Die Funktion des Sehzentrums im Gehirn: Ein umfassender Überblick

Das Sehzentrum im Gehirn ist ein komplexes System, das für die Verarbeitung visueller Informationen unerlässlich ist. Es ermöglicht uns, die Welt um uns herum zu sehen, zu interpretieren und uns in ihr zurechtzufinden. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte des Sehzentrums, von seiner Anatomie und Funktion bis hin zu möglichen Störungen und Behandlungsmöglichkeiten.

Vom Auge zum Gehirn: Die Sehbahn

Der Prozess des Sehens beginnt mit der Umwandlung eines Bildes auf der Netzhaut in elektrische Nervensignale. Diese Signale werden dann über die Sehbahn blitzschnell an das Gehirn weitergeleitet.

Die Sehnerven und das Chiasma opticum

Die Sehnerven beider Augen treffen sich am Chiasma opticum, einer Sehnervenkreuzung. Hier wechselt etwa die Hälfte der Fasern beider Nervenstränge die Seite, sodass Signale aus dem linken Auge auch in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden und umgekehrt. Jenseits der Kreuzung werden die Sehnerven als Sehtrakt oder Tractus opticus bezeichnet.

Weiterleitung der Signale

Die meisten Nervenfasern ziehen über den seitlichen Kniehöcker in den visuellen Cortex. Ein kleiner Teil gibt dem Prätektum Input, etwa für die "innere Uhr" oder den Pupillenreflex. Die Struktur des seitlichen Kniehöckers ist bereits unter dem Lichtmikroskop gut zu erkennen: Er besteht aus sechs Schichten, die jeweils bestimmte Nervenfasern aufnehmen. In den Schichten 2, 3 und 5 des seitlichen Kniehöckers enden jeweils Fasern aus dem ipsilateralen Auge, in den Schichten 1, 4 und 6 die Stränge aus dem kontralateralen Auge. Die Schichten 1 und 2 des seitlichen Kniehöckers sind die magnozellulären Schichten mit größeren Zellkörpern und Axondurchmessern. Sie reagieren vor allem auf Bewegungen. Die parvozellulären Schichten 3 bis 6 setzen sich aus kleineren Nervenzellen zusammen und liefern Input für die Verarbeitung von Form und Farbe.

Die Sehrinde: Das Zentrum der visuellen Verarbeitung

Zum Hinterhaupt hin wird das Großhirn durch den Okzipitallappen abgeschlossen, der mit der primären, sekundären und tertiären Sehrinde die zentrale Verschaltungsstelle für sämtliche visuellen Informationen beheimatet, welche von den Augen an das Gehirn weitergeleitet werden. Der Okzipitallappen liegt oberhalb des Tentorium cerebelli und wird nach ventral durch den Sulcus parietooccipitalis gegenüber dem Parietallappen abgegrenzt. Unter letzterem liegt der Temporallappen. Beide sind funktionell eng mit dem Okzipitallappen verbunden. Die Blutversorgung des Okzipitallappens erfolgt aus der A. Am Okzipitalpol, dem hintersten Abschnitt des Okzipitallappens, liegt im Sulcus calcarinus die primäre Sehrinde, Area 17 nach Brodmann oder auch Anteil V1. Wie der übrige Isocortex weist sie einen mehrschichtigen Aufbau mit sechs übereinander liegenden Laminae auf. Dabei ist Lamina 4, welche sensorische Informationen enthält, besonders stark ausgeprägt, sodass deren markhaltigen Fasern makroskopisch als Gennari- bzw. Vicq d’Azyr-Streifen sichtbar sind. Daher wird das Areal auch „Area striata“ genannt.

Lesen Sie auch: Die Rolle des visuellen Kortex

Die Funktion des Sehzentrums im Detail

Die Kernaufgabe des Okzipitallappens liegt in der Verschaltung visueller Informationen. Dabei ist jedem Bereich der Sehrinde ein Bildausschnitt fest zugeordnet. Die Informationen, welche die Sehrinde über die Sehstrahlung erreichen, werden in die sekundären Sehzentren (Brodmann-Areale 18 und 19) weitergegeben, wo sie verarbeitet und je nach Art der Information Teilbereichen wie der Gesichts- oder Farberkennung, dem Sprachzentrum oder motorischen Arealen zugeordnet werden. Beispielsweise kann unter Einbeziehung des frontalen Sehfeldes eine motorische Hinwendung zur gründlichen Untersuchung eines Objektes eingeleitet werden. Auch Blickfolgebewegungen wie die Beobachtung der Flugbahn eines Balls werden in diesem Bereich des Gehirns generiert. In Areal 17 erfolgt die Verschaltung und Verteilung der Information ohne inhaltliche Bewertung.

Die Rolle der Retina

In der Retina beginnen Sehbahnfasern in unterschiedlichen Zellgruppen. Magnozelluläre Ganglienzellen verschalten dabei Informationen über Bewegungen und Objekte unabhängig von deren Farbe. Entsprechend übernehmen parvozelluläre Ganglienzellen die Bereiche des hochauflösenden Sehens und die Farbverarbeitung. Neben der horizontalen Schichtung in Laminae werden innerhalb der Sehrinde die Informationen in dreidimensionalen, bandförmigen Strukturen verarbeitet, die auch plastisch als Säulen bezeichnet werden. Die grundlegende Bilderkennung erfolgt über Orientierungssäulen. Diese enthalten Zellbündel, welche Hell-dunkel-Kontraste zur Erkennung von Linien nutzen. Durch Zusammenschau sämtlicher Linienpunkte aller Orientierungssäulen ergibt sich ein vollständiges Bild.

Die verschiedenen Zelltypen in der Sehrinde

  • Einfache Zellen: Sie erfassen die Konturen starrer Objekte. Dabei fällt ihre Reizantwort umso stärker aus, je exakter die betrachteten (Linien)Punkte in ihrer Ausrichtung mit der Ausrichtung der einfachen Zelle übereinstimmen.
  • Augendominanzsäule: Je ein Bündel von Orientierungssäulen zur Erfassung eines Radius von 0 bis 180 Grad bildet die Augendominanzsäule, welche die Informationen von einem festgelegten kleinen Punkt der Netzhaut eines Auges erfasst. Entsprechend existiert für den gleichen Gesichtsfeldausschnitt eine zweite Dominanzsäule für das andere Auge. Bei seitendifferenter Wahrnehmung, etwa bei einseitiger Sehschwäche, übernimmt im Verlauf das dominante Auge die entsprechenden Bereiche. Zudem existieren in den Dominanzsäulen sogenannte Blobs.

Die Verarbeitung von Farbe, Form und Bewegung

Die Verarbeitung von Farbe, Form und Bewegung erfolgt in spezialisierten Arealen der Sehrinde. So sind beispielsweise die sogenannten "Blobs" selektiv auf Reize verschiedener Wellenlänge und Farbe ausgerichtet. Forminformationen sind auf die "blassen Streifen" konzentriert.

Störungen des Sehzentrums

Aufgrund der unterschiedlichen Verarbeitung der visuellen Informationen haben Schädigungen der Sehrinde unterschiedliche Auswirkungen. Diese können von kleinen Gesichtsfeldausfällen bis hin zu einer vollständigen Erblindung auf der kontralateralen Seite führen (da auf einer Seite die visuelle Information der Gegenseite verarbeitet wird). Da die primären Sehrinden beider Hemisphären direkt gegenüber liegen (medialwärts zum Interhemisphärenspalt ausgerichtet), wirken sich raumfordernde Prozesse wie Tumore häufig auf beide Seiten aus. Da der Akkommodationsreflex (zur Feineinstellung der Augenlinse für die Nahsicht) abhängig von einer funktionierenden Sehrinde ist, fällt dieser bei deren Schädigung häufig aus.

Visuelle Agnosie

Trotz der räumlichen Nachbarschaft zur primären Sehrinde zeigen sich bei einer Schädigung in den benachbarten Bereichen gänzlich andere Ausfallerscheinungen. Da die sekundären Sehzentren (V2-5) bereits sämtliche Bildinformationen erhalten haben, bestehen keine Gesichtsfeldausfälle mehr. Allerdings ist die Bildverarbeitung gestört. Dies kann zu einer visuellen Agnosie führen, was bedeutet, dass der Patient das Gesehene nicht mehr wieder erkennen oder deuten kann. So sind vertraute Gesichter plötzlich fremd, Objekte oder Farben können nicht mehr benannt werden.

Lesen Sie auch: Lokalisation des Sehzentrums

Ursachen für Schädigungen des Sehzentrums

Schädigungen des Sehzentrums können verschiedene Ursachen haben, darunter:

  • Hirntumore: Tumore im Bereich der Sehrinde können zu Gesichtsfeldausfällen oder visueller Agnosie führen.
  • Schlaganfall: Ein Schlaganfall kann die Blutversorgung der Sehrinde unterbrechen und zu Schädigungen führen.
  • Entzündungen: Entzündungen des Gehirns können die Sehrinde beeinträchtigen.
  • Verletzungen: Verletzungen des Kopfes können die Sehrinde schädigen.

Diagnose von Störungen des Sehzentrums

Die Diagnose von Störungen des Sehzentrums umfasst in der Regel eine neurologische Untersuchung, eine Augenuntersuchung und bildgebende Verfahren wie MRT oder CT. Mit visuell evozierten Potentialen (VEPs) kann die elektrische Aktivität im Gehirn als Antwort auf visuelle Reize gemessen werden.

Behandlung von Störungen des Sehzentrums

Die Behandlung von Störungen des Sehzentrums richtet sich nach der Ursache der Schädigung. In einigen Fällen kann eine Operation erforderlich sein, um einen Tumor zu entfernen oder den Druck im Gehirn zu verringern. In anderen Fällen können Medikamente oder eine Rehabilitationstherapie helfen, die Symptome zu lindern. Die Förderung der Neuroplastizität kann durch gezieltes Sehtraining begünstigt werden.

Die Rolle des Sehzentrums im Alltag

Das Sehzentrum spielt eine entscheidende Rolle in unserem Alltag. Es ermöglicht uns, uns in unserer Umgebung zu orientieren, Objekte zu erkennen, Gesichter zu identifizieren und Farben zu unterscheiden. Ohne ein funktionierendes Sehzentrum wären wir in unseren Fähigkeiten stark eingeschränkt.

Visuelle Wahrnehmung und Gedächtnis

Das Sehzentrum ist eng mit dem Gedächtnis verbunden. Es hilft uns, visuelle Informationen zu speichern und abzurufen, sodass wir uns an Orte, Personen und Ereignisse erinnern können.

Lesen Sie auch: Behandlungsmöglichkeiten bei Hirntumoren im Sehzentrum

Visuelle Vorstellungskraft

Das Sehzentrum ermöglicht uns auch, uns Dinge vorzustellen, die wir nicht sehen. Wir können uns beispielsweise ein Bild von einem Ort machen, an dem wir noch nie waren, oder uns vorstellen, wie ein bestimmtes Objekt aussehen würde.

Aufmerksamkeit und visuelle Suche

Das Sehzentrum spielt eine wichtige Rolle bei der Aufmerksamkeit und der visuellen Suche. Es hilft uns, uns auf bestimmte Objekte oder Bereiche in unserer Umgebung zu konzentrieren und relevante Informationen zu finden.

Aktuelle Forschung zum Sehzentrum

Die Forschung zum Sehzentrum ist ein aktives Gebiet der Neurowissenschaften. Wissenschaftler untersuchen, wie das Sehzentrum funktioniert, wie es sich an Veränderungen anpasst und wie es durch Krankheiten oder Verletzungen beeinträchtigt werden kann.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Neurowissenschaftler:innen der Charité - Universitätsmedizin Berlin und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz (in Gründung) zeigen erstmals, wie sensorische Nervenzellen in der Netzhaut präzise mit Nervenzellen der Colliculi superiores, einer Struktur im Mittelhirn, verbunden sind. Diese Erkenntnisse tragen zu einem besseren Verständnis des sogenannten Blindsehens, auch Blindsight, bei. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das beim Ausfall der primären Sehrinde, beispielsweise durch eine Hirnverletzung oder Tumoren, beobachtet wird. Während in diesem Fall eine bewusste visuelle Wahrnehmung nicht mehr möglich ist, verbleibt eine Restfunktion der visuellen Informationsverarbeitung, eine intuitive Wahrnehmung von Reizen, Umrissen, Bewegungen oder auch Farben, die offenbar auf das Mittelhirn zurückgeht.

Zukünftige Forschungsrichtungen

Zukünftige Forschungsrichtungen umfassen die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden für Störungen des Sehzentrums, die Verbesserung der visuellen Rehabilitation und die Erforschung der neuronalen Grundlagen der visuellen Wahrnehmung.

tags: #sehzentrum #im #gehirn #funktion