Schnelligkeit ist im Sport oft der entscheidende Faktor, der über Sieg oder Niederlage entscheidet. Jeder Sportler möchte schneller werden, aber Schnelligkeitstraining ist im Vergleich zu Ausdauer- und Krafttraining intensiver, komplexer und birgt ein höheres Verletzungsrisiko. Die Anpassung dauert oft länger. Der neuroathletische Ansatz rückt das Gehirn in den Fokus, denn nur wenn es eine Situation als sicher einstuft, lässt es eine optimale Schnelligkeitsentwicklung zu.
Die Rolle des Gehirns bei der Schnelligkeit
Das Ausmaß, in dem Schnelligkeit vom Gehirn wahrgenommen und durch den Körper umgesetzt wird, hängt von zentralnervösen und technisch-koordinativen Steuerungsprozessen ab. Lars Lienhard, ein führender deutscher Experte für neurozentriertes Training, zeigt, wie man das Schnelligkeitstraining durch die Anwendung neuronaler Grundlagen auf ein neues Level heben kann.
Neuroathletik: Ein revolutionärer Ansatz
Neuroathletik ist ein revolutionärer Ansatz, der die Trainingslehre und den Spitzensport verändert. Eine optimale körperliche Leistung ist nur möglich, wenn das Gehirn hochwertige Informationen von Augen, Gleichgewichtssystem und Körper erhält. Mit diesem Ansatz lassen sich die Informationsaufnahme und -verarbeitung gezielt trainieren und die sportliche Leistung erheblich verbessern.
Lars Lienhard erklärt, wie Neuroathletik in jedes sportliche Training integriert werden kann. Er stellt über 70 bebilderte Übungen vor, die leicht verständlich dargestellt und einfach umzusetzen sind.
Assessments für nachhaltigen Erfolg
Assessments sind schnelle Tests, mit denen man kontrollieren kann, ob das, was man gerade tut, auch die gewünschte Wirkung zeigt. Sie sind besonders wichtig beim Schnelligkeitstraining, da hier enorm große Belastungen auf den Körper und das Nervensystem wirken.
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Die Wirkweise der Assessments
Das Gehirn arbeitet in drei Schritten:
- Es nimmt sensorische Informationen auf.
- Es integriert und analysiert diese Informationen.
- Es entwirft daraufhin den Bewegungsplan, den es als Output zur Umsetzung an die verschiedenen Organe sendet.
Ziel der Assessments ist es, diesen Output zu überprüfen.
Stabilität als wichtigstes Assessment
Stabilität hat immer Vorrang und ist die Grundlage jeglicher Bewegungseffizienz. Der größte Teil aller in den Körper laufenden Informationen dient dazu, den Körper zu stabilisieren. Eine Verbesserung der Stabilität ist daher das erste und wichtigste Ziel, wenn man schneller werden möchte.
Es gibt verschiedene Assessments, mit denen man die derzeitige Qualität der Stabilität testen kann. Diese Assessments sollten vor dem Schnelligkeitstraining durchgeführt werden, um zu überprüfen, ob das Nervensystem zum gegebenen Zeitpunkt bereit ist, hohen Belastungen ausgesetzt zu werden.
Im besten Fall ist man in allen Bereichen beziehungsweise auf beiden Seiten stabil. Sollten sich in einem Bereich größere Defizite zeigen, so müssen diese mithilfe von Übungen aufgearbeitet werden. Es ist sehr individuell, welche die persönlichen neuronalen Schwachstellen sind, daher gibt es verschiedene Assessments, die die wichtigsten Bereiche abdecken.
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Überprüfung der Aktivität wichtiger Muskelgruppen
Die Stabilisierung des Oberkörpers ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Schnelligkeit zuzulassen und das Schnelligkeitstraining erfolgreich umzusetzen. Daher sollte jede Intervention dazu führen, dass die Stabilisierung des Oberkörpers optimiert wird.
Die Umsetzung der Überprüfung ist einfach: Man testet durch ein ausgewähltes Assessment die Stabilität, führt im Anschluss die ausgewählte Übung durch und testet abschließend noch einmal die Stabilität anhand des Assessments. Führt die Ausführung der Übung zu besseren Ergebnissen im zweiten Durchgang des Assessments, kann man die Übung in das Training integrieren.
Zunächst wird die Stabilität beziehungsweise die muskuläre Aktivität des Oberkörpers in wichtigen Bewegungen als auch für spezifische Muskelgruppen überprüft. Alle Bereiche, die hier getestet werden, sind wichtig für die Stabilität des Oberkörpers. Hierfür gibt es eine Auswahl an Tests, welche die Muskelaktivität in allen wichtigen Muskelgruppen ermitteln.
Beispiele für Assessments
Assessment 1 - Rotationskraft testen
Der Anti-Rotationstest ist ein gutes Assessment, um die Stabilisierung und die Aktivität der Muskulatur bei Kräften, die rotatorisch auf den Rumpf einwirken, zu testen. Hier muss man isometrisch, das heißt haltend, gegen den Zug des Trainingspartners arbeiten, um die Rotation zu verhindern.
Dabei stabilisiert ein Trainingspartner das Becken mit einer Hand, während die andere Hand den Zug in die Rotation ausführt. Wird ein Zug nach links ausgeübt, werden die Muskeln der rechten Körperrückseite und die Muskeln der linken Körpervorderseite aktiviert. Umgekehrt werden für einen Zug nach rechts die linke Körperrückseite und die rechte Körpervorderseite gefordert. Dies bedeutet, dass durch diesen Test auch die jeweils beteiligten Muskelgruppen überprüft werden.
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Durchführung des Anti-Rotationstests:
- Nehmen Sie einen schulterbreiten Stand ein und heben Sie Ihre Arme auf Schulterhöhe vor sich an.
- Drücken Sie Ihre Handflächen leicht gegeneinander.
- Ihr Trainingspartner steht rechts neben Ihnen und fixiert mit der linken Hand Ihr linkes Becken.
- Nun beginnt er, mit seiner rechten auf Ihrem linken Unterarm liegenden Hand Zug nach rechts aufzubauen. Wichtig ist, dass er die Kraft zunächst langsam aufbaut und erst, wenn er ein Gefühl für Ihre Kraft entwickelt hat, den Zug erhöht.
- Der Test sollte circa 5 Sekunden lang ausgeführt werden.
- Im Anschluss wird die linke Seite getestet, indem Ihr Trainingspartner die Seite wechselt und mit der rechten Hand Ihre linke Hüfte fixiert und mit der linken Hand das Assessment, wie bereits beschrieben, ausführt.
- Vergleichen Sie die beiden Seiten miteinander. Merken Sie sich die schwächer aktive Seite, die dem Zug weniger standhalten kann, und verwenden Sie diese als Assessment für die Überprüfung der Übungen des Buchs.
Mit diesem Assessment lassen sich sowohl wichtige Flexionsmuster als auch die Extensionsfähigkeiten des Rumpfs überprüfen. Da die Stabilisierung des Körpers vor allem über diese Extensions- und Flexionsmuskulatur bewerkstelligt wird, ist dieses Assessment sicherlich eines der grundlegendsten und wichtigsten.
Assessment 2 - Seitliche Stabilität testen
Nahezu jede Bewegung, insbesondere schnelle Bewegung, verlangt, dass man in der Lage ist, seitlich wirkenden Kräften optimal standhalten zu können. Dieses Assessment ermöglicht es, gute Aussagen über die seitliche Stabilität des Körpers sowie über die Aktivität der Hüftmuskulatur zu treffen. Diese Muskulatur ist entscheidend für die Stabilität und Kontrolle des Beckens und der Hüfte und somit essenziell für eine gute Kraftübertragung und Lauftechnik.
Während des Stabilitätstests drückt der Trainingspartner seitlich gegen die Hüfte oder gegen Hüfte und Schulter. Ist diese seitliche beziehungsweise laterale Stabilität unzureichend, ist es nicht möglich, optimale Bewegungstechniken umzusetzen. Die Stabilität des Hüft- und Beckenkomplexes sollte daher vor jedem Training überprüft werden.
Durchführung des Tests der seitlichen Stabilität:
- Nehmen Sie einen hüftbreiten, stabilen Stand ein und beugen Sie Ihre Knie leicht. Ihre Wirbelsäule ist lang und nach oben ausgerichtet.
- Aus dieser Grundposition heraus drückt Ihr Trainingspartner gegen den oberen Bereich Ihres rechten Beckens und Ihre rechte Schulter, indem er Druck nach links zur Seite hin ausübt.
- Der Druck wird langsam aufgebaut und allmählich gesteigert. Wichtig hierbei ist, dass Sie nicht aktiv und willkürlich gegen den Druck arbeiten, sondern einfach versuchen, stabil stehen zu bleiben.
- Im Anschluss wechseln Sie die Seite und führen die Übung, wie bereits beschrieben, auf der linken Seite durch.
- Vergleichen Sie die beiden Seiten miteinander. Merken Sie sich die weniger stabile Seite und verwenden Sie diese als Assessment für die Überprüfung der Übungen in den folgenden Kapiteln.
Alternativ kann der Druck auch nur über das Becken erfolgen. In diesem Fall wird statt der Stabilität des Oberkörpers stärker die globale seitliche Stabilität getestet.
Assessment 3 - Aktivität der Hüftbeugemuskulatur testen
Die Hüftbeugemuskulatur ist sicherlich eine der wichtigsten Muskelgruppen, wenn es darum geht, schnell zu laufen. Sie ist in alle Phasen der Beinarbeit eingebunden. Die Funktionalität dieser Muskulatur trennt bei den Sprintern die Spreu vom Weizen. Auch für dieses Assessment benötigt man einen Trainingspartner.
Durchführung des Tests der Hüftbeugekraft:
- Heben Sie aus einem engen Stand Ihr rechtes Bein an, bis Oberschenkel und Oberkörper einen Winkel kleiner als 90 Grad bilden. Ihr Knie ist über Hüfthöhe.
- Ihr Trainingspartner beginnt nun, mit der Hand von oben Druck auf das Knie auszuüben. Der Druck sollte zunächst sanft erfolgen und zunehmend stärker werden.
- Im Anschluss wechseln Sie die Seite, sodass nun die Muskulatur auf der linken Körperhälfte getestet wird.
- Vergleichen Sie die beiden Seiten miteinander. Merken Sie sich die weniger stabile Seite, die dem Druck weniger standhalten kann, und verwenden Sie diese als Assessment für die Überprüfung der Übungen.
Tipp: Halten Sie sich bei der Übungsausführung für mehr Stabilität an einer Wand.
Weitere Aspekte des Neuroathletiktrainings
Neben den Assessments umfasst das Neuroathletiktraining weitere wichtige Aspekte:
- Training der reflexiven Stabilität mithilfe des Gleichgewichtssystems: Das Gleichgewichtssystem spielt eine entscheidende Rolle für die Stabilität und Koordination des Körpers. Durch gezieltes Training kann die reflexive Stabilität verbessert werden.
- Augentraining zur Verbesserung der Fertigkeiten: Die Augen liefern wichtige Informationen für die räumliche Orientierung und die Koordination von Bewegungen. Durch Augentraining können diese Fertigkeiten verbessert werden.
- Neuronales und sensorisches Warm-up: Ein gezieltes Warm-up bereitet das Nervensystem und die Muskeln auf die bevorstehende Belastung vor.
- Steigerung der Laufschnelligkeit durch Verbesserung der Bein- und Armarbeit: Eine effiziente Bein- und Armarbeit ist entscheidend für die Laufschnelligkeit.
- Optimierung des situationsgebundenen Schnelligkeitstrainings durch Schulung der Wahrnehmungs- und Reaktionsgeschwindigkeit: Die Fähigkeit, schnell auf veränderte Situationen zu reagieren, ist im Sport von großer Bedeutung.
Lars Lienhard: Der Experte für Neuroathletik
Lars Lienhard ist Pionier des Neuroathletiktrainings und arbeitet als Trainer, Berater und Ausbilder im Spitzensport. Er hat zahlreiche Athleten auf die Olympischen Spiele vorbereitet und unterstützt Vereine und Verbände bei sportlichen Großveranstaltungen und in konzeptionellen Fragen. So war er unter anderem als Trainer 2014 bei der FIFA Fußballweltmeisterschaft in Brasilien und 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio. In seinem Neuro Athletic Training Institute bietet er Ausbildungen für Trainer, Therapeuten und Athleten an.
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