/2020 gegen sekundär progrediente MS zugelassen.
- Ozanimod: Verhindert als S1P1- und S1P5-Rezeptorantagonist die Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten. OCREVUS ist in der EU seit 05/2020 gegen schubförmige MS zugelassen.
- Ponesimod: Verhindert Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten. In klinischer Erprobung, Phase III.
- Immunoglobulin Octagam: In klinischer Erprobung.
Was können Betroffene selbst tun?
Neben der medikamentösen Therapie können Betroffene durch einen gesunden Lebensstil den Verlauf der MS positiv beeinflussen:
- Regelmäßige körperliche Aktivität: Kraft- und Ausdauertraining helfen, die Muskelkraft und Balance zu verbessern.
- Gesunde Ernährung: Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen hat positive Effekte.
- Nicht rauchen: Rauchen ist ein Risikofaktor und sollte vermieden werden.
- Vitamin-D-Spiegel optimieren: Durch ausreichend Sonnenlichtexposition oder Supplementierung.
- Stress vermeiden: Techniken zur Stressbewältigung können helfen, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.
Leben mit Multipler Sklerose
Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung, die das Leben der Betroffenen stark beeinflussen kann. Dennoch ist es dank moderner Medikamente und eines besseren Verständnisses der Krankheit gut behandelbar. Viele Betroffene können ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen und lange Zeit mobil bleiben. Es ist wichtig, sich frühzeitig mit der Erkrankung auseinanderzusetzen, sich gut zu informieren und sich von einem erfahrenen Ärzteteam betreuen zu lassen. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann sehr hilfreich sein.
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