Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und Rückenmark betreffen kann. Weltweit sind fast drei Millionen Menschen mit MS betroffen, über 280.000 davon in Deutschland. Die Erkrankung tritt zumeist im jungen Erwachsenenalter auf, kann aber auch bei Kindern oder im höheren Erwachsenenalter erstmals auftreten. Frauen sind dabei zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer. MS ist nicht heilbar, aber mit modernen Behandlungsmöglichkeiten kann der Verlauf der Erkrankung meist lange herausgezögert und verbessert werden.
Was ist schubförmige Multiple Sklerose?
Bei über 85 bis 90 % der Patienten beginnt die MS mit einem schubförmig remittierenden Verlauf (RRMS). Ein Schub ist gekennzeichnet durch episodisches Auftreten und vollständige oder teilweise Rückbildung (Remission) neurologischer Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen. Die Betroffenen bemerken Symptome, die sich innerhalb weniger Stunden stetig verstärken und dann für Tage oder Wochen auf einem Niveau stehen bleiben, bevor sie sich langsam zurückbilden.
Definition eines MS-Schubs
Ein MS-Schub tritt auf, wenn mehr als 24 Stunden und mehr als 30 Tage nach Beginn des letzten Schubs neue oder bekannte Symptome auftreten. Die Dauer eines MS-Schubs variiert zwischen einigen Stunden, Tagen oder Wochen. Danach klingen die Beschwerden langsam ab.
Symptome der schubförmigen MS
Die Symptome der MS sind vielfältig und können je nach betroffenem Hirnareal variieren. Daher wird die MS auch als die "Krankheit der 1000 Gesichter" bezeichnet. Häufige Symptome sind:
- Motorische Störungen: Lähmungen, die oft zunächst die Finger, Hände und Füße betreffen und sich nach dem Schub meist vollständig zurückbilden. Muskelschwäche und verlangsamte Bewegungsabläufe können auftreten. Hinzu kommt, dass es bei einigen Erkrankten zu einer erhöhten Muskelspannung kommt, die manchmal auch mit einer Verkrampfung und Steifigkeit der Muskeln (Spastik) einhergeht.
- Sensibilitätsstörungen: Gefühlsstörungen der Haut, meist in Form von Kribbeln, (schmerzhaften) Missempfindungen oder einem Taubheitsgefühl. Häufig sind bei Multipler Sklerose auch Missempfindungen auf der Haut - bekannt als das sogenannte Ameisenkribbeln - oder Taubheitsgefühle, ähnlich wie bei einem eingeschlafenen Arm oder Bein.
- Sehstörungen: Häufiges Kennzeichen eines ersten MS-Schubes ist eine Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis). Sie macht sich durch Schmerzen beim Bewegen der Augen und eine Sehverschlechterung bemerkbar. Manche Patient:innen leiden unter Augenbewegungsschmerzen, unscharfem Sehen oder Doppelbildern. Häufig treten bei Menschen mit MS auch unkontrollierte Augenbewegungen auf, das sogenannte Augenzittern (Nystagmus).
- Weitere Beschwerden: Blasenstörungen, Unsicherheit beim Gehen oder beim Greifen, Doppelbilder und "verwaschenes" Sprechen. Viele Betroffene leiden unter Muskelkrämpfen (Spastiken) im Rahmen eines MS Schubs, die zu Gelenkschmerzen führen. Es kann daher durch die MS zu Knieschmerzen, Hüftschmerzen oder Schulterschmerzen kommen. Häufig leiden MS-Erkrankte schon zu Beginn der Erkrankung unter körperlicher oder psychischer Erschöpfung, extremer Abgeschlagenheit und anhaltender Müdigkeit, dem sogenannten Fatigue-Syndrom.
Im Verlauf sind die Lähmungserscheinungen häufig mit einem Steifigkeitsgefühl ("wie Blei an den Beinen") verbunden, Spastik genannt. Spastische Lähmungserscheinungen betreffen vor allem die Beine. Blasenstörungen können sich als häufiger, nicht gut kontrollierbarer Harndrang (imperativer Harndrang), einer Blasenentleerungs-Störung bis hin zur Inkontinenz oder als kombinierte Schädigung zeigen.
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Diagnose der schubförmigen MS
Eine MS-Diagnose zu stellen, ist nicht einfach. Es gibt nicht den einen „MS-Test“, der zweifelsfrei beweist, dass eine Multiple Sklerose vorliegt. Multiple Sklerose ist daher eine sogenannte Ausschlussdiagnose. Das bedeutet, dass verschiedenen Untersuchungen gemacht werden. Entscheidend ist, dass sich Entzündungsherde an mehreren Stellen im Gehirn oder Rückenmark nachweisen lassen.
Die Diagnose basiert auf einer umfassenden Anamnese (Erfassung der Krankheitsgeschichte) und einer Reihe von Untersuchungen:
- Neurologische, körperliche Untersuchung: Am Anfang jeder Untersuchung steht die Anamnese, d. h. Ihre Krankengeschichte, die Ihre Ärztin bzw. Ihr Arzt in einem längeren Gespräch in Erfahrung bringen möchte. Es werden Ihnen viele Fragen gestellt, die Sie ehrlich beantworten sollten. Meist geht es dabei um frühere oder bestehende Erkrankungen bei Ihnen oder in Ihrer Familie. Oder darum, wie sich Ihre Beschwerden zeigen, was Sie dagegen unternehmen und ob dies Linderung bringt.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Nachweis unterschiedlich alter Entzündungsherde an mehreren Stellen im Gehirn oder Rückenmark. Bei dem Verdacht auf eine Multiple Sklerose können Radiologinnen mittels Magnetresonanztomographie (MRT) andere Ursachen für neurologische Ausfälle, wie Schlaganfall oder Tumoren, ausschließen. Auf den MRT-Aufnahmen erkennen Radiologinnen typische Entzündungsherde (Läsionen) der Multiplen Sklerose. An aktiven Entzündungsstellen werden Blutgefäße aber durchlässig, damit Abwehrzellen die Entzündung bekämpfen können. An diesen Stellen kann Kontrastmittel ins Gewebe gelangen und auf den MRT-Bildern dort gesehen werden.
- Lumbalpunktion (Nervenwassergewinnung): Bei einer Multiplen Sklerose kann man im Liquor Hinweise für eine Entzündung finden. Hierzu gehören: Entzündungszellen und oligoklonale Banden (OKB). OKB sind Antikörper, die bei autoimmunen Entzündungsprozessen entstehen. Sie treten typischerweise bei Multipler Sklerose auf, können aber auch bei anderen Erkrankungen vorkommen.
- Evozierte Potentiale (Nervenleitfähigkeit und Geschwindigkeit): Über evozierte Potenziale wird die Funktion von Nervenbahnen gemessen. Bei einer Multiplen Sklerose ist die Funktion von Nervenbahnen gestört. Dadurch können Nervenimpulse häufig nur noch mit verlangsamter Geschwindigkeit fortgeleitet werden. Diese Geschwindigkeit wird durch evozierte Potentiale gemessen, die zum Beispiel durch visuelle (auf ein Schachbrett schauen) oder sensible (elektrische Impulse) Reize ausgelöst werden.
Zur Orientierung gibt es international anerkannte Diagnosekriterien (die McDonald-Kriterien), die eine Diagnosestellung unterstützen. Dennoch kann es manchmal Wochen, Monate, zuweilen sogar Jahre dauern, bis die Diagnose eindeutig feststeht.
Differentialdiagnose
Die meisten Anfangsbeschwerden können auch denen anderer Krankheiten entsprechen, daher kann es sogar für einen erfahrenen Arzt schwierig sein, die Krankheitszeichen bereits im Frühstadium exakt einzuordnen. Es gibt keinen Bluttest, der eine Multiple Sklerose beweisen könnte. Weder das Blutbild noch andere üblicherweise gemessenen Blutwerte verändern sich durch die MS-Krankheit. Bei dem Verdacht auf Multiple Sklerose dient die Blutuntersuchung in erster Linie dazu, andere Krankheiten auszuschließen. Hierzu gehören zum Beispiel die Borreliose oder der Lupus Erythematodes, weil diese Krankheiten ähnliche Symptome wie die Multiple Sklerose hervorrufen können.
Therapie der schubförmigen MS
Obwohl die Multiple Sklerose bis heute nicht ursächlich heilbar ist, gibt es Behandlungsmöglichkeiten, die zum Ziel haben:
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- Die akute Entzündungs-Reaktion eines Schubes zu hemmen (Schubtherapie): Für die Schubtherapie stehen vor allem Kortisonpräparate zur Verfügung, die die Entzündungen eindämmen sollen. Im akuten Schub werden sie über drei bis fünf Tage als Infusion verabreicht (Hochdosis-Schubtherapie). In vielen Fällen wird auf eine sogenannte Blutwäsche ausgewichen (Plasmapherese), bei der Blut entnommen, gereinigt und wieder in den Körper zurückgeleitet wird. Die Plasmapherese ist nur in speziellen Zentren möglich und wird auch nur bei schweren akuten Schüben durchgeführt. Nebenwirkungsärmer ist eine spezielle Form der Blutwäsche: die sogenannte Immunadsorption. Hierbei wird das Blut in Plasma (Blutflüssigkeit) und Blutzellen getrennt. Diese Form der Behandlung eröffnet neue Perspektiven beispielsweise bei schweren Schüben, die nicht auf eine Cortisontherapie ansprechen.
- Das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten: Einfluss auf den Langzeitverlauf der Multiplen Sklerose nimmt man mit einer sogenannten Immuntherapie. Hier hat es in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten gegeben. Die Immuntherapie beeinflusst bei MS das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie dieses verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv). Mittlerweile gibt es gut 20 Immuntherapie-Mittel (Stand: April 2023), einige davon auch für die sekundär oder primär progrediente MS. Das ermöglicht weitgehend individuell zugeschnittene Behandlungspläne.
- Die beschwerdefreie/-arme Zeit zu verlängern (verlaufsmodifizierende Therapie): Grundsätzlich wird empfohlen, bei allen Menschen mit MS eine Immuntherapie zu beginnen. Immuntherapien können die MS nicht heilen, aber ihren Verlauf stark verbessern. Manchmal werden daher auch die Begriffe „verlaufsmodifizierend“ oder „verlaufsverändernde“ Therapien verwendet.
- Die MS-Symptome zu lindern und möglichen Komplikationen vorzubeugen (Symptomatische Therapie): Eine MS einher kann eine Reihe von Folgesymptomen auslösen. Viele Folgesymptome lassen sich medikamentös oder mit anderen Maßnahmen behandeln. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien.
Vor allem die letzten beiden Therapiebereiche werden in der Regel kombiniert angewendet.
Medikamente für schubförmige MS
Für Patientinnen und Patienten mit schubförmig verlaufender Erkrankung stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, die den Angriff des Immunsystems auf die Nervenzellen abschwächen. Bei akuten Schüben können u.a. Cortison-Präparate die Symptome dämpfen. Zu den schon am längsten verfügbaren Basistherapeutika zählen die Betainterferon-Präparate und das synthetische Peptidgemisch Glatirameracetat; sie alle müssen regelmäßig gespritzt werden. Schlägt eins dieser Basistherapeutika an, kann das etwa ein Drittel bis die Hälfte aller neuen Schübe verhindern und die Schwere vermindern.
Schon seit 2011 kamen aber auch Basistherapeutika in Tablettenform heraus, mit den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin. Diese neueren Medikamente eliminieren bestimmte Zellen des Immunsystems oder dämpfen ihre Aktivität, damit deren Angriffe im ZNS unterbleiben.
Leiden Patienten trotzdem an einer hohen Schubrate, kann auch ein Antikörperpräparat oder ein Chemotherapeutikum (zur Schub- oder Dauerbehandlung) eingesetzt werden, was jedoch mit höheren Risiken für die Patienten durch belastende, in Einzelfällen auch schweren Nebenwirkungen verbunden sein kann. Drei Antikörperpräparate (Natalizumab, Ocrelizumab und Ofatumumab) werden in Dauertherapie eingesetzt, für ein weiteres (Alemtuzumab) genügen zwei kurze Behandlungsphasen für eine langanhaltende Wirkung.
Leben mit schubförmiger MS
Ein selbstbestimmtes Leben mit MS ist möglich. Der Krankheitsverlauf der Multiple Sklerose ist nicht vorhersagbar. Bei jedem zeigt sich die MS anders. Sowohl die Art und Anzahl der Symptome, Häufigkeit, Dauer und Schwere der Schübe als auch das mögliche Fortschreiten einer Beeinträchtigung unterscheiden sich voneinander.
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Was Betroffene selbst tun können
Im täglichen Leben gibt es einiges, dass die Multiple Sklerose günstig beeinflussen kann:
- Regelmäßige körperliche Aktivität: Ein Spaziergang oder eine Wanderung, eine Fahrradtour oder ähnliche Aktivitäten im Freien haben positive Effekte. Aber auch gezieltes Training ist wichtig.
- Gesunde Ernährung: Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen hat positive Effekte.
- Nicht rauchen: Rauchen ist ein Risikofaktor und die Betroffenen sollten alles daran setzen, die Nikotinsucht zu überwinden.
- Vitamin D: Hochdosierte Vitamin-D-Gaben können MS-Schübe vermindern, also die MS-Aktivität etwas verlangsamen.
Psychologische Unterstützung
Auf Dauer kann eine MS die Psyche belasten - vor allem bei regelmäßigen Schmerzen. Dabei entwickeln viele Patienten depressive Symptome und Ängste. Manchmal ist es schwer, mit anderen Menschen über die eigenen Belastungen zu sprechen und Hilfe anzunehmen. Doch ist genau das in vielen Situationen hilfreich. Es gibt mittlerweile viele MS-Selbsthilfegruppen. Die MS-Selbsthilfe gibt Betroffenen Halt und ermöglicht den Austausch untereinander. Das erhöht die Lebensqualität immens.
Verlauf der schubförmigen MS
Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlaufstyp mit einer Häufigkeit von bis zu 90%; nach anfänglich schubförmigem Verlauf gehen nach 10 bis 15 Jahren etwa 30 bis 40% in einen sekundär-chronisch progredienten Verlauf über; nach mehr als 20 Jahren beträgt die Häufigkeit dieser Verlaufsform sogar bis zu 90%.
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