Sehzentrum Gehirn Funktion: Die Schaltzentrale des Sehens

Das Sehzentrum im Gehirn ist ein komplexes und faszinierendes System, das es uns ermöglicht, die Welt um uns herum visuell wahrzunehmen. Während das Auge Licht- und Farbreize empfängt, kann unser Gehirn nur elektrische Impulse verarbeiten. Wie diese beiden Organe zusammenarbeiten, um das Sehen zu ermöglichen, ist das Thema dieses Artikels.

Die Anatomie des Sehzentrums

Das Sehzentrum, auch visueller Cortex oder Sehrinde genannt, befindet sich im Occipitallappen, dem hintersten Teil des Großhirns. Nach der Hirnkarte von Korbinian Brodmann entsprechen ihm die Areale 17, 18 und 19. Es wird in die primäre Sehrinde (V1) und sekundäre bzw. tertiäre (assoziative, V2-V5) Bereiche unterteilt. Histologisch zeichnet ihn bei Primaten die hohe Zelldichte und die vergleichsweise geringe Dicke (beim Menschen 1,5-2 mm) aus. Alles, was das rechte Auge wahrnimmt, wird von der linken Gehirnhälfte verarbeitet und umgekehrt.

Die primäre Sehrinde (V1), auch Area striata genannt, ist das Empfangszentrum für Rohinformationen des Sehens und repräsentiert unmittelbar die gegenseitige Hälfte des Gesichtsfeldes. Sie ist retinotop aufgebaut, was bedeutet, dass auf der Netzhaut nebeneinander abgebildete Punkte auch hier nebeneinander liegen. Über 80 Prozent des Cortex widmen sich hierbei ausschließlich den Signalen aus der Fovea centralis, dem Zentrum des schärfsten Sehens innerhalb des Gelben Flecks. Von hier aus werden visuelle Signale auf zwei unterschiedliche Verarbeitungspfade zur sekundären Sehrinde geleitet, die für weiterführende Interpretationen zuständig ist.

Die sekundären und tertiären Bereiche (V2-V5) sind für die komplexere Verarbeitung visueller Informationen zuständig, wie Objekterkennung, Gesichtserkennung, Farberkennung und Bewegungserkennung.

Die Sehbahn: Eine Hochgeschwindigkeitsleitung ins Gehirn

Die Sehbahn ist ein komplexes Netzwerk von Nervenzellen, das die visuellen Signale vom Auge zum Gehirn leitet. Sie ist eine wahre Hochgeschwindigkeitsleitung, die Signale in weniger als einer Zehntelsekunde aus der Netzhaut übermittelt.

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Der Weg des Lichts: Von der Netzhaut zur Sehrinde

  1. Die Netzhaut (Retina): Die Netzhaut ist ein komplexes Gebilde aus verschiedenen Zellen und Schichten, das als sensorischer Teil des Auges Licht- und Farbreize verarbeitet und sie an den Sehnerv weiterleitet. Sie fungiert sozusagen als Übersetzer von Signalen. Die Stäbchen und Zapfen, die lichtempfindlichen Sinneszellen der Retina, geben die Reize an das Innere der Netzhaut weiter. Der Impuls wandert dabei über verschiedene Zelltypen: Bipolare Nervenzellen, Horizontalzellen und amakrine Zellen sind für die Verschaltungen zuständig, während die Ganglienzellen als vollwertige Nervenzellen den Reiz in Richtung der inneren Netzhautoberfläche leiten.
  2. Der Sehnerv (Nervus opticus): Die Axone der retinalen Ganglienzellen bilden den Sehnerv, der das Auge auf der Rückseite an der Papille verlässt. Er umfasst ca. eine Million Axone und hat einen Durchmesser von ca. sieben Millimetern. Der Sehnerv ist die Verbindung zwischen Auge und Gehirn: Er sorgt dafür, dass die auf die Netzhaut treffenden Reize weitergeleitet werden und im Gehirn verarbeitet werden können.
  3. Das Chiasma opticum (Sehnervenkreuzung): Die Sehnerven beider Augen überkreuzen sich am Chiasma opticum. Etwa die Hälfte der Fasern beider Nervenstränge wechselt hier die Seite, so dass Signale aus dem linken Auge auch in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden und umgekehrt. An der Sehnervkreuzung wechseln die nasalen Fasern die Seite - sie werden also kontralateral verschaltet, während die temporalen Fasern auf der ursprünglichen, ipsilateralen Seite verbleiben. Ein Effekt dieser komplizierten Verschaltung ist, dass jede Hälfte des visuellen Cortex nur Informationen über eine Seite des Gesichtsfeldes erhält - aber von beiden Augen. Ein anderer Effekt ist, dass auf diese Weise das gesamte System auf Effizienz und Schnelligkeit getrimmt wird: So wird schon im Zwischenhirn vom seitlichen Kniehöcker, dem Corpus geniculatum laterale, anhand der Informationen aus den verschiedenen Gesichtsfeldhälften ein Feedback an die Augen „gefunkt“, ob zum Beispiel die Helligkeitsadaptation der Pupille verbessert werden muss. Aufgrund der Überkreuzung führen Schädigungen der Nervenbahnen zu ganz charakteristischen Gesichtsfeldausfällen, die auf die Lokalisation des Defekts schließen lassen.
  4. Der Sehtrakt (Tractus opticus): Jenseits der Kreuzung werden die Sehnerven als Sehtrakt bezeichnet. Die meisten Nervenfasern ziehen über den seitlichen Kniehöcker in den visuellen Cortex, ein kleiner Teil jedoch gibt dem Prätektum Input, etwa für die “innere Uhr” oder den Pupillenreflex.
  5. Der seitliche Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale): Das Corpus geniculatum laterale ist derjenige Abschnitt des Thalamus, in dem rund 90% der Axone des Sehnervs enden. Es zeigt eine charakteristische Schichtung in sechs Zelllagen, getrennt von den eingehenden Fasern der Sehnerven. Die Nervenzellen des Corpus geniculatum laterale senden ihre Fortsätze zur Sehrinde. Es ist die einzige Umschaltstelle außerhalb der Netzhaut. In Schicht 2, 3 und 5 des seitlichen Kniehöckers enden jeweils Fasern aus dem ipsilateralen Auge, in Schicht 1, 4 und 6 die Stränge aus dem kontralateralen Auge. Schicht 1 und 2 des seitlichen Kniehöckers sind die magnozellulären Schichten mit größeren Zellkörpern und Axondurchmessern. Sie reagieren vor allem auf Bewegungen. Die parvozellulären Schichten 3 bis 6 setzen sich aus kleineren Nervenzellen zusammen und liefern Input für die Verarbeitung von Form und Farbe. Zwischen diesen sechs Schichten liegen sechs Schichten des koniozellulären Systems, dessen Funktion immer noch nicht verstanden ist.
  6. Die Sehstrahlung (Radiatio optica): Der seitliche Kniehöcker verteilt den Informationsfluss auf die Sehstrahlung, die das letzte Stück Weg zur Sehrinde des Gehirns überbrückt.
  7. Die Sehrinde (visueller Cortex): Die Sehrinde ist derjenige Teil der Großhirnrinde, der zum visuellen System zählt, welches wiederum das visuelle Bewusstsein ermöglicht. Die Sehrinde liegt im hinteren Teil des Gehirns, im Occipitallappen, und ist damit das Hauptzentrum für visuelle Verarbeitung. Hier werden die Signale der Retina an fest zugeordneten, immer gleichen Regionen verarbeitet. Hier findet die eigentliche Verarbeitung der visuellen Information statt. V1 ist essentiell für die Dekodierung von Eigenschaften wie Lichtintensität, Kontrast und Orientierung. Die Sehrinde ist unverzichtbar für das Sehvermögen. In diesem Teil des Gehirns werden visuelle Informationen verarbeitet und in jene Bilder umgewandelt, die unser visuelles Erleben ausmachen. Ihre Fähigkeit, Farben, Formen und Bewegungen zu erkennen und zu interpretieren, hängt stark von der Gesundheit dieses Gehirnareals ab.

Spezialisierte Zellen in der Sehrinde

Innerhalb der Sehrinde tragen zwei Arten von Zellen - Magnocellular- und Parvocellular-Zellen - entscheidend zur Wahrnehmung bei.

  • Magno-Zellen: Große Zellen in der Sehrinde, die vor allem für die Wahrnehmung von Bewegungen wichtig sind. Sie reagieren besonders schnell auf Änderungen und ermöglichen Ihnen, fließende Bewegungen und grobe Konturen zu erkennen.
  • Parvo-Zellen: Kleinere Zellen, die hauptsächlich für die Wahrnehmung feiner Details, Muster und Farben zuständig sind. Diese Zellen arbeiten mit höherer Genauigkeit, sodass Sie Farben und feine Linien erkennen können.

Magno- und Parvo-Zellen senden ihre Informationen an höhere visuelle Areale, welche die verschiedenen Aspekte der visuellen Information zu einem kohärenten Bild zusammenfügen. Ohne das spezialisierte Zusammenspiel dieser Zelltypen wäre es schwierig, Übergänge zwischen Licht und Schatten zu bemerken oder kleine Details in Ihrer Umgebung zu erkennen.

Störungen des Sehzentrums und ihre Auswirkungen

Störungen in der Sehbahn oder der Sehrinde können zu einer Vielzahl von visuellen Beeinträchtigungen führen. Krankheiten, die die Sehnerven schädigen, führen häufig dazu, dass ganze Areale des Gesichtsfelds eines Auges nicht mehr im Gehirn registriert werden. Beeinträchtigt beispielsweise ein Tumor, eine Entzündung oder eine Blutung den rechten oder linken Sehnerv zwischen Netzhaut und Sehnervenkreuzung, fehlt die gesamte Information aus dem jeweiligen Auge. Geschieht der Schaden an oder nach der Sehnervenkreuzung, treten besondere Ausfallmuster auf: Etwa die "Scheuklappenblindheit", also ein Ausfall des äußeren Gesichtsfeldes, wenn die sich überkreuzenden Bahnen im Chiasma opticum betroffen sind. Ist die Verbindung zwischen Chiasma opticum und der primären Sehrinde unterbrochen, fehlt von beiden Augen jeweils eine Gesichtsfeldhälfte.

Häufige Symptome von Sehrindenfunktionsstörungen sind:

  • Gesichtsfelddefekte: teilweiser Verlust des Sichtfeldes, typischerweise als Skotom oder Tunnelvision
  • Visuelle Agnosie: die Unfähigkeit, Objekte trotz klarer Sicht zu identifizieren
  • Halluzinationen: das Wahrnehmen von Bildern oder Szenen, die nicht vorhanden sind
  • Cortex-Blindheit: komplette Unfähigkeit zu sehen, trotz intakter Augen

Visuelle Agnosie: Wenn das Gehirn Bilder nicht mehr erkennt

Visuelle Agnosie ist eine Störung des visuellen Cortex, die Sie daran hindert, bekannte Objekte, Menschen oder Orte trotz funktionstüchtiger Augen und intakter Sehnerven zu erkennen. Sie entsteht oft durch Schädigungen in den Bereichen des Gehirns, die für die Verarbeitung und Interpretation visueller Informationen zuständig sind. Das Leben mit visueller Agnosie kann einschneidend sein, denn einfache Tätigkeiten wie Lesen, Autofahren oder das Erkennen von Angehörigen werden zur Herausforderung.

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Diagnostik und Behandlung von Sehrindenfunktionsstörungen

Bei der Diagnostik von Sehrindenfunktionsstörungen kommen MRT- und CT-Scans zur Untersuchung der Sehrinde zum Einsatz. Außerdem kann man mit visuell evozierten Potentialen (VEPs) die elektrische Aktivität im Gehirn als Antwort auf visuelle Reize messen. Eine genaue Diagnose ist entscheidend für die Entwicklung eines effektiven Behandlungsplans.

Therapeutische Strategien für die Rehabilitation der Sehrinde sind:

  • Medikamentöse Behandlung: Einsatz von Medikamenten zur Verbesserung der Durchblutung oder zur Reduzierung von Entzündungen im Gehirn.
  • Sehtraining: spezifische Übungen zur Förderung der Neuroplastizität und zur Verbesserung der restlichen Sehfähigkeit.
  • Chirurgische Eingriffe: Operationen, um Druck im Gehirn zu vermindern oder beschädigtes Gewebe zu reparieren.
  • Rehabilitationstechnologien: Einsatz von technologischen Hilfsmitteln, die das Sehvermögen unterstützen und die Unabhängigkeit der Patienten fördern.
  • Anpassung des Lebensumfelds: Änderungen in der Häuslichkeit oder am Arbeitsplatz, um die Sicherheit und Selbstständigkeit zu erhöhen.
  • Psychotherapeutische Unterstützung: Hilfe bei der Bewältigung von Begleiterscheinungen wie Angst und Depression, die mit Sehstörungen einhergehen können.

Die Wahl der Behandlung hängt von der individuellen Situation und den spezifischen Bedürfnissen jeder Person ab.

Neuroplastizität: Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns

Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, sich an Veränderungen anzupassen und neue neuronale Verbindungen zu bilden. Dieses Konzept ist besonders relevant, wenn es um Schädigungen der Sehrinde geht. Die Förderung der Neuroplastizität kann durch gezieltes Sehtraining begünstigt werden. Solche Trainingsprogramme zielen darauf ab, das Gehirn zu stimulieren und die Zusammenarbeit von Augen und Gehirn zu optimieren.

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