Schlucken ist ein lebensnotwendiger, komplexer Vorgang, der oft unbewusst abläuft. Er ermöglicht es uns, Nahrung und Flüssigkeiten aufzunehmen, während gleichzeitig die Atemwege geschützt werden. Eine Störung dieses Prozesses, bekannt als Dysphagie oder Schluckstörung, kann erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität haben. Besonders häufig tritt sie nach einem Schlaganfall auf. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Schluckstörung nach einem Schlaganfall und die verfügbaren Therapieansätze.
Der komplexe Schluckvorgang
Von Geburt an ist das Schlucken ein komplexer Vorgang, bei dem sich bewusste und unbewusste Abläufe vermischen. Der Körper muss unterscheiden, ob die Nahrung flüssig oder fest ist. Dementsprechend muss sich die Schluckmuskulatur reflektorisch so einstellen, dass man einerseits die Nahrung wortwörtlich runterschlucken und zum Magen bewegen kann, andererseits aber den Atemweg schützt und das Atmen weiterhin möglich ist.
Dr. med. univ. Ilia Aroyo, Oberarzt der Klinik für Neurologie und Neurointensivmedizin und Koordinator von dem interdisziplinären Dysphagie-Zentrum in Darmstadt (DYSCENDA), beschreibt den Schluckvorgang in seinen Phasen: „Der Schluckvorgang unterscheidet sich in eine Vorbereitungsphase, in der das Essen zuerst im Mund durch die Zähne und Zunge zerkleinert und durch den Speichel breiig gemacht wird. Danach kommt die Transportphase, dabei wird durch Bewegungen der Zunge und auch Zusammenziehen der Halsmuskeln die Nahrung zur Speiseröhre bewegt, die dann durch wellenförmige Bewegungen diese in den Magen transportiert.“
Jeder Mensch schluckt etwa 1500 bis 2000 Mal am Tag und „verschluckt“ dabei bis zu anderthalb Liter Speichel. Der Schluckvorgang ist hochkomplex: Es sind die Hirnrinde als zentrale Steuerung und mindestens fünf Hirnnervenpaare als direkte Impulsgeber der dann mehr als 50 Muskelpaare beteiligt, die dafür sorgen, dass wir nicht einmal daran denken müssen, wenn wir schlucken. Dazu kommen die unwillkürliche Aktivierung der Speiseröhre und aller Organsysteme des Verdauungstrakts.
Die einzelnen Phasen des Schluckens sind:
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- Orale Phase (Mund): Die Speise wird durch Kauen und Sammeln zerkleinert und zu einem Speisebolus geformt. Am Ende dieser Phase befördert die Zunge den Bolus durch eine Aufwärts-Rückwärtsbewegung in Richtung Rachen.
- Pharyngeale Phase (Rachen): Während des Bolustransportes durch den Rachen wird die Luftröhre durch verschiedene Mechanismen verschlossen: die Stimmlippen schließen sich, der Kehldeckel senkt sich ab und verschließt den Luftröhreneingang, und der Kehlkopf bewegt sich nach oben unter den Kehldeckel. So wird ein Eindringen von Speise oder Flüssigkeiten in die Luftröhre verhindert. Gleichzeitig wird der Bolus durch Bewegungen der Pharynxwände, die Zungenschubkraft und die Schwerkrafteinwirkung zum oberen Schließmuskel der Speiseröhre befördert. Die Dauer dieser Phase ist sehr kurz.
- Ösophageale Phase (Speiseröhre): Der obere Schließmuskel der Speiseröhre öffnet sich zeitgerecht für den Eintritt des Bolus, womit die letzte Schluckphase beginnt. Der Speisebolus wird nun durch peristaltische Bewegungen der Speiseröhre in den Magen transportiert.
Ursachen und Folgen von Dysphagie
Leider ist es aber nicht immer so, denn bei Millionen Menschen (geschätzt werden sieben bis zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland) ist der Schluckvorgang gestört: Sie leiden unter einer Dysphagie. Dafür gibt es viele - vor allem neurologische - Gründe. Bei 80 Prozent der Patient*innen mit einem akuten Schlaganfall kann es zu einer Schluckstörung kommen, bei einem Viertel davon bleibt sie für immer bestehen. Aber nicht nur der Schlaganfall, auch viele andere neurologische Erkrankungen, wie die Parkinson-Krankheit, die Multiple Sklerose, die Epilepsie, die Demenz und auch Muskelerkrankungen können eine Schluckstörung verursachen.
Hinzu kommen viele weitere Ursachen wie Tumore im vom Mund- und Rachenraum aber auch nach Traumata, Erkrankungen der Speiseröhre oder des gastro-intestinalen Trakts, Entzündungen, anatomische Fehlbildungen und viele Erkrankungen mehr.
Die motorischen und sensorischen Mechanismen des Schluckablaufs werden durch verschiedene Zentren des Gehirns gesteuert. Durch einen Schlaganfall kann es zu Schädigungen der Hirnareale oder der Hirnnerven kommen, die die komplexen Bewegungsabläufe der Schluckphasen ermöglichen. Störungen in einer oder in mehreren Schluckphasen sind die Folge, und es kommt zu Aspirationen (Eindringen von Speichel oder Bolusteilen in die Luftröhre), die schwere Lungenentzündungen (Aspirationspneumonien) zur Folge haben können. Eine Aspiration ist häufig an einer heftigen Hustenreaktion erkennbar: ein Schutzreflex der ausgelöst wird, wenn Fremdkörper in die Luftröhre gelangen. Vor allem bei neurologischen Schluckstörungen nach Schlaganfall kann dieser Reflex jedoch ebenfalls abgeschwächt oder aufgehoben sein, so dass es zu so genannten "Stillen Aspirationen" kommt. Diese sind in der Regel nur durch eine Fachtherapeutin oder im Rahmen einer bildgebenden Untersuchung erkennbar.
Der Verlust an Lebensqualität ist enorm. Es kommt oft nicht nur zu Lungenentzündungen, sondern auch zu einer Mangelernährung, welche viele andere gesundheitliche Risiken birgt. Langfristige Folgen einer Dysphagie können neben den z. T. gefährlichen Lungenentzündungen eine fortschreitende Mangelernährung und Dehydrierung sein.
Diagnostik von Schluckstörungen
Eine Diagnostik bezüglich des Vorliegens einer Dysphagie sollte bereits sehr früh nach Auftreten eines Schlaganfalls erfolgen. Die Diagnostik muss durch einen speziell geschulten Schlucktherapeuten durchgeführt werden. Sie umfasst eine detaillierte Beurteilung der motorischen und sensorischen Funktionen in den Schluckphasen sowie, wenn indiziert, einen Schluckversuch mit verschiedenen Nahrungskonsistenzen und eine abschließende vorläufige Ernährungsempfehlung. Ergänzend zu dieser klinisch-therapeutischen Untersuchung können bildgebende Verfahren eingesetzt werden, um die Aspirationsgefahr und -menge zu beurteilen.
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Zur Abklärung der Dysphagie stehen modernste Verfahren zur Verfügung. „Bei uns werden Schluckstörungen routinemäßig diagnostiziert und behandelt. Komplettierend zur klinischen Diagnostik erfolgt auch die apparative Abklärung durch Verfahren wie die fiberendoskopische Untersuchung des Schluckaktes (FEES), die Videofluoroskopie (VFSS) oder gebräuchlich „Breischluck“ genannt, die Gastroskopie, High-Definition-Manometrie und andere. Dabei werden die Beschwerden der Patienten interdisziplinär aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, mit dem Ziel eine adäquate Diagnostik und eine spezifische und patientenorientierte Behandlung zu ermöglichen“, erklärt Dr. Ilia Aroyo.
Therapieansätze bei Dysphagie
Hauptziel der Therapie bei Dysphagien ist die möglichst weitgehende Wiedererlangung der Fähigkeit zur oralen Nahrungsaufnahme und die Reduzierung des Aspirationsrisikos.
„Die Therapien sind auf das Vermeiden von Lungenentzündungen durch Verschlucken gerichtet sowie rehabilitativ auf die Wiederherstellung der Schluckfähigkeit und Verbesserung der Ernährung des betroffenen Patienten. Aber es kommen immer mehr auch apparative Therapien, wie zum Beispiel die pharyngeale elektrische Stimulation (PES) oder die neuromuskuläre, elektrische Stimulation zum Trainieren der am Schluckvorgang beteiligten Muskeln zum Einsatz. Schluckstörungen deren Ursache Raumforderungen, Entzündungen oder anatomische Fehlbildungen sind, werden von den entsprechenden Fachspezialisten betreut. Es ist wichtig, eine Dysphagie frühzeitig zu erkennen und angemessen zu behandeln, um Komplikationen wie Mangelernährung, Austrocknung und Aspirationspneumonie (Lungenentzündung durch Verschlucken) zu vermeiden.
Die Behandlung einer Dysphagie umfasst sowohl die medizinische Therapie der zugrunde liegenden Grunderkrankung als auch verschiedene Ansätze der Sprech- und Schlucktherapie (Logopädie), insbesondere bei neurologisch bedingten Schluckstörungen.
Das Hauptziel dieser Therapie besteht darin, ein sicheres Schlucken wiederherzustellen, um eine ausreichende Nahrungsaufnahme zu ermöglichen und die Atemwege zu schützen. Dazu gehören Übungen zur Verbesserung der Sensibilisierung von Würg-, Schluck- und Hustenreflexen sowie motorische Schulungen zur Körperhaltung, Körperspannung und Kopfposition während des Schluckens.
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Es gibt verschiedenste Schluckstörungen mit den unterschiedlichsten Ursachen. Den Schwerpunkt der Rehabilitation bildet die Schlucktherapie. Diese ist individuell auf den Patienten zugeschnitten und wird von einem erfahrenen logopädischen Behandlungsteam durchgeführt. In der Schlucktherapie gibt es drei Arten von Verfahren:
- Kausale Verfahren: Sie verfolgen das Ziel, gestörte Funktionen teilweise oder vollständig wiederherzustellen. Sie umfassen ein sensomotorisches Training der am Schlucken beteiligten Bewegungsabläufe. Schluckrelevante Bewegungen werden, falls nötig, zunächst stimuliert und dann aktiv trainiert. Ziel ist es, die Voraussetzungen für normales Schlucken zu schaffen.
- Kompensatorische Verfahren: Ziel ist es, trotz bestehender Funktionseinbußen das Schlucken zu verbessern. Dazu wird der Schluckvorgang durch Haltungsänderungen oder bestimmte Schlucktechniken verändert.
- Adaptive Verfahren: Hierunter versteht man die Anpassung der Nahrungsaufnahme an die individuelle Störung. Bei der individuell angepassten Dysphagie-Kost kommt es auf die richtige Konsistenz (flüssig, breiig, fest) und Menge der aufgenommenen Nahrung oder Flüssigkeit an - je nach Art der Störung. Eine Begleitung beim Essen oder der Einsatz spezieller Ess- und Trinkhilfen kann dabei helfen, sich trotz Dysphagie sicher und selbstständig zu ernähren.
Weitere Therapieansätze:
- Pharyngeale Elektrostimulation (PES): Sie kommt für manche Patienten mit schwerer Schluckstörung, meist auch mit Trachealkanülenversorgung, vor allem nach Schlaganfall in den Großhirn-Hemisphären oder Schädel-Hirn-Trauma in Betracht. Mit einem speziellen Katheter, ähnlich einer Ernährungssonde, werden Nervenbahnen im Schlund an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen elektrisch gereizt. Die dadurch verursachte Umorganisation in den Schluckzentren der Hirnrinde kann zu einer Verbesserung der Schluckfrequenz und auch zur rascheren Entwöhnung von der Trachealkanüle führen.
Anpassung der Ernährung
Spezielle Kostformen können die Nahrungsaufnahme erleichtern und das Risiko des Verschluckens reduzieren. Bei Vorliegen einer Schluckstörung ist es wichtig, trockene, körnige, faserige oder klebrige Produkte zu vermeiden. Logopädinnen und Logopäden können bei der Auswahl der geeigneten Kostform helfen. Nicht jeder Dysphagiepatient wird nach einer Therapie wieder vollständig normale Kost essen können. Die Veränderung der Kostform bei der oralen Ernährung oder auch die teilweise oder vollständige Ernährung mittels einer Magensonde (PEG) kann bei mittelgradigen bis schweren Dysphagien auch langfristig notwendig sein.
Tracheotomie
Ebenso kann es bei schwersten Dysphagien, die zu einer dauerhaften Aspiration von Speichel führen, notwendig sein, ein Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) durchzuführen und den Patienten mit einer geblockten Trachealkanüle zu versorgen, um die tieferen Atemwege vor dem aspirierten Speichel und Sekret zu schützen. In diesem Fall ist das Ziel der Dysphagietherapie zunächst nicht im Erreichen der oralen Nahrungsaufnahme zu sehen, sondern in der Anbahnung und Sicherung der Schluckfunktion und dem Entwöhnen von der Trachealkanüle. Erst nach der Dekanülierung kann ggf.
Wichtige Verhaltensweisen im Alltag
Eine konsequente Mundhygiene und gute Mundgesundheit sind ebenfalls wichtig. Bei einer Dysphagie muss der Betroffene und seine Angehörigen viele Gewohnheiten umstellen. Es muss auf die Art der Nahrung genau geachtete werden und der Patient muss sich stark auf das Schlucken konzentrieren. In welcher Weise die Nahrungsaufnahme verändert werden muss, ist abhängig von der Schwere der Symptomatik. In der Therapie werden der Betroffene, die Angehörigen und weitere beteiligte Personen gezielt beraten und unterstützt.
- Sprechen Sie während des Essens nicht übermäßig, fangen Sie nicht an zu plaudern.
- Klopfen Sie beim Verschlucken/Husten nicht auf den Rücken. Lassen Sie auch nicht die Arme hoch nehmen.
- Hören Sie nach dem Essen auf die Stimme des Betroffenen - wenn sie sich gurgelnd und belegt anhört, animieren Sie den Patienten noch einmal kräftig zu husten und zu schlucken.
- Lassen Sie den Patienten nach dem eigentlichen Schlucken noch mehrmals „leer“ nachschlucken, sprich Speichel schlucken.
- Husten Sie nach dem Essen mehrmals und schlucken Sie mehrmals leer nach.
- Mundpflege ist nach jedem Essen wichtig!
- Hören Sie nach dem Essen auf Ihre Stimme - wenn sie sich gurgelnd und belegt anhört, husten Sie kräftig und schlucken Sie noch mehrmals kräftig nach.
- Achten Sie auf eine aufrechte, leicht nach vorne gebeugte Haltung bei der Nahrungsaufnahme.
- Üben Sie das kräftige Husten, um im Notfall richtig reagieren zu können.
Was Sie vermeiden sollten:
- Als Angehörige/Helfer niemals auf den Rücken klopfen und nicht die Arme des Patienten hochheben!
Weitere Aspekte von Schluckstörungen
Dysphagie im Alter
Durch altersbedingte Abbauprozesse kommt es zu einer Verminderung der Muskelkraft und Muskelspannung, auch die Wahrnehmung im Mundraum verschlechtert sich. Die Weiterleitung der Nahrung wird hierdurch verlangsamt, es bleiben häufiger Nahrungsreste in der Mundhöhle, im Rachen- und Kehlkopfbereich zurück. Die Speichelproduktion geht häufig zurück und der Schluckreflex wird häufig verzögert ausgelöst.
Fütterstörungen bei Kindern
Im Säuglings- und Kleinkindalter kann es durch Schwierigkeiten beim Saugen und Schlucken zu sogenannten Fütterstörungen kommen. Es kann hierbei in seltenen Fällen zur völligen Nahrungsverweigerung kommen.
Myofunktionelle Störungen
Bei der myofunktionellen Störung handelt es sich um eine Störung der am Schlucken beteiligten Muskulatur und eine Störung der Koordination der Schluckmuskulatur. Diese Muskelspannung ist häufig verringert (hypoton), aber auch manchmal stark verspannt (= hyperton). Durch diese veränderte Muskelspannung, kommt es zu Fehlhaltungen der Zunge. Diese stößt dann während des Schluckens häufig an die Zähne oder rutscht zwischen die Zähne. Auch in Ruhe liegt sie dann häufig zwischen oder an den Zähnen. Meist besteht noch zusätzlich ein Lispeln und/oder eine Fehlbildung von
Der interdisziplinäre Ansatz
Die Zusammenarbeit und der fachliche Austausch mit Ärzten, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Psychologen ist ein notwendiger und wichtiger Bestandteil der Therapie. Die exakte Diagnose und Verlaufskontrolle sind nur im phoniatrisch-radiologisch-logopädischen Team möglich.
Fazit
Schluckstörungen nach einem Schlaganfall sind eine ernstzunehmende Komplikation, die jedoch mit gezielten Therapien und Anpassungen erfolgreich behandelt werden kann. Eine frühzeitige Diagnose und ein interdisziplinärer Therapieansatz sind entscheidend, um die Schluckfähigkeit wiederherzustellen, Komplikationen zu vermeiden und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Es ist wichtig, bei Verdacht auf eine Dysphagie umgehend einen Arzt oder Logopäden zu konsultieren.
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