Seltene neurologische Erkrankungen: Eine umfassende Übersicht

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Obwohl jede einzelne dieser Erkrankungen selten ist, leben schätzungsweise 4 Millionen Menschen in Deutschland und etwa 30 Millionen in der gesamten EU mit einer Seltenen Erkrankung. Inzwischen wurden mehr als 6000 Seltene Erkrankungen beschrieben, und ihre Zahl wächst jährlich. Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe von sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Ca. 80% sind genetisch bedingt oder zumindest mitbedingt. Neurologische Symptome treten bei sehr vielen seltenen Erkrankungen auf, häufig in Verbindung mit nicht-neurologischen Symptomen, seltener isoliert. Dabei können alle Teile des Nervensystems betroffen sein.

Was sind neurologische Erkrankungen?

Neurologische Erkrankungen umfassen Störungen bzw. Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks sowie der peripheren Nerven. Die Ursachen bzw. die Pathogenese, die neurologischen Erkrankungen zugrunde liegen, sind zahlreich und teilweise noch nicht vollständig aufgeklärt. Entsprechend der vielfältigen Körperfunktionen, die das Nervensystem steuert, können die Symptome von neurologischen Erkrankungen sehr unterschiedlich sein.

Einige Beispiele für Ursachen neurologischer Erkrankungen sind:

  • Durchblutungsstörungen des Gehirns
  • Autoimmunerkrankungen
  • Neurodegenerative Erkrankungen
  • Funktionsstörungen der hirnelektrischen Aktivität
  • Erkrankungen der peripheren Nerven
  • Schlaferkrankungen
  • Infektionskrankheiten
  • Verletzungen
  • Tumorerkrankungen
  • Psychiatrische Erkrankungen mit neurologischer Ursache

Die Herausforderung der Diagnose

Betroffene mit Seltenen Erkrankungen warten oft sehr lange auf die richtige Diagnose. Viele Betroffene leben lange mit Unsicherheit: Sie suchen ärztliche Hilfe, bekommen nur vage Antworten und kämpfen mit Symptomen, für die es scheinbar keine Erklärung gibt. Nicht selten wird ihnen gesagt, die Symptome seien lediglich stressbedingt oder psychisch.

Viele seltene Erkrankungen beginnen mit Symptomen, die auf den ersten Blick harmlos oder alltäglich wirken. Müdigkeit, Verdauungsbeschwerden oder Stimmungsschwankungen werden häufig mit bekannten Ursachen erklärt. Seltene Diagnosen werden dabei in vielen Fällen gar nicht in Erwägung gezogen. Deshalb warten viele Betroffene jahrelang auf eine zutreffende Diagnose. In dieser Zeit verschlechtern sich die Symptome oft, und passende Behandlungen bleiben aus.

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Spezialisierte Zentren und Ambulanzen

Um die Diagnosefindung zu beschleunigen und eine gezieltere symptomatische Behandlung zu unterstützen, gibt es spezialisierte Zentren und Ambulanzen. Diese bieten eine Reihe von Untersuchungen an, darunter:

  • Neuropsychologische Testung
  • Nervenwasseruntersuchung
  • Elektrophysiologische Diagnostik
  • Kernspintomographie
  • 18F-FDG-PET
  • Neurometabolische Untersuchungen
  • Genetische Untersuchung

Ein Beispiel ist das Zentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen (ZSNE) am Universitätsklinikum Tübingen, das Spezialambulanzen für familiär gehäuft vorkommende neurologische Erkrankungen und insbesondere für vererbte Bewegungsstörungen anbietet. Das Zentrum ist darauf spezialisiert, die genetischen Ursachen der seltenen Erkrankung aufzudecken und Patienten und Patientinnen mit genetisch bedingten neurologischen Erkrankungen zu betreuen.

Auch die Ambulanz für Seltene Neurodegenerative Erkrankungen in anderen Universitätskliniken ist auf ultraseltene Bewegungsstörungen spezialisiert, von denen oft nur wenige Menschen weltweit betroffen sind.

Beispiele für seltene neurologische Erkrankungen

Die Vielfalt seltener neurologischer Erkrankungen ist groß. Im Folgenden werden einige Beispiele genannt, die im medizinischen Alltag besonders häufig übersehen werden:

  1. Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS): Eine Gruppe von Bindegewebserkrankungen, die zu Gelenkinstabilität, Schmerzen, Müdigkeit und häufigen Verletzungen führt. Häufigkeit: 1 von 5.000-10.000 Personen.
  2. Fabry-Krankheit: Eine Stoffwechselerkrankung, die Nervenschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und langfristige Organschäden verursacht. Häufigkeit: 1 von 40.000-117.000 Personen.
  3. Morbus Wilson (Wilson-Krankheit): Eine genetische Erkrankung, bei der sich Kupfer im Körper anreichert und Leber sowie Gehirn schädigt. Häufigkeit: 1 von 30.000 Personen.
  4. Stiff-Person-Syndrom (SPS): Eine neurologische Erkrankung mit fortschreitender Muskelsteifheit und schmerzhaften Krämpfen. Häufigkeit: 1 von 1.000.000 Personen.
  5. Mitochondriale Myopathie: Eine Gruppe seltener neuromuskulärer Erkrankungen, verursacht durch eine Störung der Mitochondrien. Häufigkeit: Unbekannt, vermutlich seltener als 1 von 1.000.000 Personen.
  6. Hereditäres Angioödem (HAE): Anfälle von Schwellungen, oft im Gesicht, Bauchraum oder Rachen. Häufigkeit: 1-9 von 100.000 Personen.
  7. Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA): Eine seltene autoimmune Gefäßentzündung, oft in Verbindung mit Asthma, Nasennebenhöhlenproblemen und erhöhten Eosinophilen-Werten. Häufigkeit: Schätzungsweise weniger als 1 von 200.000 Personen.
  8. Pompe-Krankheit: Eine genetisch bedingte Muskelerkrankung, die auch das Herz beeinträchtigen kann. Häufigkeit: Unbekannt.
  9. Idiopathische Lungenfibrose (IPF): Verursacht eine zunehmende Vernarbung des Lungengewebes, was zu anhaltender Atemnot führt. Häufigkeit: 1-5 von 10.000 Personen.
  10. Akute intermittierende Porphyrie (AIP): Eine Stoffwechselstörung mit wiederkehrenden Bauchschmerzen, Übelkeit und neurologischen Beschwerden. Häufigkeit: 1-9 von 1.000.000 Personen.
  11. Dunbar-Syndrom: Seltene chronische Durchblutungsstörung des Darms, die zu Übelkeit, Erbrechen, Krämpfen und Schmerzen im Oberbauch führt.
  12. MEN (Multiple Endokrine Neoplasie): Eine seltene, erblich bedingte Erkrankung, bei der es durch Genveränderungen zur Bildung mehrerer Tumoren in hormonbildenden Drüsen kommt.
  13. Phenylketonurie (PKU): Eine seltene, erbliche Stoffwechselerkrankung, bei der der Körper die Aminosäure Phenylalanin nicht richtig abbauen kann, was zu einer Anhäufung im Blut führt.
  14. Roberts-Syndrom: Eine sehr seltene genetische Erkrankung, die durch Mutationen im ESCO2-Gen verursacht wird. Sie führt zu schweren Wachstumsstörungen, Fehlbildungen der Gliedmaßen, Gesichtsauffälligkeiten und teilweise inneren Organanomalien.
  15. Tay-Sachs-Krankheit: Eine seltene genetische Stoffwechselerkrankung, bei der ein Enzymmangel dazu führt, dass eine Substanz in den Nervenzellen nicht abgebaut werden kann.
  16. Treacher-Collins-Syndrom: Eine seltene genetische Erkrankung, die das Gesicht und den Schädelknochen betrifft und zu charakteristischen Gesichtszügen führt.
  17. Turner-Syndrom: Eine seltene genetische Störung, die nur bei Frauen auftritt und durch das Fehlen oder teilweise Fehlen eines X-Chromosoms gekennzeichnet ist.
  18. Van-der-Woude-Syndrom: Eine seltene genetische Störung, die Fehlbildungen im Gesicht verursacht.
  19. Ataxien/Koordinationsstörungen: Spezialambulanz
  20. Huntington Krankheit: Spezialambulanz
  21. Dystonien
  22. Leukodystrophien
  23. Hereditäre spastische Paraparese
  24. Erkrankungen des autonomen Nervensystems: Dysautonomie, Pandysautonomie, autonome Small-fiber-Neuropathien und autonome hereditäre sensorische Neuropathien unter anderem im Zusammehang mit neurodenegerativen Erkrankungen, Ehlers-Danlos-Syndromen, spastischer Paraplegie u.v.m.

Einige genetische Ursachen für seltene neurologische Erkrankungen sind:

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  • Friedreich Ataxie: Frataxin AR9q13-21.1 FRDA 229300
  • Frontotemporale Demenz mit Parkinson-Syndrom: MAPTAU AD17q21.1 FTDP-17 600274
  • Frontotemporale Demenz mit Ubiquitin-Einschlüssen: Progranulin (PGRN)AD17q21.32 FTDLU 607485
  • Gerstmann-Sträußler-Syndrom: PRNP AD20pter-p12 GSD 1766440
  • Gliedergürtel-Muskeldystrophie (LGMD2A): CAPN3 AR 15q15.1-q21.1CAPN 3 114240
  • Gliedergürtel-Muskeldystrophie (LGMD 2D): alpha-Sarcoglycan AR17q12-q21.33SGCA600119
  • Glykogenose II (M. Pompe): Saure Maltase AR 17q25.2-q25.3 GAA 232300
  • Glykogenose V (Mc. Ardle): Muskelphosphorylase AR 11q13 MGP 232600
  • Hereditäre neuralgische Amyotrophie: SEPT9 AD?
  • Charcot-Marie-Tooth-Krankheit: GJB1 304040

Die Rolle digitaler Werkzeuge

Digitale Werkzeuge wie Saventic Care helfen dabei, Zusammenhänge zu erkennen, die im medizinischen Alltag leicht übersehen werden. KI-gestützte Systeme analysieren Krankengeschichten, Symptommuster und Labordaten, um mögliche Ursachen aufzudecken, die sonst verborgen bleiben könnten. Diese Tools ersetzen jedoch nicht ärztliches Wissen und Erfahrung aus dem Praxisalltag, sondern unterstützen fundierte und schnellere Entscheidungen.

Internationale Vernetzung

Aufgrund der wenigen Fälle und des komplexen Charakters seltener Erkrankungen ist eine internationale Vernetzung besonders wichtig. Die EU will durch eine Reihe von Maßnahmen erreichen, dass Kräfte und Mittel zur Diagnose und Behandlung solcher Erkrankungen gebündelt werden und Fachwissen über Grenzen hinweg ausgetauscht wird. Unter anderem verfolgt sie das Ziel, Gesundheitsdienstleister in den EU-Mitgliedstaaten, die Erfahrungen und Kenntnisse auf diesem Gebiet haben, zu vernetzen.

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