Das Sehzentrum im Gehirn: Lokalisation und Funktion

Die Verarbeitung visueller Informationen ist ein komplexer Prozess, der weit mehr umfasst als nur die Umwandlung von Lichtreizen in elektrische Signale durch die Netzhaut. Die Sehbahn, eine Art "Hochgeschwindigkeitsleitung" ins Gehirn, leitet diese Signale blitzschnell weiter. Dieser Artikel beleuchtet die Lokalisation des Sehzentrums im Gehirn, seine einzelnen Bestandteile und deren spezifischen Funktionen sowie die Auswirkungen von Schädigungen in diesem Bereich.

Die Sehbahn: Eine Reise der visuellen Information

Die Reise der visuellen Information beginnt in der Netzhaut (Retina) des Auges, wo Lichtreize in elektrische Nervensignale umgewandelt werden. Diese Signale werden dann über den Sehnerv (Nervus opticus) zum Gehirn geleitet. Der Sehnerv besteht aus den Axonen der retinalen Ganglienzellen und verlässt das Auge auf der Rückseite an der Papille. Er umfasst etwa eine Million Axone und hat einen Durchmesser von ca. sieben Millimetern.

Nach etwa 4,5 Zentimetern treffen sich die Sehnerven des rechten und linken Auges am Chiasma opticum, der Sehnervenkreuzung. Hier wechselt etwa die Hälfte der Fasern aus den beiden Nervensträngen die Richtung, während die anderen fünfzig Prozent auf der Seite des Auges verbleiben, dem sie entspringen. Die kreuzenden Fasern stammen von der nasalen (inneren) Seite der Netzhaut, während die temporalen (äußeren) Fasern auf derselben Seite bleiben. Diese komplexe Verschaltung sorgt dafür, dass jede Hälfte des visuellen Cortex Informationen über das gesamte Gesichtsfeld, aber von beiden Augen, erhält.

Jenseits der Kreuzung werden die Sehnerven als Sehtrakt (Tractus opticus) bezeichnet. Die meisten Nervenfasern ziehen über den seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale, CGL) in den visuellen Cortex, während ein kleiner Teil dem Prätektum Input gibt, beispielsweise für die "innere Uhr" oder den Pupillenreflex.

Das Corpus geniculatum laterale (CGL): Die Umschaltstation

Das Corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker) ist ein Abschnitt des Thalamus (größter Teil des Zwischenhirns), in dem rund 90% der Axone des Sehnervs enden. Es dient als Umschaltstation zwischen Netzhaut und primärer Sehrinde und ist entscheidend für die schnelle Wahrnehmung visueller Eindrücke.

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Der CGL weist eine charakteristische Schichtung in sechs Zelllagen auf, getrennt von den eingehenden Fasern der Sehnerven. In den Schichten 2, 3 und 5 enden jeweils Fasern aus dem ipsilateralen Auge (auf derselben Körperseite), in den Schichten 1, 4 und 6 die Stränge aus dem kontralateralen Auge (auf der gegenüberliegenden Körperseite). Die Schichten 1 und 2 sind die magnozellulären Schichten mit größeren Zellkörpern und Axondurchmessern, die vor allem auf Bewegungen reagieren. Die parvozellulären Schichten 3 bis 6 setzen sich aus kleineren Nervenzellen zusammen und liefern Input für die Verarbeitung von Form und Farbe. Zwischen diesen sechs Schichten liegen sechs Schichten des koniozellulären Systems, dessen Funktion noch nicht vollständig verstanden ist.

Vom CGL aus wird der Informationsfluss auf die Sehstrahlung (Radiatio optica) verteilt, die das letzte Stück Weg zur Sehrinde des Gehirns überbrückt.

Der Visuelle Cortex: Das eigentliche Sehzentrum

Der visuelle Cortex, auch Sehrinde genannt, befindet sich im Okzipitallappen (Hinterhauptlappen) des Gehirns und ist das eigentliche Sehzentrum. Er ist in verschiedene Areale unterteilt, die jeweils unterschiedliche Aspekte der visuellen Wahrnehmung verarbeiten.

Primäre Sehrinde (V1)

Die primäre Sehrinde (V1), auch als Brodmann-Areal 17 bekannt, ist das erste kortikale Areal, das visuelle Informationen aus dem CGL erhält. Hier findet die erste Verarbeitung der einkommenden Informationen aus der Netzhaut statt, wobei jede Hälfte des Cortex die gegenüberliegende Gesichtsfeldhälfte repräsentiert. Die zentrale Sehgrube (Fovea centralis), die Stelle des schärfsten Sehens, ist in beiden Hirnhälften repräsentiert.

In V1 sind die Neuronen in Zellverbänden, den so genannten kortikalen Säulen, organisiert. Diese Säulen reagieren selektiv auf bestimmte Reize, wie z.B. die Orientierung von Linien oder Kanten. Hubel und Wiesel zeigten, dass Neuronen in V1 auf Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung reagieren. Sie identifizierten drei Neuronentypen:

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  1. Einfache Zellen: Reagieren maximal, wenn ein Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung auf eine bestimmte Zone des rezeptiven Feldes der Zelle dargeboten wird.
  2. Komplexe Zellen: Reagieren auf einen Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung, unabhängig von seiner genauen Position innerhalb des rezeptiven Feldes.
  3. Hyperkomplexe Zellen: Reagieren auf bewegte Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung und Länge.

Innerhalb von V1 gibt es auch sogenannte Orientierungssäulen, in denen Neuronen mit derselben bevorzugten Reizorientierung nahe beisammen liegen. Zudem wurden Augendominanzsäulen festgestellt, in denen Neuronen bevorzugt von einem Auge Input erhalten.

Sekundäre Sehrinde (V2)

Die Einzelinformationen aus V1 werden an die sekundäre Sehrinde (V2), auch als Brodmann-Areal 18 bekannt, weitergegeben. V2 ist ein Assoziationscortex, in dem die visuellen Informationen mit bekannten Sinneseindrücken abgeglichen und so erkannt werden. Hier laufen auch Informationen aus anderen Hirnarealen ein, die mit den Mustern abgeglichen werden können.

Höhere Visuelle Areale (V3, V4, V5)

Von der sekundären Sehrinde aus werden die Informationen an weitere übergeordnete (tertiäre) Assoziationszentren weitergegeben, wo komplexere Verarbeitungsprozesse stattfinden. Zu diesen Arealen gehören:

  • V3: Beteiligt an der Verarbeitung von Form und Bewegung.
  • V4: Spezialisiert auf die Verarbeitung von Farbe. Neuronen in V4 antworten selektiv auf Reize verschiedener Wellenlänge und Farbe.
  • V5: Zuständig für die Wahrnehmung von Bewegung.

Ventraler und Dorsaler Pfad

Die visuellen Informationen werden im Cortex über zwei Hauptpfade verarbeitet:

  • Ventraler Pfad ("Was-Bahn"): Verläuft vom Okzipitallappen in den Temporallappen und ist für die Objekterkennung zuständig.
  • Dorsaler Pfad ("Wo-Bahn"): Verläuft vom Okzipitallappen in den Parietallappen und ist für die Lokalisierung von Objekten im Raum und die Verarbeitung von Bewegung zuständig.

Funktionelle Spezialisierung im Visuellen Cortex

Die verschiedenen Areale des visuellen Cortex sind funktionell spezialisiert und tragen zur komplexen Verarbeitung visueller Informationen bei.

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  • Formerkennung: Der ventrale Pfad ist entscheidend für die Erkennung von Objekten. Bestimmte Neuronen im inferotemporalen Cortex (IT) antworten selektiv auf bestimmte Objektkategorien, wie z.B. Hände oder Gesichter.
  • Bewegungswahrnehmung: Der dorsale Pfad ist wichtig für die Wahrnehmung von Bewegung und die Steuerung von Handlungen im Raum.
  • Farbverarbeitung: V4 ist spezialisiert auf die Verarbeitung von Farbe und ermöglicht Farbanalysen wie z.B. Farbkonstanzbewertungen.
  • Räumliche Wahrnehmung: Der dorsale Pfad ist auch an der räumlichen Wahrnehmung beteiligt und ermöglicht die Lokalisierung von Objekten im Raum.

Auswirkungen von Schädigungen der Sehbahn

Störungen auf der visuellen Hochgeschwindigkeitsstrecke haben gravierende Konsequenzen. Krankheiten, die die Sehnerven schädigen, führen häufig dazu, dass ganze Areale des Gesichtsfelds eines Auges nicht mehr im Gehirn registriert werden.

  • Schädigung des Sehnervs vor dem Chiasma opticum: Beeinträchtigt beispielsweise ein Tumor, eine Entzündung oder eine Blutung den rechten oder linken Sehnerv zwischen Netzhaut und Sehnervenkreuzung, fehlt die gesamte Information aus dem jeweiligen Auge.
  • Schädigung am Chiasma opticum: Etwa die "Scheuklappenblindheit", also ein Ausfall des äußeren Gesichtsfeldes, wenn die sich überkreuzenden Bahnen im Chiasma opticum betroffen sind.
  • Schädigung nach dem Chiasma opticum: Ist die Verbindung zwischen Chiasma opticum und der primären Sehrinde unterbrochen, fehlt von beiden Augen jeweils eine Gesichtsfeldhälfte.

Das Großhirn: Die Schaltzentrale der Wahrnehmung

Das Großhirn ist der größte Teil des Gehirns und die menschliche Schaltzentrale. Von außen betrachtet wirkt es wie das Innere einer Walnuss oder wie ein Blumenkohl, schwammartig weich und weißlich glänzend. Seine Oberfläche prägen Wölbungen (Gyri cerebrales) und Furchen (Sulci cerebrales), in denen Blutgefäße verlaufen. Diese Struktur kommt dadurch zustande, dass die Rinde (Kortex, Cortex cerebralis) des Großhirns stark eingefaltet ist. Und doch ist dieser in der Ansicht wenig beeindruckende Hirnteil eine Sensation an Komplexität und Funktion. Das Großhirn kann unvorstellbare Mengen an Informationen verarbeiten, speichern und komplexe Prozesse steuern. Dazu gehören auch Emotionen. Allein die Rinde des Großhirns besteht aus 16 Milliarden Nervenzellen, von denen jede wiederum an bis zu 100.000 Stellen (Synapsen) miteinander im Kontakt stehen können.

Das Großhirn ist wie jedes Gewebe im Körper aus verschiedenen Zellen aufgebaut. Ganz besonders charakteristisch sind die großen Pyramidenzellen. Sie liegen in mehreren Schichten in der Hirnrinde (Kortex, Cortex). Manche jener Zellen sind beteiligt an einer Grenzschicht zum übrigen Körper und dessen Blutkreislauf, der Blut-Hirn-Schranke. Diese Abgrenzung sorgt dafür, dass im Großhirn ein ganz eigenes Milieu von Zellen, Stoffen und Stoffwechsel herrscht. Auch Krankheitserreger und Medikamente können dadurch nicht (alle) mit dem Großhirn in Kontakt treten.

Das Großhirn schwimmt wie die anderen Hirnanteile im Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis). Es ist umgeben von den Hirnhäuten (Meningen) und gut geschützt durch den knöchernen Schädel. Es gibt Teile des Großhirns, die auch als „graue Substanz” bezeichnet werden. In ihnen liegen vor allem Nervenzellkörper wie in der oberflächlichen Hirnrinde oder den tiefen Basalganglien. Die übrigen Großhirnareale enthalten vor allem Nervenzellfortsätze, also Signal-Leitungsbahnen. Diese nennt man „weiße Substanz”. Das Großhirn bildet zwei konvexe Hälften, die Hemisphären. Eine Längsfurche und eine in ihr verlaufende, recht harte und sichelförmige Bindegewebsplatte (Falx cerebri) trennen sie.

Man teilt die Bereiche des Großhirns in sogenannte Lappen ein. Diese sind jeweils für jede Hemisphäre der Vorderlappen (Stirnlappen, Lobus frontalis), der Scheitellappen (Parietallappen, Lobus parietalis), der Hinterhauptlappen (Okzipitallappen, Lobus occipitalis), und der Schläfenlappen (Temporallappen, Lobus temporalis). Die Lappen werden durch bestimmte Furchen (Sulci) voneinander abgegrenzt. Die meisten Lappen sind an der äußeren Hirnoberfläche zu sehen, während der Insellappen seitlich eingefaltet liegt und der limbische Lappen an der mittigen Innenseite der Hirnhälften.

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